1866 -
Leipzig
: Brandstetter
- Autor: Grube, August Wilhelm
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Gehobene Volksschule
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jedoch nicht ohne geheime Furcht, es möchte dieser Triumph nur von
kurzer Dauer sein. Denn der junge König war sehr schwächlich, so daß
sein baldiger Tod zu fürchten war; seine Schwester Maria aber galt für
eine eifrige Katholikin und diese, als die Tochter aus Heinrich's erster
Ehe (mit Katharina von Aragonien) mußte den Thron erben. Lieber
hätten die Engländer Heinrich's Tochter aus zweiter Ehe (mit Anna von
Boleyn), die protestantische Elisabeth, als Königin anerkannt, aber
wenn Maria übergangen wurde, mußte auch Elisabeth übergangen werden.
Diesen Umstand benutzte North umberland, einer der mächtigsten und
reichsten Herzoge in England, um seine ehrsüchtigen Pläne durchzusetzen
und die königliche Krone an sein eigenes Haus zu bringen. Er hatte seinen
Sohn Guilfort Dndleh (sprich Gilfort Doddli) mit Johanna
Gray, einer Enkeltochter der jüngeren Schwester Heinrich's Viii., ver-
mählt. Als nun Eduard ans dem Sterbebette lag, begab er sich zu ihm
und wußte durch allerlei Vorspiegelungen das Gewissen des jungen Königs
so lange zu ängstigen, bis dieser endlich seine eigene Schwester Maria von
der Thronfolge ausschloß und sie dagegen der Johanna Gray zusicherte.
Sobald der König gestorben war, ließ Northnmberland den Palast mit
einer Wache umgeben, damit das Volk nicht früher den Tod erführe, als
er seine Veranstaltungen getroffen hätte. Schon waren von ihm die Vor-
nehmsten des Reichs durch große Versprechungen gewonnen und Johanna
Gray wurde zur Königin erwählt. Sie war erst sechszehn Jahr alt und
zeichnete sich gleicherweise durch die reinste Tugend und Anmuth, als durch
den seingebildetsten Geist aus. Sie hatte nichts von den Plänen und Miß-
griffen Northnmberland's erfahren. Nun, als ihr Vater, der Herzog von
Suffolk (Sufsock), mit dem Herzog von Northumberland ihr die wichtige
Nachricht überbrachten, ward sie vor Schrecken sprachlos und als sie sich
gefaßt hatte, sprach sie zu den Anwesenden: „Der Schwester Eduard's,
nicht mir, gehört der Thron. Ungeachtet meiner Jugend bin ich alt genug,
die Wechsel des Glückes zu kennen und habe in Katharina von Aragonien
und Anna Boleyn warnende Beispiele. Auch ich fühle mich zu schwach
für eine solche Würde, und wer mich wahrhaft liebt, wird mich nicht
Stürmen aussetzen wollen, die unvermeidlich sind." Doch den vereinigten
Bitten ihrer Verwandten und Freunde ergab sie sich. „Mag denn Gott
mir Kraft verleihen", sprach sie, „das Szepter zu seiner Ehre und zum
Besten der Nation zu führen."
Am folgenden Tage begab sich die junge Königin nach dem Tower
(Tauer), dem gewöhnlichen Aufenthalte der englischen Könige vor ihrer
Krönung, und hielt ihren Einzug mit großem Gepränge. Das Volk
aber nahm keinen Theil an der Feier, es murrte laut und weigerte
sich standhaft, die Schwiegertochter des ränkevollen Northumberland als
Königin anzuerkennen. Der überwiegend größere Theil des englischen
Volkes erklärte sich für Heinrich's Viii. Tochter Maria, deren An-
hang sich schnell vergrößerte und die nach wenigen Tagen triumphirend in
die Hauptstadt einzog. Nur neun Tage hatte Johanna regiert und d-.ese