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1917 -
München
: Oldenbourg
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
185
und nähte. Ich blieb an der Tür stehen. Er zog die Nadel auf und nieder;
nur die Wanduhr und mein Herz pochten. „Was willst du denn?" fragte mich
nach einer Weile der Meister. „Schneider werden möcht' ich halt gern,"
antwortete ich zagend. — „So setz dich her, nimm Nadel und Zwirn und nähe
mir diesen Ärmling zusammen!" So tat ich — aber es ist leichter gesagt
als getan. Da staken im Kissen an die dreißig Nadeln aller Größen; da lagen
Zwirnknäuel verschiedener Feine und Farbe. Und die beiden Teile des Ärmlings,
wie werden sie zusammengetan? Ich warf fragende Blicke auf den Meister;
aber der tat nicht, als wisse er mehr als ich. So hub ich denn an, legte
den Lodenstoff aufs Knie und machte einen Stich. Der Faden schlüpfte durch,
der erste Stich war mißlungen. Tief erglühend forschte ich der Ursache nach
und kam endlich darauf, daß von mir vergessen worden war an den Faden
einen Knoten zu machen. Ich schlang also mit großer Mühe ein Knötlein
und nähte hierauf mit Erfolg, aber auch mit Hindernissen. Es verwand und
verdreüte sich der Zwirn, es staute sich die Nadel am Finger, es verschob
sich das Zeug und ließ sich mit jedem Zuge hoch in die Lüfte ziehen, es riß
sogar der Faden.
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein Meister
auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und als ich endlich mit dem
Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge fragte, was nun zu beginnen
sei, antwortete er: „Jetzt trenne den Ärmling wieder auf bis auf den letzten
Stich und ziehe die Fäden sauber aus! Achtung geben mußt nur, daß du
den Stoff nicht anschneidest." Als ich das mit Augst und Schmerz getan
hatte und die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie mir sie der Meister
in die Hand gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und sprach zu
mir folgendes: „Ich hab' nur sehen wollen, wie du die Sache angreifst. Just
nicht ungeschickt, aber den Loden muß man zwischen Knie und Tischrand ein-
zwängen, sonst liegt er nicht still. Später, wenn du's einmal kannst, wird
er wohl auch ohne Einzwängen still liegen, so wie bei mir da. Auf den Finger
mußt du einen Fingerhut stecken, sonst kriegt deine Hand gerade so viele Löcher
wie der Loden. Den Zwirn mußt mit Wachs glätten, sonst wird er fransig
und reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß einer über dem andern reitet,
das heißt man Hinterstiche, sonst klafft die Naht. Die Teile mußt du so zu-
sammennähen, daß du sie nicht wieder voneinander zu trennen brauchst, und
gibt es doch einmal zu trennen, so mußt kein saures Gesicht dazu machen;
empfindsam sein leidet unser Handwerk nicht. Jeder Ochsenkuecht wird dich
ausspotten und wird dich fragen, ob du das Bügeleisen bei dir hättest, daß
dich der Wind nicht fortträgt, und wird, solange er deiner ansichtig ist, wie
ein Ziegeubock meckern. Laß ihm die Freud' und geh still und sittsam deiner
Wege! Ein gescheiter Mensch schämt sich nicht seines ehrlichen Handwerks
und ein dummer vermag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert nie aus;
jede Kundschaft hat einen andern Leib, jedes Jahr hat eine andere Mode;
da heißt's nicht bloß zuschneiden und nähen, da heißt's auch denken, mein lieber
Bub'; aus einem tüchtigen Schneider ist schon manch ein hoher Herr hervor-
1911 -
Breslau
: Hirt
- Autor: ,
- Hrsg.: Heider, Friedrich, Nohl, Walter
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
99
nach und kam endlich darauf, das; von mir vergessen worden war,
in den Faden einen knoten zu machen. Ich schlang also mit großer
Mühe ein Knötlein und nähte hierauf mit Erfolg, aber auch mit
Hindernissen. Es wand und verdrehte sich der Zwirn; es staute sich
die Nadel am Finger; es verschob sich das Zeug und ließ sich mit
jedem Zuge hoch in die Lüfte ziehen; es riß sogar der Faden. Als
ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein Meister
auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und als ich endlich mit
dem Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge fragte, was
nun zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den Ärmling wieder
auf bis auf den letzten Stich und ziehe die Fäden sauber aus! Achtung
geben mußt du nur, daß bu den Loden nicht anschneidest!"
