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1900 -
Essen
: Baedeker
- Autor: Heinecke, August
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde?
- Geschlecht (WdK): koedukativ
413
denen diese neue Sache gar verlockend vorkam, und die auch gern das mit-
und nachgemacht hätten, was die grosse Nation ihnen vormachte. Der Pfarrer
Oberlin liess nun seine Gemeinde unter der Dorflinde zusammenkommen, las
ihr das eingegangene Schreiben vor und fügte hinzu, das sei Befehl der
Regierung, und da es die Obrigkeit gebiete, müsse man auch gehorchen. Er
halte es für gut, noch heute zu den nötigen Beratungen zu schreiten. Zuerst
müsse ein Vorsitzender gewählt werden; er, als der gewesene Pfarrer des Orts,
dürfe sich für heute wohl noch einmal das Recht nehmen, seine Meinung
zuerst zu sagen; er schlage den Schulmeister des Orts als Vorsitzenden vor.
Der Schulmeister sträubte sich zwar etwas gegen diese Wahl; aber Oberlin
bestimmte ihn bald, sie anzunehmen, und so wurde denn die Wahl des Bruders
Schulmeister zum Vorsitzenden einstimmig von den Bauern bestätigt. Jetzt
war nun die Reihe an dem Vorsitzenden, aus der Mitte der Versammlung
jemand zum Bruder Redner zu ernennen. Wer passte aber dazu besser als
der bisherige Pfarrer Oberlin? Die Wahl wurde mit lautem Beifallrufen
bestätigt.
„Jetzt ist nun die Frage,“ sagte Oberlin, „welches Haus und welchen Tag
wir zu unsern Versammlungen wählen wollen. Das Haus des Bruders Vorsitzenden
hat nur eine grosse Stube, die Schulstube; da geht aber kaum die Hälfte von
uns hinein, besonders da auch die Weiber gern werden zuhören wollen. Im
bisherigen Pfarrhause ist auch der Raum gering, und so wüsste ich eben doch
im ganzen Steinthale kein schicklicheres Haus zu unsern Versammlungen als
die bisherige, gewesene Kirche.“ — Die Bauern gaben hierzu allgemein ihren
Beifall. — „Was nun den Tag der Versammlung betrifft,“ fuhr Oberlin fort,
„so ist der Montag nicht geeignet, weil da viele nach Strassburg zum Markte
fahren, ebenso Mittwoch und Freitag. Ich dächte aber doch, der geeignetste
und bequemste Tag zu unsern Versammlungen wäre der bisherige und gewesene
Sonntag, und zwar vorzüglich die Vormittagszeit von 9 Uhr an.“ — Die
Bauern gaben auch hierzu ihren allgemeinen Beifall zu erkennen.
Als nun die Bauern am Sonntag in die Kirche kamen, stand der Bruder
Redner in der Nähe des Altars auf ebener Erde. „Was dünkt euch,“ sagte
er zu den sich Versammelnden, „sollte es nicht besser sein, ich stellte mich
auf die bisherige Kanzel? Wir sind hier zu arm, um uns einen besonderen
Rednerstuhl machen zu lassen, und da oben könnt ihr mich besser sehen und
hören.“ Die Bauern billigten das.
Der neue Bruder Redner trat jetzt auf die Kanzel. Er zog abermals
den Befehl der Regierung aus der Tasche und las ihn vor. „Die Welschen,“
sagte er, „wollen also, wir sollen gegen die Tyrannen reden und über ihre
Abschaffung uns beraten. Tyrannen sind nun in der alten Zeit solche und
solche gewesen, und die haben dies und das gethan. Hier in unserm stillen
Steinthal haben wir freilich keinen solchen Tyrannen; es wäre also vergeblich,
gegen einen solchen zu sprechen. Ich wüsste euch aber dennoch Tyrannen
zu nennen und zu beschreiben, die nicht bloss im Steinthal und in euren
Häusern, sondern sogar in euren Herzen wohnen. Gegen diese Tyrannen,
Mord, Ehebruch, Fleischeslust und alles gottlose Wesen, will ich also hier
reden, so wie ich euch denn auch das beste Mittel nennen und beschreiben
will, diese Tyrannen abzuschaffen, welches kein anderes, ewig kein anderes
ist, als das durch den Erlöser dargebotene Heil.“
Als der Pfarrer eine Zeit lang so gesprochen hatte, sagte er: „Sollte
es nicht besser sein für mich und euch, dazwischen auch eins zu singen, und
■I
1901 -
Kiel
: Lipsius & Tischer
- Autor: Lund, Heinrich, Suhr, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
212
Iv. Aus der weiten Welt.
So starb die Heldenjungfrau, die Frankreich und seinen König gerettet
hatte, ohne daß weder der König noch Frankreich irgend tvelche Anstrengungen
gemacht hätten, sie den Händen der Feinde zu entreißen.
Walkenaer.
111. Der Bruder Redner.
\\7ährend der Schreckenszeit der französischen Revolution kam selbst
* ’ in das einsame Steinthal der Befehl der neuen Regierung, die
gewöhnliche gottesdienstliche Feier solle aufhören, die Gemeinden sollten
sich einen Präsidenten wählen, dieser einen Bruder Redner ernennen, und
dann sollten an gewissen Tagen Versammlungen abgehalten werden, bei
denen der Bruder Redner gegen die Tyrannen sprechen und mit der Ge-
meinde sich über die Mittel beraten solle, die Tyrannen abzuschaffen. Selbst
im Steinthale fehlte es damals nicht an solchen, denen diese Sache ganz
verführerisch neu und anlockend vorkam, und die auch gern das mit-
und nachgemacht hätten, was die grosse Nation ihnen vormachte.
Der Pfarrer Oberlin liess demnächst seine Gemeinde unter der
Linde zusammenkommen, las ihnen das eingegangene Schreiben vor und
fügte hinzu, es sei der Befehl ihrer welschen Regierung — so nannten
die deutschen Bewohner des Steinthals die Franzosen — und da es die
Obrigkeit geböte, müsse man auch gehorchen. Er hielt es für gut, auch
heute gleich zu den nötigen vorläufigen Beratungen zu schreiten. Zuerst
müsse ein Präsident gewählt werden, und da er als der bisherige
Pfarrer des Ortes für heute wohl noch einmal sich das Recht nehmen
dürfe, seine Meinung zuerst zu sagen, so gebe er seine Stimme dem
bisherigen Schulmeister des Ortes und schlage diesen zum Präsidenten
vor. Der Schulmeister sträubte sich zwar etwas gegen diese Wahl, aber
Oberlin bestimmte ihn bald, sie anzunehmen, und so wurde denn die
Wahl des Bruder Schulmeisters zum Bruder Präsidenten einstimmig von
den Bauern bestätigt. Jetzt war nun die Reihe an dem Präsidenten, aus
der Mitte der Versammlung jemand zum Bruder Redner zu ernennen.
Wer passte sich aber besser dazu als der bisherige Pfarrer Oberlin! Die
Wahl wurde mit lautem Beifallrufen der Versammlung bestätigt. „Jetzt
ist nun die Frage,“ sagte Oberlin, „welches Haus und welchen Tag wir
zu unsern Versammlungen wählen wollen. Das Haus des Bruder Prä-
sidenten hat nur eine Stube, die Schulstube; da geht aber kaum die
Hälfte von uns hinein, besonders da auch die Weiber werden gern zu-
hören wollen. Im bisherigen Pfarrhause ist auch der Raum gering, und so
wüsste ich eben doch im ganzen Steinthale kein schicklicheres Haus zu
unsern Klubs, als die bisherige Kirche.“ — Die Bauern gaben hierzu
allgemein ihren Beifall. — „Was nun den Tag der Versammlungen
betrifft,“ sagte Oberlin, „so ist der Montag unschicklich, weil da viele
nach Strassburg zum Markte fahren, ebenso Mittwoch und Freitag. Ich
1894 -
Leipzig [u.a.]
: Klinkhardt
- Autor: ,
- Hrsg.: Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo
- Auflagennummer (WdK): 21
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Stadtschule, Landschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
167
103. Der Bruder Redner.
In der Schreckenszeit der französischen Revolution wurden die Be-
fehle der Regierung, wie überall in Frankreich, auch in dem Steinthale im
Elsaß bekannt gemacht, wo der selige Pfarrer Oberlin lebte. Die gottes-
dienstliche Feier sollte aufhören, die Steinthaler sollten sich einen Präsiden-
ten wählen, dieser einen Bruder Redner ernennen, und dann sollten zu ge-
wissen Tagen Versammlungen gehalten werden, bei denen dieser gegen die
Tyrannen sprechen und mit der Gemeinde sich über die Mittel beraten sollte,
dieselben abzuschaffen. Selbst im Steinthale fehlte es nun wohl damals
nicht an einzelnen Personen, denen diese neue Sache gar verführerisch vor-
kam, und die auch gerne das Beispiel nachgemacht hätten, das die große
Nation ihnen gab.
