1866 -
Leipzig
: Brandstetter
- Autor: Grube, August Wilhelm
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Gehobene Volksschule
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Lykurgos sei sein Nachfolger. Lykurg übernahm das Regiment. Da er-
fuhr er, daß seine Schwägerin, die Wittwe des verstorbenen Königs Po-
lydektes, ein Kind unter ihrem Herzen trage. Sogleich erklärte Lykurg
den Thron für das Eigenthum dieses Kindes und verwaltete die Regie-
rung fortan nur noch als dessen Vormund. Inzwischen that ihm die
Königin heimlich zu wissen, sie sei bereit, das Kind zu tobten, wenn er
ihr verspräche, sie als König zu heirathen. In der Absicht, das Kind
selber zu retten, verbarg Lykurg den tiefen Abscheu, den er gegen ein
solches Anerbieten empfand, und ließ die Königin bitten, sie möchte nur
ihm die Tödtuug des Kindes überlassen.
Als nun der Knabe geboren war, schickte die Mutter ihr Kind so-
gleich dem Lykurg. Dieser saß gerade mit den höchsten Beamten bei
Tische; er nahm das Kind auf seine Arme und rief den Anwesenden zu:
„Spartiaten, ein König ist uns geboren!" Darnach legte er es auf den
königlichen Stuhl und gab ihm den Namen Charilaos, d. i. Volksfreude,
denn Alles war erfreut über einen solchen Beweis von Edelmuth und
Gerechtigkeit.
Auch sein übriges Betragen erwarb dem Lykurg die höchste Achtung
bei seinen Mitbürgern und diese beeiferten sich, seinen Befehlen als Reichs-
verweser pünktlich Folge zu leisten. Aber die Königin und ihr Bruder
fühlten sich schwer beleidigt und suchten nun das Gerücht zu verbreiten,
Lykurg warte nur auf eine gelegenere Zeit, um den jungen König aus
dem Weg zu räumen und sich selber zum Alleinherrscher zu machen. Als
der brave Mann solche Verleumdung hörte, beschloß er, so lange außer
Landes umherzureisen, bis sein junger Neffe zum Manne erwachsen sei.
2.
Zuerst begab sich Lykurg zu Schiffe nach der Insel Kreta. Diese
Insel war schon lange berühmt durch die vortrefflichen Gesetze, die ein
weiser König Minos den Bewohnern gegeben hatte und wodurch diese
mächtig zur See und glücklich in ihrem Lande geworden waren. Durch
seine Weisheit und Gerechtigkeit hatte sich Minos eine solche Achtung
unter den Menschen erworben, daß nach seinem Tode die Sage ging,
Minos verwalte in der Unterwelt das Richteramt über die Todten.
Von Kreta schiffte Lykurg nach Kleinasien hinüber und von dort soll
er auch nach Aegypten gekommen sein. Ueberall machte er sich mit der
Landesverfassung bekannt und merkte sich Alles, was er an den Gesetzen
Vortreffliches fand, um es dann in seine Heimath zu verpflanzen. In
Kreta hatte er die einfache, strenge Lebensweise der Einwohner bewundert^
unter den kleinasiatischen Griechen fand er große Prachtliebe und Ueppig-
keit. Natürlich gefiel ihm die Lebensweise der ersteren viel besser, dagegen
traf er bei^ den letzteren aus ein unschätzbares Kleinod, nämlich die Ge-
dichte des Homer. Diese herrlichen Gedichte schienen ihm eben so ergötz-
lich und unterhaltend, als reich an Lebenserfahrung und Staatsklugheit.
Darum wandte er allen Eifer an, sie zu sammeln und abzuschreiben, um