3. Als ich das mit Angst und Schmerz getan hatte und die Teile
des Ärmlings wieder so dalagen, wie sie mir der Meister in die Hand
gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und sprach: „Ich hab'
nur sehen wollen, wie du die Sache angreifst. Just nicht ungeschickt;
aber den Loden muß man zwischen Knie und Tischrand einzwängen,
sonst liegt er nicht still. Später, wenn du's einmal kannst, wird er
wohl auch ohne Einzwängen still liegen, so wie bei mir da. Auf den
Finger, mit dem bu die Nadel eindrückst, mußt du einen Fingerhut
stecken, sonst kriegt deine Hand gerade so viele Löcher wie der Loden.
Den Zwirn mußt bu mit Wachs glätten, sonst wird er fransig und
reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß einer über dem andern
reitet, das heißt man Hinterstiche; sonst klafft die Naht. Die Teile
mußt du allemal so zusammennähen, daß du sie nicht wieder von-
einander zu trennen brauchst wie diesmal. Und gibt es doch einmal
zu trennen, so mußt du kein saures Gesicht dazu machen; empfindsam
sein leidet unser Handwerk nicht. Jeder Ochsenknecht wird dich aus-
spotten und wird dich fragen, ob du das Bügeleisen bei dir hättest, daß
dich der Wind nicht fortträgt, und wird, solange er deiner ansichtig
ist, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihn! die Freud' und geh still und
sittsam deiner Wege! Ein gescheiter Mensch schämt sich nicht seines
ehrlichen Handwerks, und ein dummer vermag es nicht zu lernen.
Der Schneider studiert nie aus. Jede Kundschaft hat einen andern
Leib, jedes Jahr hat eine andre Mode. Da heißt's nicht bloß zu-
schneiden und nähen, da heißt's auch denken, mein lieber Bub'.
Aus einem tüchtigen Schneider ist schon manch ein hoher Herr heraus-
gewachsen. Der große Feldherr Derfflinger ist ein Schneider ge-
wesen. Deswegen, wenn du in dir wirklich die Neigung empfindest
zu diesenr Stande, so will ich dich lehren, was ich selber kann."
4. Ich nickte dankend mit dem Kopfe. Beim Weggehen sagte
der Alpelhofer zu mir: „Schneider werden? Wie ist dir denn das
1906 -
Leipzig
: Hahn
- Autor: Wehrhan, Karl, Kleineberg, W.
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1901
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde?
- Geschlecht (WdK): koedukativ
5
durch, der erste Süch war mißlungen. Tief erglühend forschte ich der
Ursache nach und kam endlich darauf, daß von mir vergessen worden
war, an dem Faden einen Knoten zu machen. Ich schlang also mit
großer Mühe ein Knötlein und nähte hierauf mit Erfolg, aber auch
mit Hindernissen. Es verwandt und verdrehte sich der Zwirn, es
staute sich die Nadel am Finger, es verschob sich das Zeug und
ließ sich mit jedem Zuge hoch in die Lüfte ziehen, es riß sogar
der Faden.
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein
Meister auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und als ich
endlich mit dem Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge
fragte, was nun zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den
Ärmling wieder auf bis auf den letzten Stich und ziehe die Fäden
sauber aus. Achtung geben mußt nur, daß du den Stoff nicht an-
schneidest." Als ich das mit Angst und Schmerz getan hatte und
die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie sie mir der Meister
in die Hand gegeben hatte, ließ er von seiner Arbeit ab und sprach
zu mir folgendes: „Ich hab' nur sehen wollen, wie du die Sache
angreifst. Just nicht ungeschickt, aber den Loden muß man zwischen
Knie uno Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später,
wenn du's einmal kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängen still
Liegen, so wie bei mir da. Auf den Finger mußt du einen Fingerhut
stecken, sonst kriegt deine Hand gerade so viele Löcher wie der Loden.
Deit Zwirn mußt mit Wachs glätten, sonst wird er fransig und
reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß einer über dem andern
reitet, das heißt man Hinterstiche, sonst klafft die Naht. Die Teile
mußt du so zusammennähen, daß du sie nicht wieder von einander zu
trennen brauchst, und gibt es doch einmal zu trennen, so mußt kein
saures Gesicht dazu machen; empfindsam sein leidet unser Handwerk
nicht. Jeder Ochsenknecht wird dich ausspotten und wird dich fragen,
ob du das Bügeleisen bei dir hättest, daß dich der Wind nicht fort-
trägt, und wird, solange er deiner ansichtig wird, wie ein Ziegenbock
meckern. Laß ihm die Freud' und geh still und sittsam deiner Wege.