Der Pfarrer Oberlin ließ mithin seine Gemeinde unter der Linde
zusammenkommen. Er las ihr das eingegangene Schreiben vor und fügte
hinzu, das sei der Befehl ihrer welschen Regierung (so nannte man im
Steinthale die Franzosen), und da es die Obrigkeit geböte, müsse man auch
gehorchen. Er hielte es für gut, noch heute gleich zu den nötigen Beratun-
gen zu schreiten. Zuerst müsse ein Präsident erwählt werden, und da er
als der bisherige Pfarrer des Ortes für heute wohl noch einmal sich das
Recht nehmen dürfe, seine Meinung zuerst zu sagen, so gebe er seine Stimme
dem bisherigen Schullehrer des Ortes und schlage diesen zum Präsidenten
vor. Der Schullehrer sträubte sich zwar etwas gegen diese Wahl, aber
Oberlin bestimmte ihn bald, sie anzunehmen, und so wurde denn die Wahl
des Bruders Schullehrer zum Bruder Präsidenten einstimmig von den
Bauern bestätigt. Jetzt war nun die Reihe an dem Präsidenten, aus der
Mitte der Versammlung jemanden zum Bruder Redner zu ernennen. Wer
paßte aber dazu besser als der Pfarrer Oberlin! Die Wahl wurde mit
lautem Beifallsrufen bestätigt.
„Jetzt ist nun die Frage", sagte Oberlin, „welches Haus und welchen
Tag wir zu unseren Versammlungen wählen wollen? Das Haus des
Bruders Präsidenten hat nur eine große Stube, die Schulstube. Da geht
aber kaum die Hälfte von uns hinein, besonders da auch die Weiber gern
werden zuhören wollen; im bisherigen Pfarrhause ist auch der Raum gering,
und so wüßte ich eben doch im ganzen Steinthale kein schicklicheres Haus
als die bisherige Kirche." — Die Bauern gaben hierzu allgemein ihren
Beifall.'
„Was nun den Tag der Versammlungen betrifft", sagte Oberlin, „so
ist der Montag unschicklich, weil da viele nach Straßburg zu Markte fahren,
ebenso Mittwoch und Freitag. Ich dächte aber doch, der schicklichste und
bequemste Tag zu unsern Versammlungen wäre der bisherige und gewesene
Sonntag, und zwar vorzüglich die Vormittagszeit von 9 Uhr an." Die
Bauern gaben auch hierzu ihren allgemeinen Beifall.
Als nun die Bauern am Sonntage in die Kirche kamen, stand der
Bruder Redner in der Nähe des Altars auf der ebenen Erde. „Was
dünkt euch", sagte er zu den sich Versammelnden, „sollte es nicht besser sein,
1907 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
534
sah! — Und was er von dem Treiben der Menschen vernahm, von ihren
Lastern und Roheiten, war noch viel schlimmer.
5. Unverzagt ging Oberlin ans Werk. Mit Eifer predigte er schon
an den nächsten Sonntagen gegen die Unsitten, die ihm am meisten
aufgefallen waren; aber seine Ermahnungen fanden keinen Eingang bei
den rohen Menschen. Ja, sie hegten einen wahren Groll gegen den
jungen Pfarrer, der sich mehr um ihr Leben kümmere, als er nötig habe,
und als sie leider auch wohl von den meisten frühern Pfarrern gewohnt
waren. Eine Anzahl solcher unzufriednen Menschen hatte sich verbun-
den, ihm aufzulauern und ihn mit einer Tracht Prügel heimzuschicken.
Oberlin hatte davon erfahren und begab sich furchtlos in die Gesellschaft
der Männer, als diese soeben über die Ausführung ihres Planes berieten.
..Ich weiß, was ihr vorhabt," sagte er, „und ich komme, um euch die Mühe
und Schlechtigkeit des Auflauerns zu ersparen. Habe ich euch etwas
zuleide getan, so sagt es mir gerade heraus, und bin ich straffällig, so
will ich dafür büßen." Die Bauern sahen ihn erst stutzig an; dann trat
einer nach dem andern an ihn heran, bot ihm die Hand und bat um Ver-
zeihung.
Ein andres Mal begegnete Oberlin, als er, mit einem Buch in der
Hand, auf einem einsamen Gebirgsstege ging, einem wild und trotzig
aussehenden Arbeiter, der einen Balken trug und ihn statt jeden Grußes
mit den schmählichen Worten anredete: „Wo hinaus, Hans Hornvieh?"
— „Du irrst dich, Freund," versetzte der Pfarrer mit würdiger Ruhe,
„ich heiße Oberlin." Und der Bauer ging beschämt weiter.
6. Oberlin begnügte sich nicht damit, den Bauern ihre Laster vor-
zuhalten, sondern er zeigte ihnen auch, in welcher Weise sie ihr Leben
zum bessern zu ändern hätten, und wie sie auch ihrer leiblichen Not ab-
helfen könnten. Er wies sie vor allem auf Arbeit und Tätigkeit hin
und zeigte, wie man auch dem kärgsten Boden noch einen Ertrag ab-
ringen könne. Als die bessere Jahreszeit begann, lehrte er sie bestimmte
Rinnsale graben, um den Abfluß der Gebirgswasser, welche alljährlich
das Erdreich zerrissen und die dünne Schicht des Pflanzenbodens hin-
wegschwemmten, zu regeln.
Er hieß das Gerölle und Gestein von den Feldern entfernen und die
tierischen und Pflanzenabfälle, die sonst unreinlich vor den Hütten um-
herlagen, zusammentragen, um sie zur Düngung zu benutzen.
Ungläubig schüttelten die Bauern zu den Ratschlägen des Pfarrers
die Köpfe; sie meinten, daß er es wohl verstehen möchte, eine Predigt
zu halten, in der Landwirtschaft aber werde das Stadtkind sie nicht be-
lehren. „Bei uns wächst doch nichts Rechtes," war die gewöhnliche
Redensart, mit der sie seine Aufforderungen zur Arbeit ablehnten.
Aber Oberlin predigte auch durch die Tat. Er fing mit seinem Diener
1910 -
Wittenberg
: Herrosé
- Autor: Schanze, W., Schanze, J.
- Auflagennummer (WdK): 12
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
13
Vaterstadt hin und hielt sich fern von allen zerstreuenden weltlichen
Genüssen. In seinem 27. Lebensjahre wurde er vom evangelischen
Konsistorium in Straßburg zum Pfarrer der Gemeinde Walders-
bach im sogenannten Steintal ernannt. Einige Dörfer mit etlichen
Höfen des letzteren bildeten eine Grafschaft. Diese Orte befanden
sich zur Zeit der Anstellung Oberlins in dem Zustande einer äußeren
und inneren Verwahrlosung. In bezug auf Lage, Bodenart und
Witterungsverhältnisse gehört das Steiutal zu den am wenigsten
begünstigten Strichen des Elsaß. Etwa 12—14 Stunden von
Straßburg entfernt, war es von jedem Verkehr abgeschlossen. Da
das Tal in nordöstlicher Richtung sich hinzieht, hat es ein rauhes
Klima; dazu war der Boden steinig und lohnte kaum der Bewirt-
schaftung. Das Land lag daher zum größten Teile brach. Not und
Armut herrschten allgemein; Gewerbe, Handel und Verkehr gab es
nicht. Bei solcher Sachlage ist es nicht zu verwundern, daß die Leute
auf einem sehr tiefen Standpunkt der Bildung und Gesittung stan-
den. Der junge Oberlin war hier auf ein Arbeitsfeld gestellt, wo
ihm alles zu tun übrig blieb. Er griff sein schweres Werk mit
Mut und Zuversicht an, beschränkte sich aber nicht auf die seelsorger-
liche Tätigkeit durch Kanzelvorträge und Hausbesuche, sondern
wagte sich auch auf das Gebiet der Landwirtschaft. Seine Besol-
dung bestand hauptsächlich in den Erträgen eines Pfarrgutes. Ober-
lin bewirtschaftete es mit seinen Leuten mustergültig. Wenn
nun zur Zeit der Aussaat oder noch mehr der Ernte das Pfarrland
schön, sauber und ergiebig war, dann machten die Bauern große
Augen und schämten sich vor ihrem Pfarrer. Hätten sie nicht die
unablässigen Mahnungen ihres Pfarrers bestimmt, ihm nachzu-
ahmen, so hätte es doch gewiß der in die Augen fallende Vorteil ver-
mocht. Bald folgten sie ihm in allen Stücken. Bewässerungs- und
Entwässerungsanlagen wurden hergestellt, wie es die Notdurft er-
forderte; der Obstbau, der Anbau von Kartoffeln, Flachs und an-
deren Gewächsen wurden neu eingeführt, soweit es die rauhe Witte-
rung gestattete. Auch für die Einführung geeigneter Ackergerät-
schaften sorgte Oberlin. Um den Leuten die Anschaffung zu er-
leichtern, schaffte er sie für eigene Rechnung an und überließ sie ihnen
für den Selbstkostenpreis und gegen Teilzahlungen. Um den Ver-
kehr zu ermöglichen, ließ Oberlin gute Wege und selbst Laudstraßen
anlegen; sogar eine Brücke bauten die Bewohner des Steintals, die
nach Zweck und Ursache ihrer Entstehung noch heute die „Liebes-
brücke" heißt.
