1901 -
Kiel
: Lipsius & Tischer
- Autor: Lund, Heinrich, Suhr, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
Iv. Aus der weiten Welt.
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konnten, ergingen sie sich gern in dem Schotten des segenbringenden Baumes
und tranken aus dem heilenden Quell. Im Mai jedes Jahres zogen die
jungen Bursche und Mädchen und die Kinder des Dorfes in frohen Scharen
nach der heiligen Stätte. Sie schmückten die Zweige mit Blumengewinden
uitd Kränzen und tanzten um den Baum. Auch Johanna besuchte den heiligen
Baum oft mit den Mädchen ihres Alters, aber fciten nahm sie an dem Tanze
teil; lieber sang sie auch an diesem Orte ihre frommen Lieder. —
Niemals lag Frankreich so völlig danieder wie zu dieser Zeit. Das Heer,
niedergeworfen in blutigen Schlachten, war nahe daran, vor den Fremden die
Waffen zu strecken. Der schwachsinnige König überließ die Zügel des Staates,
die er niemals in festen Händen gehalten hatte, einigen ehrgeizigen Prinzen, die
sich die Herrschaft über das Land in blutigen Kriegen streitig machten. Die
unnatürliche Mutter des Königs verschwor sich gegen ihr eigenes Fleisch und
Blut; sie ächtete den König, den einzigen Sohn, der ihr geblieben war, und
überlieferte das Reich den Engländern, die schon mehr als die Hälfte des
Landes, dazu auch die Hauptstadt, in Besitz genommen hatten. Von
der flandrischen Küste bis zu den Pyrenäen wurde das Land von Kriegs-
scharen durchzogen, die in keines Herrn Pflicht standen und die Freund und
Feind ohne Unterschied ausplünderten und erwürgten.
Unterdessen belagerten die Engländer Orleans, das letzte Bollwerk der
französischen Freiheit. Hier machte das sterbende Frankreich seine letzten An-
strengungen; jeder Bürger war Soldat geworden, und selbst die Frauen wett-
eiferten mit den unerschrockensten Kriegern an Tapferkeit. Als nun die Eng-
länder noch fortwährend Verstärkungen erhielten, suchte das Heer des franzö-
sischen Königs ihnen den Weg zu verlegeu. Dies gelang aber nicht. Die
Franzosen wurden geschlagen, und die Nachricht von dem neuen Unglück rief
in der belagerten Stadt die größte Bestürzung hervor. Der König schien
unter der Last seiner Schande zu erliegen; er dachte sogar daran, Chinon, wo
er seinen Hof hielt, zu verlassen und nach der Dauphine, dem äußersten Osten,
zu entfliehen. Sicherlich hätten dann die Bewohner von Orleans sich nicht
länger für einen König geopfert, der sie selbst im Stiche ließ. Die Engländer
würden die Stadt erobert und binnen kurzer Zeit ganz Frankreich unterjocht
haben. Vor dieser Schmach wurde es durch die unerwartete Ankunft der Heldeu-
jungfrau im Lager des Königs bewahrt.
Das war aber so zugegangen. Eines Tages um die Mittagszeit, als
Johanna in ihres Vaters Garten stand, sah sie die Luft von einer überirdischen
Klarheit erfüllt, und unbekannte Stimmen tönten an ihr Ohr. Ihr wurde
befohlen, nach Frankreich zu gehen, Orleans zu befreien und den König Karl
zur Salbung nach Reims zu führen. Zuvor aber sollte sie nach Vaucouleurs
zum Hauptmann Baudrieourt gehen und ihn bitten, ihr einige tapfere Männer
zur Bedeckung mitzugeben. Da sie zweifelte, daß sie von ihren Eltern die
Erlaubnis dazu bekommen würde, begab sie sich zu ihrem Oheim und wußte
ihn zum Glauben an ihre göttliche Sendung zu bewegen. Als nun aber der