Ein gescheiter Mensch schämt stch nicht seines ehrlichen Handwerks,
und ein dummer vermag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert
nie aus; jede Kundschaft hat einen andern Leib, jedes Jahr hat eine
andre Mode; da heißt's nicht bloß zuschneiden und nähen, da heißt's
auch denken, mein lieber Bub'; aus einem tüchtigen Schneider ist
schon manch ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feldherr
Derfflinger ist ein Schneider gewesen. Deswegen, wenn du in dir
wirklich die Neigung empfindest zu diesem Stande, so will ich dich
lehren, was ich selber kann."
Ich nickte dankend mit dem Kopfe. Beim Weggehen sagte der
Alpelhofer zu mir: „Schneider werden? wie ist dir denn das einge-
fallen ? Alleweil in der finstern Stube sitzen; in den meisten Häusern
lassen die Leut' nicht einmal Luft zu den Fenstern herein. Wenn du
1905 -
Leipzig [u.a.]
: Klinkhardt
- Autor: Lange, Karl, Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Regionen (OPAC): Sachsen
- Inhalt Raum/Thema: Weltkunde
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
358
vergessen worden war, an den Faden einen Knoten zu machen.
Ich schlang also mit grosser Mühe ein Knötlein und nähte hier-
auf mit Erfolg, aber auch mit Hindernissen. Es verwand und
verdrehte sich der Zwirn, es staute sich die Nadel am Finger,
es verschob sich das Zeug und liess sich mit jedem Zuge hoch
in die Lüfte ziehen, es riss sogar der Faden.
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne dass
mein Meister auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und
als ich endlich mit dem Ärmling fertig zu sein wähnte und mit
dem Auge fragte, was nun zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt
trenne den Ärmling wieder auf bis auf den letzten Stich und
ziehe die Fäden sauber aus! Achtung geben musst nur, dass du
den Stoff nicht anschneidest.“ Als ich das mit Angst und
Schmerz getan hatte und die Teile des Ärmlings wieder so da-
lagen, wie mir sie der Meister in die Hand gegeben hatte, liess
dieser von seiner Arbeit ab und sprach zu mir folgendes: „Ich
hab nur sehen wollen, wie du die Sache angreifst. Just nicht
ungeschickt, aber den Loden muss man zwischen Knie und
Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später, wenn
du’s einmal kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängen still
liegen, so wie bei mir da. Auf den Finger musst du einen
Fingerhut stecken, sonst kriegt deine Hand gerade so viele
Löcher wie der Loden. Den Zwirn musst mit Wachs glätten,
sonst wird er fransig und reifst. Die Stiche musst du so
machen, dass einer über den andern reitet, das heisst man
Hinterstiche, sonst klafft die Naht. Die Teile musst du so zu-
sammennähen, dass du sie nicht wieder voneinander zu trennen
brauchst, und gibt es doch einmal zu trennen, so musst kein
saures Gesicht dazu machen; empfindsam sein leidet unser Hand-
werk nicht. Jeder Ochsenknecht wird dich ausspotten und wird
dich fragen, ob du das Bügeleisen bei dir hättest, dass dich
der Wind nicht fortträgt, und wird, solange er deiner an-
sichtig wird, wie ein Ziegenbock meckern. Lass ihm die Freud'
und geh still und sittsam deiner Wege! Ein gescheiter Mensch
schämt sich nicht seines ehrlichen Handwerks, und ein dummer
vermag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert nie aus;
jede Kundschaft hat einen andern Leib, jedes Jahr hat eine
andere Mode; da heisst’s nicht bloss zuschneiden und nähen, da
heisst’s auch denken, mein lieber Bub'; aus einem tüchtigen
Schneider ist schon manch ein hoher Herr hervorgewachsen. Der
grosse Feldherr Derfflinger ist ein Schneider gewesen. Deswegen,
wenn du in dir wirklich die Neigung empfindest zu diesem Stande,
so will ich dich lehren, was ich selber kann.“
Ich neigte dankend mit dem Kopfe. Beim Weggehen sagte
der Alpelhofer zu mir: „Schneider werden? wie ist dir denn das
eingefallen? Alleweil in der finstern Stube sitzen; in den meisten
1911 -
Hannover [u.a.]