Zur Unterstützung der Armen wurden Kassen gegründet, aus
denen sie zeitweilige Unterstützung oder Darlehen empfingen.
Arbeitsscheue Menschen bekamen nur Brot, wenn sie nur Lohn ar-
beiteten.
Neben der äußeren griff Oberlin auch die innere Arbeit mit
ganzer Kraft an; er war rastlos im Hansbesuchen und ging den
einzelnen Seelen mit Treue nach. Zugleich war er aber auch ihr
Ratgeber in häuslichen Angelegenheiten, ihr Arzt, Chirurg, Kranken-
1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
234
„Ich weiß, was ihr vorhabt,“ sagte er, „und ich komme, um euch die Mühe
und Schlechtigkeit des Autlauerns zu ersparen. Habe ich euch etwas
zuleide getan, so sagt es mir gerade heraus, und bin ich straffällig, so
will ich dafür büßen.“ Die Bauern sahen ihn erst stutzig an; dann trat
einer nach dem andern an ihn heran, bot ihm die Hand und bat um Ver-
zeihung.
Ein andres Mal begegnete Oberlin, als er, mit einem Buch in der
Hand, auf einem einsamen Gebirgsstege ging, einem wild und trotzig
aussehenden Arbeiter, der einen Balken trug und ihn statt jeden Grußes
mit den schmählichen Worten anredete: „Wo hinaus, Hans Hornvieh?“
— „Du irrst dich, Freund,“ versetzte der Pfarrer mit würdiger Ruhe,
„ich heiße Oberlin.“ Und der Bauer ging beschämt weiter.
6. Oberlin begnügte sich nicht damit, den Bauern ihre Laster vor-
zuhalten, sondern er zeigte ihnen auch, in welcher Weise sie ihr Leben
zum Bessern zu ändern hätten, und wie sie auch ihrer leiblichen Not ab-
helfen könnten. Er wies sie vor allem auf Arbeit und Tätigkeit hin
und zeigte, wie man auch dem kärgsten Boden noch einen Ertrag ab-
ringen könne. Als die bessere Jahreszeit begann, lehrte er sie bestimmte
Rinnsale graben, um den Abfluß der Gebirgswasser, welche alljährlich
das Erdreich zerrissen und die dünne Schicht des Pflanzenbodens hin-
yvegschwemmten, zu regeln.
Er hieß das Gerölle und Gestein von den Feldern entfernen und die
tierischen und Pflanzenabfälle, die sonst unreinlich vor den Hütten um-
herlagen, zusammentragen, um sie zur Düngung zu benutzen.
Ungläubig schüttelten die Bauern zu den Ratschlägen des Pfarrers
die Köpfe; sie meinten, daß er es wohl verstehen möchte, eine Predigt
zu halten, in der Landwirtschaft aber werde das Stadtkind sie nicht be-
lehren. „Bei uns wächst doch nichts Rechtes,“ war die gewöhnliche
Redensart, mit der sie seine Aufforderungen zur Arbeit ablehnten.
Aber Oberlin predigte auch durch die Tat. Er fing mit seinem Diener
allein an zu graben und zu arbeiten, und als er so einen kleinen, gedeih-
lichen Acker an seinem Pfarrhause geschaffen, da wunderten sich die
Bauern und weigerten sich nicht mehr, seinem Rate zu folgen. „Aber
wo nehmen wir die Ackergeräte her?“ fragten sie nun; denn in der
Gemeinde gab es weder diese noch Handwerker. Auch dafür schaffte
Oberlin Rat; er ließ solche aus Straßburg kommen und lieh sie den
Bauern, Die Bezahlung stundete er ihnen so lange, bis sie dieselbe
schon aus dem Nutzen, den sie ihnen gebracht hatten, berichtigen konn-
ten. Da fernerhin die Samenkartoffeln durch mehrjährige Mißernten
untauglich geworden waren, so verschrieb er Saatkartoffeln aus Loth-
ringen und Deutschland und verteilte sie. Er ließ auch Flachssamen von
1880 -
Leipzig
: Spamer
- Autor: Hocker, Nikolaus, Köppen, Fedor von, Finger, Friedrich August, Albrecht, Längin, J., Buttgers, J., Mehlis, Christian, Klöden, Gustav Adolf von
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Oberlin, der Vater des Steinthals. 189
Wie er aus dem Saatkorn auf dürrem Boden Früchte zu ziehen ge-
wüßt, so verstand es Oberlin auch, edlere Triebe in der Menschen Herzen
zu pflanzen und für die geistige und sittliche Hebung seiner Pfarrkinder
Sorge zu tragen. Er überwachte den Unterricht, veraulaßte die Anstellung
guter Schulmeister und nahm nicht eher ein neues Pfarrhaus an, als bis
alle Dörfer seiner Psarrgemeinde mit neuen, guten Schulhäusern versehen
waren. Er wendete auch den Kleinsten seine Fürsorge zu und sorgte, daß
die noch nicht für die Schule reifen Kinder, wenn die Eltern durch die
Feldarbeit oder durch häusliche Geschäfte in Anspruch genommen waren,
Beaufsichtigung und Anleitung zum ersten Unterricht fanden, wobei ihm seine
treue Dieustmagd, Luise Schäppler, als Helferin zur Seite staud.
s Ju manchem stillen Liebesdienste bei Kranken und Unglücklichen fand
Oberlin die beste Stütze in seiner treuen Lebensgefährtin, Magdalene Sa-
lome Witter, der „Mutter des Steinthals", mit der er sich ein Jahr nach
dem Antritt seines Berufs verbunden und in glücklichster Ehe lebte.
Durch beinahe zwei Menschenalter wirkte Oberlin mit unablässigem
Eifer als treuefter Seelsorger seiner Gemeinde. Sein langes, glatt gestri-
chenes Haar war schneeweiß geworden, und auf seinem Antlitz lag die stille
Verklärung, welche der Friede des Gewissens, das Bewußtsein eines gott-
befreundeten Gemüthes im hohen Alter den Zügen geben. Da war unter
seinen Pfarrkindern wol keines, das sich nicht einmal Rath bei ihm geholt,
und das sich nicht von Herzen dankbar zu ihm hingezogen gefühlt hätte.
Er hatte sie alle lieb, die guten wie die schlimmen; ja er schloß die letzteren
wol ganz besonders in sein Gebet, weil sie ja seiner Fürbitte noch mehr
bedurften als die anderen, und schrieb die Namen solcher, deren er in seinem
abeudlicheu Gebete vorzugsweise gedenken wollte, mit Kreide auf eine Tafel,
die an seiner Thür hing. Wenn die Bauern in später Abendstunde am Pfarr-
hause vorübergingen und in seinem Betkämmerlein das Fenster noch erleuchtet
saheu, dann sprachen sie leise: „Laßt uns still sein, unser Papa betet für
uns!" — Wenn aber der würdige Herr selbst durch das Dorf schritt, wie
grüßteu ihn dann Alle so ehrfurchtsvoll und treuherzig, wie streckten selbst
, die Kleinen die Hand ihm entgegen, dem lieben Papa Oberlin; ja das ganze
Steinthal schien freundlich ihn grüßen zu wollen — die Bäume, die auf
seinen Autrieb gepflanzt worden und jetzt Schatten gaben; die Felsen, die
er mit Grün bedeckt; die Bäche, denen er Betten gegraben.
Manche schwere Prüfung war auch über ihn gekommen. Sein geliebtes
Weib war schon nach fünfzehnjähriger Ehe gestorben (Januar 1783). Während
der Schreckenszeit der Revolution hatte sein Pfarrhaus zuweileu den nn-
glücklichen Verfolgten Obdach gewährt; dafür ward er in das Gefängniß
nach Schlettstadt geschleppt und dankte seine Rettung nur dem Sturze der
Schreckensherrschaft. In seinem hohen Alter sah er noch seinen Sohn Hein-
rich sterben, der ihn bei seinen Liebeswerken treulich unterstützt hatte.
Am fünften Juuimorgen 1826 war das ganze Thal in tiefe Trauer
versenkt, der Himmel selbst mit dichten Wolken überzogen, welche heftige
Regenschauer herabsendeten. Dennoch war eine große Volksmenge aus allen
1903 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Polack, Friedrich, Stier, K., Krämer, J. B., Schreiber, B., Rockstroh, J.
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Ländliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): Jungen
Vi. Bildung und ihre Bedeutung, Besitz und seine Pflichten. 173
aber reiche Früchte zeigte, dann machten die Bauern große Augen und
schämten sich vor ihrem Pfarrer. Was die unablässigen Mahnungen
des Pfarrers allein nicht erreicht hätten, nämlich sein Beispiel nachzu-
ahmen, das bewirkte der in die Augen fallende Vorteil. Sie folgten
ihm bald in allen Stücken. Trockene Wiesen wurden bewässert, wtlde
Wasser eingedämmt, sumpfige Strecken entwässert, an Wege und auf
öde Stellen Obstbäume gepflanzt. Den Anbau von Kartoffeln, Flachs
und anderen Gewächsen führte Oberlin ein, soweit es die rauhe
Witterung gestaltete. Auch geeignete Ackergeräte beschaffte er. Um
den Leuten die Anschaffung zu erleichtern, kaufte er sie für eigene
Rechnung an und überließ sie ihnen für den Selbstkostenpreis und
gegen Teilzahlungen. Um den Verkehr zu ermöglichen, ließ Oberlin
gute Wege und selbst Landstraßen anlegen. Freiwillig bauten die
Bewohner des Steintals eine Brücke, die noch heute die „Liebes-
brücke" heißt.
