1901 -
Kiel
: Lipsius & Tischer
- Autor: Lund, Heinrich, Suhr, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
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Iv. Aus der weiten Welt.
Oheim dem Hauptmann die Wünsche der Jungfrau mitteilte, wurde er übel
empfangen: Baudrieourt riet ihm, das Mädchen zu ohrfeigen und zu ihrem
Vater zurückzuschicken. Da machte sich Johanna selbst auf. Sie wurde vor-
gelassen und erkannte den Hauptmann, den sie nie gesehen hatte, unter einer
Schar von Edelleuten, die um ihn standen. Sie sagte ihm: „Mein Herr hat
mir geboten, Orleans zu befreien und den Dauphin nach Reiins zu führen."
Da fragte man sie, wer ihr Herr sei. Sie antwortete: „Der König des
Himmels!" Baudrieourt, obwohl über die Festigkeit ihrer Antworten erstaunt,
zögerte dennoch, ihren Bitten nachzugeben. Sie aber ließ sich nicht zurück-
schrecken, hatte doch die Stimme ihr gesagt, daß man sie dreimal abweisen
werde. Sie verdoppelte ihre Bitten und sprach unaufhörlich von ihrer gött-
lichen Sendung; jeder Tag vermehrte ihren ungeduldigen Eifer. Endlich ge-
lobten ihr zwei Ritter, sie zum Könige zu führen. Da ließ Johanna ihr
langes Haar abschneiden, legte Männerkleidung an und ließ einen Brief schreiben,
in dem sie ihre Eltern um Verzeihung bat. Als sie diese erhalten hatte, brach
sie mit ihrer Begleitung auf und langte am 24. Februar 1429 im Lager des
Königs zu Chinon an. Ihre Ankunft machte wenig Aufsehen; die obersten
Führer waren sogar der Meinung, man müsse sie zurückschicken, ohne sie an-
zuhören. Erst nach zweitägiger Beratung wurde sie beim Könige vorgelassen.
Dieser hatte sich unter seine Höflinge gemischt, von denen mehrere prächtiger
gekleidet waren als er. Johanna aber erkannte ihn dennoch und kniete huldigend
vor ihm nieder. „Ich bin nicht der König," sagte Karl. Die Jungfrau aber
sprach: „Edler Prinz, Ihr seid's und kein anderer. Ich bin von Gott gesandt,
Euch und Eurem Reiche Hülse zu bringen; durch mich verkündet Euch der
Herr des Himmels, daß man Euch in Reims salben und krönen wird als
Statthalter des Himmelsfürsien, der auch Frankreichs König ist." Karl war
aufs höchste überrascht; er nahm sie beiseite, um sie weiter auszuforschen. Als
ihm nun Johanna Geheimnisse über seine eigene Person offenbarte, die nur
ihm und seinem Gotte bekannt waren, da begann der Zweifel aus seinem
Herzen zu schwinden. Dennoch berief er eine Anzahl von Theologen, die
prüfen sollten, ob man ihren Worten Glauben beimessen dürfe. Nach mehreren
Unterredungen und nachdem man sie längere Zeit Tag und Nacht überwacht
hatte, erklärten die ehrwürdigen Väter, daß ihnen nichts Böses aufgefallen sei
und daß der König die Hülfe des jungen Mädchens annehmen könne.
Nun war alles Schwanken zu Ende; allen, den Führern wie dem Heere,
teilte die Jungfrau ihren feurigen Eifer für die Sache des Königs und des
Vaterlandes mit. Der Kriegsrat beschloß, unter ihrer Führung eine Hülfstruppe
mit Vorräten nach Orleans zu schicken. Man gab ihr als Leibwache einen
Knappen, zwei Edelknaben und zwei Wappeuherolde mit, außerdem einen
Beichtvater. Der König ließ eine vollständige Rüstung für sie anfertigen.
Auf ihren Wunsch erhielt sie auch ein eigenes Banner aus weißem Leinen mit
seidenen Borten; auf dem weißen, mit eingewirkten Lilien geschmückten Felde
erstrahlte die Gestalt des Weltheilandes, als Weltenrichter auf den Wolken