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1. Teil 2, Oberstufe, Teil 1 - S. 229

1901 - Kiel : Lipsius & Tischer
Iv. Aus der weilen Welt. 229 Oie Disziplin und Ordnung, die bisher nur noch mühevoll innegehalten worden war, ging rasch in Verwilderung über. Napoleon hatte zwar ein strenges Verbot gegen das Plündern erlassen, doch erwies es sich als gänzlich undurchführbar. Anfangs war es nur Gesindel, das zugriff: Marodeure, Dienerschaft und die Menge von Leuten, die einer solchen Armee nachziehen, und da man viele Lebensmittel und Getränke fand, fehlte es nicht an Ausschreitungen und Roheiten. Nach und nach ging das auch auf die Soldaten über und wurde allgemein. Wer wollte auch unter den obwaltenden Verhältnissen in dem brennenden Moskau den Soldaten überwachen? Moskau war das Ziel seiner Hoffnungen, hier hatte er den Lohn für seine riesenhaften Anstrengungen erwartet; er fand ihn nicht und nahm sich ihn nun selbst, so gut er konnte. Man sah auf den Strassen die wunderlichsten Scenen. Anfangs suchte man nach brauchbaren Dingen; viele aber beluden sich wie Lasttiere mit Gegenständen, die sie voraussichtlich nicht mit sich fortschaffen konnten. Mein eigener Diener schleppte mit einem Kameraden eine Menge Kolonialwaren, Tücher, Luxusgegenstände aller Art zusammen. Dies alles lag im Hofe des Hauses, das ich bewohnte, aufgehäuft. Ich war ganz empört darüber, konnte aber nichts dagegen thun, wenn ich mich nicht von meinem eigenen Diener misshandeln lassen wollte. Alles war betrunken und in der grössten Aufregung. Zu diesem wüsten Treiben gesellte sich das Toben und Brausen des rasch zu- nehmenden Feuermeers. Keine Feder, kein Pinsel sind im stände, das tobende Element zu schildern. Der Ton, den es erregte, kann nur mit dem Brausen eines ungeheuren Wasserfalls verglichen werden, in dessen Nähe man ganz betäubt wird. Dazu denke man sich die verschiedenen Farben der Flammen, je nach den Stoffen, die sie ver- zehrten. Die wunderlich gestalteten und gefärbten himmelansteigenden Rauchsäulen, die öfters die Luft verdüstern, boten ein schauerlich schönes Schauspiel. Winzig klein fühlt sich der Mensch, wenn die Elemente, sei es nun Luft, Wasser oder Feuer, in ihrer Wut sich ihm zeigen. Durch Löschen dem Feuer Einhalt zu thun, daran war nicht zu denken; es hatte zu schnell eine riesenhafte Ausdehnung bekommen und in kurzer Zeit ganze Stadt- viertel in Asche gelegt. Wenn das Feuer auch auf einer Seite nachliefs, so brach es auf einer andern desto wütender los. Man konnte nur zu deutlich erkennen, dass der Brand planmäfsig geleitet war. Bei der Armee, besonders unter den Offizieren, herrschte völlige Ratlosigkeit. „Was wird Napoleon jetzt beginnen? Was soll nun werden? Wo und wie den Winter zubringen?“ Das waren Fragen, die einer an den andern richtete. Die Mehrheit be- fand sich in einem Zustande von Gleichgültigkeit, in dem man nicht wusste, was zu beginnen sei, und man ist zu glauben versucht, auch Napoleon sei lange unschlüssig gewesen. Wie hätte er sonst fünf Wochen in dem verbrannten Moskau bleiben und den Winter abwarten können? Die prachtvolle, tapfere Armee hatte ich so oft in ihrem Glanze gesehen und auf ihrer Siegesbahn begleitet; sie in ihrem jetzigen Zustande der Auflösung und einem noch jammervolleren entgegeneilen zu sehen, erregte in mir tiefen Schmerz. Ich hatte mir stets ein redliches und gutgesinntes deutsches Herz bewahrt, aber dennoch fühlte ich die regste Teilnahme mit der Armee. Es waren zudem nicht lauter Franzosen; Tausende deutscher Brüder mussten deren Los teilen. Am Abend des folgendes Tages wurde der Befehl erlassen, alle Wagen sollten bepackt und bespannt, alle Reitpferde gesattelt werden und die Dienerschaft dabei stehen, um auf das erste Zeichen Moskau verlassen zu können. So standen wir in gespannter Erwartung von abends 8 Uhr bis Mitternacht in recht widerwärtiger Lage. Sehr ermüdet begab ich mich schliesslich auf mein Zimmer und schlief gegen meine Absicht ein. Ich schlief so fest, dass ich von dem ungeheuren Lärmen und Geschrei, das in dem Hause entstand, weil es vom Feuer ergriffen war, nichts hörte. Gegen drei Uhr stürzte
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