Zur Unterstützung der Armen wurden Kassen gegründet, aus denen
dieselben zeitweilige Unterstützung oder Darlehen empfingen. Arbeits-
scheue Menschen bekamen nur dann Brot, wenn sie um Lohn arbeiteten.
Neben der äußeren griff Oberlin auch die innere Arbeit mit ganzer
Kraft an. Er war rastlos in Hausbesuchen und ging den einzelnen
Seelen mit Treue nach. Zugleich war er aber auch ihr Ratgeber in
häuslichen Angelegenheiten, ihr Arzt, Krankenwärter und Bote. Gleich
zu Anfang richtete er sein besonderes Augenmerk auf die Schulen. Nur
unter großen Schwierigkeiten konnte er Lehrer gewinnen. Viel Mühe
kostete es auch, die Eltern zu veranlassen, ihre Kinder regelmäßig in
die Schule zu schicken. Trotz aller Hindernisse hatten die Schulen bald
ihren geordneten Fortgang. Doch damit war der häuslichen Ver-
kommenheit noch nicht abgeholfen. Es fehlte an einer Erziehung der
Mädchen, die sie befähigte, auch in einer armen Familie Ordnung,
Reinlichkeit und Behaglichkeit herzustellen. Stricken, Nähen und Flicken
waren im Steintale damals ziemlich unbekannt. Die Frauen verschwatzten
lieber ihre Zeit, als daß sie sich um ihr Hauswesen bekümmerten. Die
Kleider waren entweder neu und ganz, oder alt und zerrissen. Unter
dem Beistände seiner treuen Lebensgefährtin arbeitete Oberlin diesen
Zuständen kräftig entgegen. Auf eigene Kosten richtete er in jedem
Dorfe seiner Gemeinde in geräumigen Zimmern Strickschulen ein
und versah sie mit Lehrerinnen. Die treue Magd L u i s e S ch e p p l e r
war seine beste Helferm. Sie hatte gute Geistesanlagen und ein em-
pfängliches Herz voll Milde und herzlicher Liebe. Sie arbeitete nicht
nur als treue Stütze der Hausfrau, sondern auch als Lehrerin der
Strickschule. Aber eine bedeutende Lücke war noch auszufüllen: Da
die Mütter oft den ganzen Tag außerhalb des Hauses ihrem Verdienste
nachgehen mußten, waren die Kleinen daheim vielen Gefahren ausgesetzt.
Das sah Luise, bewegte es in ihrem Herzen und fand einen Weg zur
Abhilfe. Sie sammelte die kleinen Kinder täglich um sich und nahm
sie in mütterliche Pflege. Sie sorgte für die Remlichkeit ihres Körpers,
erzählte ihnen biblüche und andere anziehende und belehrende Geschichlen,
lehne sie ihre Händchen zum Gebet falten und ihre zarten Stimmen in
1908 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Wohlrabe, Wilhelm, Steger, August
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
542
©roll gegen den jungen Pfarrer, der sich mehr um ihr Leben kümmere,
als er nötig habe, und als sie leider auch wohl von den meisten
frühern Pfarrern gewohnt waren. Eine Anzahl solcher unzufriednen
Menschen hatte sich verbunden, ihm aufzulauern und ihn mit einer
Tracht Prügel heimzuschicken. Oberlin hatte davon erfahren und
begab sich furchtlos in die Gesellschaft der Männer, als diese soeben
über die Ausführung ihres Planes berieten. „Ich weih, was ihr
vorhabt," sagte er, „und ich komme, um euch die Mühe und Schlechtig-
keit des Auflauerns zu ersparen. Habe ich euch etwas zuleide getan,
so sagt es mir gerade heraus, und bin ich straffällig, so will ich
dafür büßen." Die Bauern sahen ihn erst stutzig an; dann trat
einer nach dem andern an ihn heran, bot ihm die Hand und bat um
Verzeihung.
Ein andres Mal begegnete Oberlin, als er, mit einem Buch
in der Hand, auf einem einsamen Gebirgsstege ging, einem wild
und trotzig aussehenden Arbeiter, der einen Balken trug und ihn
statt jeden Grußes mit den schmählichen Worten anredete: „Wo
hinaus, Hans Hornvieh?" — „Du irrst dich, Freund," versetzte der
Pfarrer mit würdiger Ruhe, „ich heiße Oberlin". Und der Bauer
ging beschämt weiter.
6. Oberlin begnügte sich nicht damit, den Bauern ihre Laster
vorzuhalten, sondern er zeigte ihnen auch, in welcher Weise sie ihr
Leben zum Bessern zu ändern hätten, und wie sie auch ihrer leib-
lichen Not abhelfen könnten. Er wies sie vor allem auf Arbeit
und Tätigkeit hin und zeigte, wie man auch dem kärgsten Boden
noch einen Ertrag abringen könne. Als die bessere Jahreszeit be-
gann, lehrte er sie bestimmte Rinnsale graben, um den Abfluß der
Eebirgswasser, welche alljährlich das Erdreich zerrissen und die dünne
Schicht des Pflanzenbodens hinwegschwemmten, zu regeln.
Er hieß das Gerölle und Gestein von den Feldern entfernen
und die tierischen und Pflanzenabfälle, die sonst unreinlich vor den
Hütten umherlagen, zusammentragen, um sie zur Düngung zu be-
nutzen.
Ungläubig schüttelten die Bauern zu oen Ratschlägen des Pfarrers
die Köpfe; sie meinten, daß er es wohl verstehen möchte, eine Predigt
zu halten, in der Landwirtschaft aber werde das Stadtkind sie nicht
belehren. „Bei uns wächst doch nichts Rechtes," war die gewöhnliche
Redensart, mit der sie seine Aufforderungen zur Arbeit ablehnten.
Aber Oberlin predigte auch durch die Tat. Er fing mit seinem
Diener allein an zu graben und zu arbeiten, und als er so einen
kleinen, gedeihlichen Acker an seinem Pfarrhause geschaffen, da wun-
derten sich die Bauern und weigerten sich nicht mehr, seinem Rate
1897 -
Wittenberg
: Herrosé
- Autor: Schanze, J., Schanze, W.
- Auflagennummer (WdK): 5
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
nachzuahmen, so hätte es doch gewiss der in die Augen fallende
Vorteil vermocht. Bald folgten sie ihm in allen Stücken. Be-
wässerungs- und Entwässerungsanlagen wurden hergestellt, wie es
die Notdurft erforderte; der Obstbau, der Anbau von Kartoffeln,
Flachs und anderen Gewächsen wurden neu eingeführt, soweit es die
rauhe Witterung gestattete. Auch für Einführung geeigneter Acker-
gerätschaften sorgte Oberlin. Um den Leuten die Anschaffung zu
erleichtern, schaffte er sie für eigene Rechnung an und überliess
sie ihnen für den Selbstkostenpreis und gegen Teilzahlungen. Um
den Verkehr zu ermöglichen, liess Oberlin gute Wege und selbst
Landstrassen anlegen; sogar eine Brücke bauten die Bewohner des
Steinthals, die nach Zweck und Ursache ihrer Entstehung noch
heute die „Liebesbrücke“ heisst.
Zur Unterstützung der Armen wurden Kassen gegründet, aus
denen dieselben zeitweilige Unterstützung oder Darlehen empfingen.
Arbeitsscheue Menschen bekamen nur Brot, wenn sie um Lohn
arbeiteten.
Neben der äusseren griff Oberlin auch die innere Arbeit mit
ganzer Kraft an; er war rastlos im Hausbesuchen und ging den
einzelnen Seelen mit Treue nach. Zugleich war er aber auch ihr
Ratgeber in häuslichen Angelegenheiten, ihr Arzt, Chirurg, Kranken-
wärter und Bote. Gleich zu Anfang richtete er sein besonderes
Augenmerk auf die Schulen, für die er nur unter grossen Schwierig-
keiten Lehrer gewinnen konnte. Viel Mühe kostete es auch, die
Eltern zu veranlassen, ihre Kinder regelmässig in die Schule zu
schicken. Trotz aller Hindernisse hatten die Schulen bald ihren
geordneten Fortgang. Doch damit war der häuslichen Verkommen-
heit noch nicht abgeholfen. Es fehlte an der Erziehung der
Mädchen, die sie befähigte, auch in einer armen Familie Ordnung,
Reinlichkeit und Behaglichkeit herzustellen. Auch Stricken, Nähen
und Flicken waren im Stemthale damals ziemlich unbekannt. Die
Frauen verschwatzten lieber ihre Zeit, als dass sie sich um ihr
Hauswesen bekümmerten; die Kleider waren entweder neu und
ganz, oder alt und zerrissen. Unter dem Beistände seiner treuen
Lebensgefährtin arbeitete Oberlin diesen Zuständen kräftig entgegen,
indem er auf eigene Kosten in jedem Dorfe seiner Gemeinde in
geräumigen Zimmern sogenannte Strickschulen errichtete und mit
Lehrerinnen versah. Die treue Magd Luise Sch eppler, die mit
guten Geistesanlagen, einem empfänglichen Herzen, Milde und herz-
licher Liebe gesegnet war, arbeitete nicht nur als treue Stütze der
Hausfrau, sondern auch als Lehrerin der Strickschule. Aber eine
bedeutende Lücke blieb noch auszufüllen, auf die Luisens aufmerk-
sames Auge zuerst fiel. Da die Mütter oft den ganzen Tag über
ausserhalb des Hauses ihrem Verdienste nachgehen mussten, waren
die Kleinen daheim vielen Gefahren der Verwahrlosung ausgesetzt.
