1901 -
Kiel
: Lipsius & Tischer
- Autor: Lund, Heinrich, Suhr, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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Ii. Aus der Geschichte des deutschen Vaterlandes.
getrunken wurde, so mußte auf der Burg aus füufzehn großen und kleinen
Stücken geschossen werden. Zuletzt, als das Friedeusfest bis in die Nacht
gedauert hatte, wollten die anwesenden Kriegsherren und Generale zum Abschied
noch einmal Soldaten spielen. Sie ließen sich ihre Waffen in den Saal bringen und
erwählten zu Hauptleuten den schwedischen General Karl Gustav, der nachmals
König von Schweden wurde, und den kaiserlichen General Piccolomini, zum
Korporal aber den schwedischen Feldmarschall Wrangel; alle andern Generale,
Obersten und Hauptleute wurden zu Musketieren gemacht. So marschierten
die Herren um die Tafel, zogen dann in guter Ordnung auf die Burg und
brannten dort vielmals die Stücke los. Bei ihrem Rückmarsch aber wurden
sie von dem Herrn Oberst Kraft scharweis abgedankt und ihres Dienstes ent-
lassen, weil nunmehr Friede sei.
Für die Armen aber wurden an diesem Tage zwei Ochsen geschlachtet;
man teilte ihnen viel Brot aus, und aus einem Löwenrachen lief sechs Stunden
lang weißer und roter Wein herab. — Aus einem größeren Löwenrachen
waren dreißig Jahre lang Thränen und Blut geflossen. —
2.
Und wie die Herren Gesandten, so rüstete das Volk in jeder Stadt,
in jedem halbzerstörten Dorfe eine Festfeier. Rührend war die Wirkung der
Friedensbotschaft auf die Überreste der deutschen Nation. Den alten Land-
leuten erschien der Friede als eine Rückkehr ihrer Jugend. Sie sahen die
reichen Ernten ihrer Kinderzeit wiederkehren, dichtbevölkerte Dörfer, die lustigen
Sonntage unter der Dorflinde, die guten Stunden, die sie mit ihren Jugend-
genossen verlebt hatten. Die Jugend aber, das harte, im Kriege aufgewachsene,
verwilderte Geschlecht, empfand das Nahen einer wunderbaren Zeit, die ihm
vorkam wie ein Märchen aus fernem Lande — einer Zeit, wo auf jedem
Acker dichte gelbe Ähren im Winde wogen, wo in jedem Stalle die Kühe
brüllen, in jedem Koben junge Schweinchen liegen sollten; wo ste selbst
mit zwei Pferden und lustigem Peitschenknall aufs Feld fahren konnten; wo
sie nicht mehr mit Heugabeln und verrosteten Musketen den Nachzüglern im
Busche auflauern, nicht mehr als Flüchtlinge in unheimlicher Waldesnacht
auf den Gräbern der Erschlagenen sitzen würden; wo die Dächer des Dorfes
ohne Löcher, die Höfe ohne zerfallene Scheuern sein sollten; wo man den
Schrei des Wolfes nicht in jeder Winternacht vor dein Hofthore hören mußte;
wo die Dorfkirche wieder Glasfenster und schöne Glocken haben würde, und
wo in der Kirche ein neuer Altar mit einer seidenen Decke, einem silbernen
Kruzifix und einem vergoldeten Kelche stehen sollte.
Eine leidenschaftliche, schmerzliche Freude zuckte damals durch alle Seelen;
selbst das wilde Soldatenvolk wurde davon ergriffen. Feierlich und mit aller
Inbrunst, deren das Volk fähig war, wurde das Fest begangen.
Gustav Freytag.