Luise sammelte diese kleinen Kinder täglich um sich und nahm sie
in mütterliche Pflege. Sie sorgte für die Reinlichkeit ihres Körpers,
erzählte ihnen biblische und andere anziehende und belehrende
1860 -
Stuttgart
: Hallberger
- Autor: ,
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
450
gesegnei, auf Gemüther zu wirken. Aufs verstljndigste und treueste
wartete er dabei der anderen Seite seines Berufs^ die ihm Anver-
trauten aus ihrer leiblichen Versunkenheit zu rettee Merkwürdig ists
jedoch, gerade hier, wobei doch der gute Wille des Pfarrers am
. leichtesten hätte anerkannt werden sollen, fand er anfangs den hart-
näckigsten Widerstand. Die Steinthaler nahmen es ihrem Pfarrer
höchlich übel, wenn er ihr häusliches Elend, ihre Unreinlichkeit, ihre
Trägheit, ihre Ungeschicklichkeit beim rechten Namen nannte; seine
guten Vorschläge hießen Neuerungen und unnöthige Kritteleien.
Einer seiner ersten Plane war, Verbindungswege zwischen dem
Steinthal und den benachbarten Städten Straßburg rc. zu öffnen.
Denn da die Bewohner -weder Absatz für ihre Erzeugnisse finden, noch
selbst die nöthigen Ackerbauwerkzenge sich verschaffen konnten, so be-
gnügten sie sich mit dem dürftigsten Unterhalt und hatten für allge-
meine Zwecke nie etwas übrig. Oberlin versammelte seine Pfarrkinder
und schlug ihnen vor, einen Verbindungsweg zu der nach Straßburg
führenden Heerstraße zu bauen. Zu diesem Zweck mußten Felsen ge-
1 sprengt, ein fester Dammweg längs des Bergstroms angelegt und
eine Brücke gebaut werden. Die Bauern hielten diesen Vorschlag für
ganz unausführbar, aber des Pfarrers Worte wirkten so mächtig,
daß sie endlich ihren Widerstand aufgaben und die schwere Arbeit
begannen, bei welcher er ihr Anführer und thätiger Helfer war.
Wohlthätige Freunde in Straßburg unterstützten ihn, und im Jahr
1770 war die Brücke über den Bergstrom gebaut, und die Verbin-
dung mit Straßbnrg eröffnet. Sein nächstes Werk war die Anlegung
von fahrbaren Straßen zwischen den Ortschaften seines Kirchspiels.
Hatte er am Sonntag mit dem Ernst und der Wärme, die seine Seele
erfüllten, seine Pfarrkinder belehrt und erbaut, so sah man ihn un-
bedenklich am Montag mit der Hacke auf der Schulter an der Spitze
von zwei hundert Arbeitern zum Straßenbau hinausziehen. Denn es
galt hier ein Beispiel zu geben. Von seinen Einkünften, die sich nur
auf 500 Gulden jährlich beliefen, verwendete er noch einen Theil auf
die Ausführung seiner Plane. Auch legte Oberlin jetzt einen Vor-
rath von den nöthigen Werkzeugen an, die bisher mit Zeitverlust von
Straßbnrg hergeholt worden waren, und gab den Käufern einen
billigen Credit; ja, er gründete mit seinen geringen Mäeln eine Leih-
anstalt, wo Jeder, der pünktliche Rückzahlung versprach und einhielt,
kleine Darlehen zur* Anschaffung der. dringenden Bedürfnisse erhielt.
Mehrere der fähigsten jungen Leute schickte Oberlin nach Straßbnrg,
1854 -
Stuttgart
: Hallberger
- Autor: ,
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Evangelische Volksschule
- Regionen (OPAC): Württemberg
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
450
gesegnet auf Gemüther zu wirken. Aufs verständigste und treueste
wartete er dabei der anderen Seite seines Berufs, die ihm Anver-
trauten aus ihrer leiblichen Versunkenheit zu retten. Merkwürdig ists
jedoch, gerade hier, wobei doch der gute Wille des Pfarrers am
leichtesten hätte anerkannt werden sollen, fand er anfangs den hart-
näckigsten Widerstand. Die Steinthaler nahmen es ihrem Pfarrer
höchlich übel, wenn er ihr häusliches Elend, ihre Unreinlichkeit, ihre
Trägheit, ihre Ungeschicklichkeit beim rechten Namen nannte; seine
guten Vorschläge hießen Neuerungen und unnöthige Kritteleien.
Einer seiner ersten Plane war, Verbindungswege zwischen dem
Steinthal und den benachbarten Städten Straßburg rc. zu öffnen.
Denn da die Bewohner weder Absatz für ihre Erzeugnisse finden, noch
selbst die nöthigen Ackerbauwerkzeuge sich verschaffen konnten, so be-
gnügten sie sich mit dem dürftigsten Unterhalt und hatten für allge-
meine Zwecke nie etwas übrig. Oberlin versammelte seine Pfarrkinder
und schlug ihnen vor, einen Verbindungsweg zu der nach Straßburg
führenden Heerstraße zu bauen. Zu diesem Zweck mußten Felsen ge-
sprengt, ein fester Dammweg längs des Bergstroms angelegt und
eine Brücke gebaut werden. Die Bauern hielten diesen Vorschlag für
ganz unausführbar, aber des Pfarrers Worte wirkten so mächtig,
daß sie endlich ihren Widerstand aufgaben und die schwere Arbeit
begannen, bei welcher er ihr Anführer und thätiger Helfer war.
Wohlthätige Freunde in Straßburg unterstützten ihn, und im Jahr
1770 war die Brücke über den Bergstrom gebaut und die Verbin-
dung mit Straßbnrg eröffnet. Sein nächstes Werk war die Anlegung
von fahrbaren Straßen zwischen den Ortschaften seines Kirchspiels.
Hatte er am Sonntag mit dem Ernst und der Wärme, die seine Seele
erfüllten, seine Pfarrkinder belehrt und erbaut, so sah man ihn un-
bedenklich am Montag mit der Hacke auf der Schulter an der Spitze
von zwei hundert Arbeitern zum Straßenbau hinausziehen. Denn es
galt hier ein Beispiel zu geben. Von seinen Einkünften, die sich nur
auf 500 Gulden jährlich beliefen, verwendete er noch einen Theil auf
die Ausführung seiner Plane. Auch legte Oberlin jetzt einen Vor-
rath von den nöthigen Werkzeugen an, die bisher mit Zeitverlust von
Straßburg hergeholt worden waren, und gab den Käufern einen
billigen Credit; ja, er gründete mit seinen geringen Mitteln eine Leih-
anstalt, wo Jeder, der pünktliche Rückzahlung versprach und einhielt,
kleine Darlehen zur Anschaffung der dringenden Bedürfnisse erhielt.
Mehrere der fähigsten jungen Leute schickte Oberlin nach Straßbnrg,
1913 -
Wittenberg
: Herrosé
- Autor: Kutsche, E., Koenig, W., Urbanek, Rudolf
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1895
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Haushaltsregeln
- Geschlecht (WdK): Mädchen
415
immer größer. Trotzdem besorgte sie die Pflege lange allein.
Ihre Hingabe an diese Lebensaufgabe kannte keine Grenzen. In
allen Ortschaften des Tales richtete sie die Bewahranstalten selbst
ein. Dabei scheute sie nicht die schlechten Wege. sie ließ sich von
ihren Gängen durch keine Witterung abhalten. Erschöpft und
durchnäßt, von Kälte erstarrt, kehrte sie oft von diesen Wegen der
Barmherzigkeit ins Pfarrhaus zurück und ließ es sich nicht nehmen,
hier noch bei der Arbeit behilflich zu sein. Für die Kinder des
Hauses sorgte sie, als ob es ihre eignen Geschwister wären. In
den schweren Zeiten der Revolution, in den Schrecken eines
Hungerjahres, in Krankheit und Leid stand sie treu zu ihrer Herr-
schaft. Und als ihre gütige Herrin starb, da wurde sie den sieben
Kindern eine zweite Mutter. Und für die seltene Hingebung
nahm sie nichts an. als was zur Bestreitung der leiblichen Bedürf-
nisse notwendig war. Ihr schönes Herz. ihre edle Uneigennützigkeit
spricht sich am rührendsten in dem Briefe aus, den sie nach dem
Tode der Frau Oberlin zum Neujahr 1797 an ihren geistigen
Führer schrieb. Er lautet:
Lieber und zärtlicher Vater!
Erlauben Sie mir, daß mit dem Beginn des Jahres ich von
Ihnen eine Gnade begehre, nach welcher ich schon lange trachte.
Da ich nun ganz frei stehe. d. h., da ich meinen Vater und dessen
Schulden nicht mehr zu tragen habe, so bitte ich Sie. lieber Vater,
versagen Sie mir die Gnade nicht, mich ganz zu Ihrem Kinde an-
zunehmen; geben Sie mir nicht den geringsten Lohn in Zukunft.
Da Sie mich in allem wie Ihr Kind halten, so wünsche ich es auch
in dieser Hinsicht zu sein. Ich brauche wenig zu meinem körper-
lichen Unterhalte: was einige kleine Ausgaben verursachen könnte,
sind Kleider. Strümpfe. Holzschuhe, und wenn ich solcher bedarf,
so will ich es Ihnen sagen, wie ein Kind seinem Vater. O ich bitte
Sie, lieber Vater, gewähren Sie mir diese Gnaden, und sehen Sie
mich an als ihr treu ergebenes Kind Luise.
Oberlin nimmt sie freudig als Tochter ün. sucht ihr aber
für ihre ausgezeichneten Dienste auf Umwegen Geld zukommen
zu lassen. Luise merkt aber gar bald die List und bittet inständig,
davon abzustehen. Dem guten Oberlin bleibt nichts übrig, als
die Bitte zu erfüllen, und nun jubelt Luise über das große Glück,
die freie Tochter eines guten Vaters zu sein.
Luise wirkte so jahrelang in der engen Welt. die von Fels-
wänden abgeschlossen war. Die Welt hinter den Bergen kannte
sie nicht. Aber der Ruf von der frommen Gründerin der Kinder-
bewahranstalten schwang sich über die Vergspitzen hinweg, drang
immer weiter in das Land und erreichte auch die glänzende Stadt
Paris. Da hatte ein reicher Graf eine ansehnliche Summe Geldes
gestiftet, die unter besonders brave und tugendhafte Mädchen des
Volkes verteilt werden sollte. Die französische Akademie, der die
Verteilung oblag, erkannte einstimmig der edlen Luise einen
1867 -
Altona
: Schlüter
- Autor: Burgwardt, Heinrich
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
223
beim rechten Namen nannte; seine guten Vorschläge hießen Neue-
rungen und unnöthige Kritteleien.
Einer seiner ersten Pläne war, Verbindungswege zwischen
dem Steinthal und den benachbarten Städten Straßburg rc. zu
öffnen. Denn da die Bewohner weder Absatz für ihre Erzeug-
nisse finden, noch selbst die nöthigen Ackerbauwerkzeuge sich ver-
schaffen konnten, so begnügten sie sich mit dem dürftigsten Unter-
halt und hatten für allgemeine Zwecke nie etwas übrig. Oberlin
versammelte seine Pfarrkinder, schlug ihnen vor, einen Verbindungs-
weg zu der nach Straßburg führenden Heerstraße zu bauen. Zu
diesem Zweck mußten Felsen gesprengt, ein fester Dammweg längs
des Bergstroms angelegt und eine Brücke gebaut werden. Die
Bauern hielten diesen Vorschlag für ganz unausführbar; aber
des Pfarrers Worte wirkten so mächtig, daß sie endlich ihren
Widerstand aufgaben und die schwere Arbeit begannen, bei wel-
cher er ihr Anführer und thätiger Helfer war. Wohlthätige
Freunde in Straßburg unterstützten ihn, und im Jahr 1770 war
die Brücke über den Bergstrom gebaut und die Verbindung mit
Straßburg eröffnet. Sein nächstes Werk war die Anlegung von
fahrbaren Straßen zwischen den Ortschaften seines Kirchspiels.
Hatte er am Sonntag mit dem Ernst und der Wärme, die seine
Seele erfüllten, seine Pfarrkinder belehrt und erbaut, so sah
man ihn unbedenklich am Montag mit der Hacke auf der Schul-
ter an der Spitze von zweihundert Arbeitern zum Straßenbau
hinausziehen. Denn es galt hier ein Beispiel zu geben. Von
seinen Einkünften, die sich nur aus fünfhundert Gulden jährlich
beliefen, verwendete er noch einen Theil auf die Ausführung
seiner Pläne. Auch legte Oberlin jetzt einen Vorrath von den
nöthigen Werkzeugen an, die bisher mit Zeitverlust von Straß-
burg hergeholt worden waren, und gab den Käufern einen billi-
gen Credit; ja er gründete mit seinen geringen Mitteln eine
Leihanstalt, wo Jeder, der pünktliche Rückzahlung versprach und
einhielt, kleine Darlehen zur Anschaffung der dringenden Be-
dürfnisse erhielt. Mehrere der fähigsten jungen Leute schickte
Oberlin nach Straßburg, um dort bei Maurern, Zimmerleuten,
Wagnern, Schmieden und Glasern die Lehrjahre auszuhalten
und nach ihrer Rückkehr in die Heimath ihre erworbenen Ge-
schicklichkeiten auszuüben und zu verbreiten. Nach einigen Jahren
sah man statt der elenden Wohnungen, die zum Theil in die
Bergwände gegraben waren, bequeme Häuschen, wobei tiefe Kel-
ler angelegt waren, um Kartoffeln und andere Vorräthe vor
Frost zu schützen. Auf die Verbeßerung des Ackerbau's richtete
Oberlin gleiche Sorgfalt. Er ließ Samenkartoffeln aus fremden
Gegenden kommen, um die ausgearteten einheimischen zu ersetzen.
Ebenso beförderte er den Flachsbau, indem er Leinsamen von
1867 -
Altona
: Schlüter
- Autor: Burgwardt, Heinrich
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
224
der Ostsee herbeischaffte; den bis dahin unbekannten Kleebau
führte er ein, und zum Anbau verschiedener nährender und
arzneilicher Pflanzen gab er Anweisung und Beispiel. „Laßt
Nichts verloren gehen," war einer seiner Lieblingssprüche. Er
gab seinen Psarrkindern Anleitung, aus Blättern, Binsen, Moos
und Tannennadeln Dünger zu bereiten, und gewährte kleinen
Kindern Preise, wenn sie Lumpen und Lederstücke zu demselben
Zweck benutzten. Vorzüglich aber wirkte er durch sein Beispiel.
Er verwandelte einen verödeten Garten, der zum Pfarrhaus ge-
hörte, in eine Baumschule, einen andern in eine Obstanlage,
und als diese Pflanzungen unter seiner sorgfältigen Pflege ge-
diehen, wurde so viel Nacheiferung erweckt, daß bald alle Häuser
von einem Kranze von Obstbäumen und wohlgepflegten Gärten
umgeben waren. Der glückliche Erfolg dieser Unternehmungen
machte die Steinthaler empfänglich für umfaßendere Entwürfe.
Oberlin veranlaßte die Bauern, Stallfütterung einzuführen und
die weniger einträglichen Weiden in Ackerland zu verwandeln,
wodurch sie selbst in schlechten Jahren hinreichend Getraide er-
zeugten. So große Schwierigkeiten der steinige Boden entgegen-
setzte, auch diese Bemühungen hatten glücklichen Erfolg, und im
elften Jahre seines Pfarramtes stiftete er einen Verein für Acker-
bau, welcher mit auswärtigen Vereinen der Art in Verbindung
trat und im Stande war, jährlich Preise an fleißige Obstpflanzer
zu vertheilen.
Auch für die Schulen war Oberlin so thätig, daß das
Steinthal sich auch in diesem Punkte bald im ganzen Elsaß aus-
zeichnete. Die Kinder lernten mit Lust, weil sie sahen, daß nicht
nur ihr Lehrer, sondern auch ihr Pfarrer und ihre Eltern ihre
Freude daran hatten und mit der größten Anstrengung alles zum
Unterricht Nöthige herbeischafften. Ganz besonders merkwürdig
aber ist, daß im Steinthale durch Oberlin die erste Klein-
kinderschule in ganz Europa entstand. Schon früh hatte er
die Nachtheile bemerkt, welche die jüngeren Kinder leiden, wäh-
rend die älteren die Schule besuchen, die Eltern aber ihren Be-
rufsarbeiten nachgehen. Nicht bloß Gefahren für Leben und
Gesundheit sind die unbeaufsichtigten Kleinen ausgesetzt, sondern
ihr Geist kann sich in der Einsamkeit nicht entwickeln, deshalb
bleiben sie zurück. Oberlin machte seine Frau auf dieses Uebel
aufmerksam, und diese, welche eben so menschenfreundlich dachte,
als ihr Gatte, bestellte Aufseherinnen, welche die Kinder von
zwei bis sechs Jahren um sich sammelten und dieselben mit Spiel
und kleinen Arbeiten beschäftigten. Unter diesen Aufseherinnen
befand sich ein junges Bauernmädchen, welches als die eigentliche
Begründerin der Bewahranstalteu zu betrachten ist, weil che nach
dem bald erfolgten Tode der Pfarrerin die Gedanken derselben
1856 -
Darmstadt
: Diehl
- Autor: Curtman, Wilhelm Jakob Georg
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
188
fester Dammweg längs des Bergstromö angelegt «nd eine Brücke ge-
baut werden. Die Bauern hielten diesen Vorschlag für ganz unaus-
führbar, aber des Pfarrers Worte wirkten so mächtig, daß sie endlich
ihren Widerstand aufgaben und die schwere Arbeit begannen, bei wel-
cher er ihr Anführer und thätiger Helfer war. Wohlthätige Freunde
in Straßburg unterstützten ihn; und im Jahre 1770 war die Brücke
über den Bergstrom gebaut und die Verbindung mit Straßburg eröff-
net. Sein nächstes Werk war die Anlegung von fahrbaren Straßen
zwischen den Ortschaften seines Kirchspiels. Hatte er am Sonntage
mit dem Ernst und der Wärme, die seine Seele erfüllten, seine Pfarr-
kinder belehrt und erbaut, so sah man ihn unbedenklich am Montage
mit der Hacke auf der Schulter an der Spitze von 200 Arbeitern zum
Straßenbau hinausziehen. Denn hier galt es ein Beispiel zu geben.
Von seinen Einkünften, die sich nur auf 500 Gulden jährlich beliefen,
verwendete er noch einen Theil auf die Ausführung seiner Plane.
Auch legte Oberlin jetzt einen Vorrath von den nöthigen Werkzeugen
an, die bisher mit Zeitverlust von Straßburg hergeholt worden waren
und gab den Käufern einen billigen Kredit; ja er gründete mit seinen
geringen Mittel eine Leihanstalt, wo Jeder, der pünktliche Rückzah-
lung versprach und einhielt, kleine Darlehen zur Anschaffung der
dringenden Bedürfnisse erhielt. Mehrere der fähigsten jungen Leute
schickte Oberlin nach Straßburg, um dort bei Maurern, Zimmerleuten,
Wagnern, Schmieden und Glasern die Lehrjahre auszuhalten und
nach ihrer Rückkehr in die Heimath ihre erworbenen Geschicklichkeiten
auszuüben und zu verbreiten. Nach einigen Jahren sah man statt
der elenden Wohnungen, die zum Theil in die Bergwände gegraben
waren, bequeme Häuschen, wobei tiefe Keller angelegt waren, um
Kartoffeln und andere Vorräthe vor Frost zu schützen. Auf die Ver-
besserung des Ackerbaues richtete Oberlin gleiche Sorgfalt. Er ließ
Samenkartoffeln aus fremden Gegenden kommen, um die ausgearteten
einheimischen zu ersetzen. Ebenso beförderte er den Flachsbau, indem
er Leinsamen von der Ostsee herbeischaffte; den bis dahin unbekannten
Kleebau führte er ein, und zum Anbau verschiedener nährenden und
arzneilichen Pflanzen gab er Anweisung und Beispiel. Laßt Nichts
verloren gehn! war einer seiner Lieblingssprüche. Er gab seinen
Pfarrkindern Anleitung, aus Blättern, Binsen, Moos und Tannen-
nadeln Dünger zu bereiten und gewährte kleinen Kindern Preise,
wenn sie Lumpen und Lederstücke zu demselben Zwecke benutzten. Vor-
züglich aber wirkte er durch sein Beispiel. Er verwandelte einen ver-
ödeten Garten, der zum Pfarrhause gehörte, in eine Baumschule, einen
anderen in eine Obstanlage, und als diese Pflanzungen unter seiner
sorgfältigen Pflege gediehen, wurde soviel Nacheiferung erweckt, daß
bald alle Häuser von einem Kranze von Obstbäumen und wohl ge-
pflegten Gärten umgeben waren. Der glückliche Erfolg dieser Unter-
nehmungen machte die Bewohner des Steinthaleö für umfassendere
Entwürfe empfänglich. Oberlin veranlaßte die Bauern, Stallfütterung
einzuführen und die weniger einträglichen Weiden in Ackerland zu ver-
wandeln, wodurch sie selbst in schlechten Jahren hinreichend Getraive
erzeugten. So große Schwierigkeiten der steinige Boden entgegensetzte,
auch diese Bemühungen hatten glücklichen Erfolg und im 11. Jahre
1879 -
Stuttgart
: Hallberger
- Autor: ,
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
399
Jahren sah man statt der elenden Wohnungen, die zum Theil in die Berg-
wände gegraben waren, bequeme Häuschen, wobei tiefe Keller angelegt
waren, um Kartoffeln und andere Vorräthe vor Frost zu schützen. Auf
die Verbesierung des Ackerbaus richtete Oberlin gleiche Sorgfalt. Er ließ
Samenkartoffeln aus fremden Gegenden kommen, um die ausgearteten ein-
heimischen zu ersetzen. Ebenso beförderte er den Flachsbau, indem er Lein-
samen von der Ostsee herbeischaffte; den bis daher unbekannten Kleebau
führte er ein, und zum Anbau verschiedener nährender und arzneilicher
Pflanzen gab er Anweisung und Beispiel. Laßt nichts verloren gehen,
war einer seiner Lieblingssprüche. Er gab seinen Pfarrkindern Anleitung,
aus Blättern, Binsen, Moos und Tannennadeln Dünger zu bereiten, und
gewährte kleinen Kindern Preise, wenn sie Lumpen und Lederstücke zu dem-
selben Zweck benützten.
7. Vorzüglich aber wirkte er durch sein Beispiel. Er verwandelte einen
verödeten Garten, der zum Pfarrhaus gehörte, in eine Baumschule, einen
andern in eine Obstanlage; und als diese Pflanzungen unter seiner sorg-
fältigen Pflege gediehen, wurde so viel Nacheiferung erweckt, daß bald alle
Häuser von einem Kranze von Obstbäumen und wohlgepflegten Gärten um-
geben waren. Der glückliche Erfolg dieser Unternehmungen machte die
Steinthaler empfänglich für umfassendere Entwürfe. Oberlin veranlaßte die
Bauern, Stallfütterung einzuführen und die weniger einträglichen Weiden
in Ackerland zu verwandeln, wodurch sie selbst in schlechten Jahren hin-
reichend Getreide erzeugten. So große Schmierigkeiten der steinige Boden
entgegensetzte, auch diese Bemühungen hatten glücklichen Erfolg, und im
elften Jahr seines Pfarramtes stiftete er einen Verein für Ackerbau, welcher
mit auswärtigen Vereinen der Art in Verbindung trat und in: Stande
war, jährlich Preise an fleißige Obstpflanzer zu vertheilen.
8. Auch für die Schulen war Oberlin thätig, so daß sich das Stein-
thal auch in diesem Punkte bald im ganzen Elsaß auszeichnete. Die Kinder
lernten mit Lust, weil sie sahen, daß nicht nur ihr Lehrer sondern auch
ihr Pfarrer und ihre Eltern ihre Freude daran hatten und mit der größten
Anstrengung alles zum Unterricht Nöthige herbeischafften. Ganz besonders
merkwürdig aber ist, daß im Steinthale durch Oberlin die erste Klein-
kinderschule in ganz Europa entstand. Schon frühe hatte er die Nach-
theile bemerkt, welche die jüngeren Kinder leiden, während die älteren die
Schule besuchen, die Eltern aber ihren Berufsarbeiten nachgehen. Nicht
bloß Gefahren für Leben und Gesundheit sind die unbeaufsichtigten Kleinen
ausgesetzt, sondern ihr Geist kann sich in der Einsamkeit nicht entwickeln;
deßhalb bleiben sie zurück. Oberlin machte seine Frau auf dieses Übel
1903 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Polack, Friedrich, Stier, K., Krämer, J. B., Schreiber, B., Rockstroh, J.
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Ländliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): Jungen
Iii. Tages- und Jahreslauf, Fleiß und Frömmigkeit.
87
Anfänglich ging es hart und langsam. Aber sein Sprichwort: „ Was
nicht ist, kann werden," gab ihm immer Mut und Hoffnung. Mit
der Zeit ging es besser. Er ivurde durch unverdrossenen Fleiss und
Gottes Segen noch ein reicher Mann und ernährt jetzt die Kinder
des armen Bruders Wonichtsist, der selber nichts zu beifsen und zu
nagen hat. Uebel.
76 (83). Wie es Oberlin mit den arbeitsscheuen Settlern machte.
Oberlin war Pfarrer zu Steinthal im Elsaß und ist ein Mann
gewesen nach dem Herzen Gottes. Er hat eine barmherzige Seele für
das arme Volk gehabt und gemeint, ehrliche Schwielen in der Hand
und ehrlicher Schweiß im Angesichte seien ein rechter Ehrenschmuck für
ein Menschenkind. Und wer davon nichts wissen wollte, sondern lieber
fett werden von der sauern Mühe der andern, dem ist er hart an den
Leib gegangen. So hatte Gott seinem Kriege wider die Faulheit und
Liederlichkeit in seiner Gemeinde zum Siege verholfen. Da sah man
wohl arme Leute, aber fleißige und keine Bettler. Desto mehr Bettel-
säcke kamen jetzt von draußen nach Steinthal. Wenn nun ein Mensch
kam, schwach und krank oder mit greisen Haaren, dem man's ansieht,
er kann nicht mehr, oder er kann noch nicht — und streckte seine
zitternde Hand aus mit Seufzen, man möchte doch um Gottes willen
was hineinlegen, sonst wär's am End' — so einer ging allemal
getröstet und beschenkt von Oberlins Haustür hinweg. Wenn aber
einer kam in oen kräftigen Jahren, von gesunden Gliedern und mit
starken Knochen und klopfte mit dem Bettelftock an die Tür, dann
fragte ihn der Oberlin: „Lieber Freund, warum arbeitest du nicht?"
Und so der Bettelsack die Antwort gab: „Ich finde nicht Arbeit,"
wußte Oberlin alsbald Rat und erwiderte: „Herein, mein Lieber, du
sollst haben; drin im Hofe liegt ein Häuflein Steine, pack frisch zu
und trag' sie weg an den Ort, den ich dir zeigen will! Alsdann sollst
du Lohn haben."
Aber siehe! am öftesten, wenn er noch nicht fertig war mit dieser
Rede, machten die faulen Bettelsäcke kehrt und zogen ab mit verdrieß-
lichem Gesichte, weil man sich beim Steintragen bücken muß, und das
wird einem sauer. Und sie ließen sich fürder nicht mehr in Steinthal
sehen. Rur wenige ließen sich bereit finden, im Schweiße ihres An-
gesichts ein Almosen zu verdienen.
Run versteh': die Steine in Oberlins Hof sind Probiersteine ge-
wesen, darin sich sollte die Arbeitslust oder Arbeitsscheu der Bettler
ans Licht stellen. Und sie wurden auch für viele Faulenzer und
Bettler von Beruf Steine des Anstoßes und ihrer eigenen Schande,
für etliche aber auch Edelsteine; denn ein verdienter Lohn hat
einen edlen Wohlgeschmack und reizt das Herz, um weiter zu suchen
und zu sinnen, wo und wie sich fürderhin — nicht auf Bettelfahrten,
sondern auf ehrlichen Wegen fleißiger Arbeit ein Stücklein Brot ver-
dienen lasse.
1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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den fernen Gestaden der Ostsee kommen, wo er unter ähnlichen klima-
tischen Verhältnissen so vortrefflich gedieh, und säete ihn hier mit
gleichem Erfolge. Bald sah man an Stelle der frühern kahlen und stei-
nigen Hänge jetzt freundliche Wiesenflächen, wechselnd mit einträg-
lichen Ackerstücken. Auch den Obstbau* führte er ein, und wenn auch
Walnuß und Kirsche nicht gedeihen wollten, so sah man doch allmählich
an den meisten Hütten einige junge Bäumchen emporwachsen. Das
Aussehen der Hütten selbst ward freundlicher, und schon von ferne
hörte man das Sausen der Webstühle, das Schnurren der Spinnräder aus
dem Steintale.
Das waren alles die Verdienste des treuen Pfarrers, dessen segens-
reiche Tätigkeit mit jedem Tage sichtbarer vor Augen trat. Wer
möchte alle die wohltätigen Einrichtungen aufzählen, mit welchen er
den redlichen Arbeiter förderte, dem Notleidenden aufhalf, den Müßig-
gänger zum ehrenhaften Broterwerbe nötigte, wie die von ihm ins Leben
gerufene Darlehnskasse, die Spar- und Armenkassen, die Anweisung zur
Erlernung von Handwerken, die er jungen Leuten seiner Gemeinde in
Straßburg erteilen ließ, und des Guten mehr.
7. Bald machte sich das Bedürfnis eines Verkehrs mit der Außen-
welt fühlbar. Die einzige Straße, auf welcher ein Fuhrwerk aus dem
Steintale nach Schirmeck gelangen und dort die Landstraße nach
Straßburg erreichen konnte, war das Flußbett des wilden Hochgebirgs-
wassers, der Breusch. Die Bauern sahen die Notwendigkeit einer Fahr-
straße wohl ein. Als aber Oberlin ihnen zumutete, auch hierfür selbst
Sorge zu tragen, meinten sie, daß ein solches Unternehmen doch über
ihre Kräfte hinausginge. Da nahm der Pfarrer eines Morgens Spaten
und Pickelhaue zur Hand, ging in Begleitung seines einzigen Dieners
hinaus und begann zu arbeiten, und siehe, das Beispiel des Pfarrers
wirkte, viele Bauern ergriffen ihr Arbeitszeug, Schaufel, Hacke, Brech-
eisen, und folgten ihm. Jeder ward an einem bestimmten Platz ange-
stellt; für sich selbst nahm Oberlin die beschwerlichste Arbeit in An-
spruch. So ward geschaufelt und gegraben bis gegen Mittag und dann
nach einer kurzen Pause wieder weiter bis zum Abend. Am folgenden
Tage war das Arbeiterhäuflein schon gewachsen, und bald stellten sich
ihrer so viele, daß Oberlin schon neue Werkzeuge aus Straßburg be-
schaffen mußte. Nach einigen Monaten zog sich über den sonst unzu-
gänglichen Felsboden eine bequeme Fahrstraße; ja selbst eine feste
Brücke ward über die Breusch gebaut, von der sich der Name der Liebes-
brücke auch auf die später an ihrer Stelle neuerbaute übertragen hat.
Nunmehr konnten die Bauern ihre Landeserzeugnisse in andre Gegenden
zum Verkauf ausführen, und die Kartoffel des Steintals ward auf dem
Straßburger Markte besonders gern gekauft.
20. Teil 3
- S. 535
1907 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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allein an zu graben und zu arbeiten, und als er so einen kleinen, gedeih-
lichen Acker an seinem Pfarrhause geschaffen, da wunderten sich die
Bauern und weigerten sich nicht mehr, seinem Rate zu folgen. „Aber
wo nehmen wir die Ackergeräte her?" fragten sie nun; denn in der
Gemeinde gab es weder diese noch Handwerker. Auch dafür schaffte
Oberlin Rat; er ließ solche aus Straßburg kommen und lieh sie den
Bauern, Die Bezahlung stundete er ihnen so lange, bis sie dieselbe
schon aus dem Nutzen, den sie ihnen gebracht hatten, berichtigen konn-
ten. Da fernerhin die Samenkartoffeln durch mehrjährige Mißernten
untauglich geworden waren, so verschrieb er Saatkartoffeln aus Loth-
ringen und Deutschland und verteilte sie. Er ließ auch Flachssamen von
den fernen Gestaden der Ostsee kommen, wo er unter ähnlichen klima-
tischen Verhältnissen so vortrefflich gedieh, und säete ihn hier mit
gleichem Erfolge. Bald sah man an Stelle der frühern kahlen und stei-
nigen Hänge jetzt freundliche Wiesenflächen, wechselnd mit einträg-
lichen Ackerstücken. Auch den Obstbau führte er ein, und wenn auch
Walnuß und Kirsche nicht gedeihen wollten, so sah man doch allmählich
an den meisten Hütten einige junge Bäumchen emporwachsen. Das
Aussehen der Hütten selbst ward freundlicher, und schon von ferne
hörte man das Sausen der Webstühle, das Schnurren der Spinnräder aus
dem Steintale:
Das waren alles die Verdienste des treuen Pfarrers, dessen segens-
reiche Tätigkeit mit jedem Tage sichtbarer vor Augen trat. Wer
möchte alle die wohltätigen Einrichtungen auszählen, mit welchen er
den Redlichen Arbeiter förderte, dem Notleidenden aufhalf, den Müßig-
gänger zum ehrenhaften Broterwerbe nötigte, wie die von ihm ins Leben
gerufene Darlehnskasse, die Spar- und Armenkassen, die Anweisung zur
Erlernung von Handwerken, die er jungen Leuten seiner Gemeinde in
Straßburg erteilen ließ, und des Guten mehr.
7. Bald machte sich das Bedürfnis eines Verkehrs mit der Außen-
welt fühlbar. Die einzige Straße, auf welcher ein Fuhrwerk aus dem
Steintale nach Schirmeck gelangen und dort die Landstraße nach
Straßburg erreichen konnte, war das Flußbett des wilden Hochgebirgs-
wassers, der Brensch. Die Bauern sahen die Notwendigkeit einer Fahr-
straße wohl ein. Als aber Oberlin ihnen zumutete, auch hierfür selbst
Sorge zu tragen, meinten sie, daß ein solches Unternehmen doch über
ihre Kräfte hinausginge. Da nahm der Pfarrer eines Morgens Spaten
und Pickelhaue zur Hand, ging in Begleitung seines einzigen Dieners
hinaus und begann zu arbeiten; und siehe, das Beispiel des Pfarrers
wirkte, viele Bauern ergriffen ihr Arbeitszeug, Schaufel, Hacke, Brech-
eisen, und folgten ihm. Jeder ward an einem bestimmten Platz ange-
stellt; für sich selbst nahm Oberlin die beschwerlichste Arbeit in An-