: Carl Meyer (Gustav Prior)
- Autor: Koch, Hermann
- Hrsg.: Kappey, Heinrich
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten, Volksschule, Mittelschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Evangelische Mittelschule, Gehobene evangelische Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
182
Ich blieb an der Tür stehen.' Es war alles still. Er zog die Nadel
auf und nieder. Nur die Wanduhr tickte, und mein Herz pochte dem
Augenblicke entgegen.
„Was willst denn?" fragte mich nach einer Weile der Meister.
„Schneider werden möcht' ich halt gern," antwortete ich zagend.
„So, bist du derselbe," sagte er und blickte eine Weile auf mich her.
„In Gottes Namen, geh's an. Setz dich her, nimm Nadel und Zwirn,
und nähe mir diesen Ärmling zusammen!"
4. So tat ich; aber es ist leichter gesagt als getan. Da staken im
Kissen an die dreißig Nadeln aller Größen, da lagen Zwirnknäuel ver-
schiedener Feine und Farbe. Und die beiden Teile des Ärmlings, wie
werden sie behandelt und zusammengetan? Ich warf fragende Blicke auf
den Meister. Er tat nichts dergleichen, als wisse er mehr als ich. Ich
fädelte ein und legte den Loden aufs Knie und machte einen Such. Der
Faden schlüpfte durch. Der erste Stich war mißlungen. An den Wangen
tief ergllh?nd^ch>r schte ich der Ursache nach und kam endlich drauf, daß
von mir vergessen - war, in den Faden einen Knoten zu machen. Ich
schlang also mit großer Mühe ein Knötlein und beschäftigte all meine
zehn Finger dabei. Hierauf nähte ich mit Erfolg, aber auch mit Hinder-
nissen. Es verwand und verdrehte sich der Zwirn, es staute sich die
Nadel am Finger, es verschob sich der Loden und ließ sich mit jedem
Zug hoch in die Lüfte ziehen, es riß sogar der Faden.
5. Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein
Meister auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und als ich endlich
mit dem Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge fragte, was
nun zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den Ärmling wieder
auf — bis auf den letzten Stich alles auf und ziehe die Fäden sauber
aus! Achtung geben mußt nur, daß du den Loden nicht anschneidest."
Und als ich das mit Angst und Schmerz getan hatte und die Teile
des Ärmlings wieder so dalagen, wie mir sie der Meister in die Hand
gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und sprach zu mir folgendes:
„Waldbauernbub'! Ich hab' nur sehen wollen, wie du die Sach' angreifst.
Just nicht ungeschickt. Aber den Loden muß man zwischen Knie und
Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später, wenn du's einmal
kannst, wird er auch wohl ohne Einzwängen stilliegen, so wie bei mir
da. Auf den Finger, mit dem du die Nadel eindrückst, mußt du einen
Fingerhut stecken; sonst kriegt deine Haut gerade so viele Löcher wie der
Loden. Den Zwirn mußt mit Wachs glätten, sonst wird er fransig und
reißt. Die Stiche mußt im Loden so machen, daß einer über dem andern
reitet, das heißl man Hinterstiche; sonst klafft die Naht. Und die Teile
mußt du allemal so zusammennähen, daß du sie nicht wieder voneinander
zu trennen brauchst, wie dasmal. Und gibt es schon doch einmal zu
1900 -
Essen
: Baedeker
- Autor: Heinecke, August
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde?
- Geschlecht (WdK): koedukativ
91
der Kleidermacher muss Menschen- und Weltkenner sein (s. Nr. 98). Na,
werd’ ihn ’mal anschauen; soll nächster Tage zum Alpeihofer kommen, dort
wird er mich finden!“
2. So bin ich denn an einem hellen Morgen hingegangen. Lange stand
ich auf dem Antrittstein der Hausthür und dachte: „Wie wird es sein, wenn
ich wieder heraustrete?“ Da ich in die Stube trat, sass der Meister am
Tische und nähte. Ich blieb an der Thür stehen. Er zog die Nadel auf
und nieder; nur die Wanduhr und mein Herz pochten. „Was willst du
denn?“ fragte mich nach einer Weile der Meister. „Schneider werden möcht’
ich halt gern,“ antwortete ich zagend. — „So setz dich her, nimm Nadel
und Zwirn und nähe mir diesen Ärmling zusammen.“ So that ich; aber es
ist leichter gesagt als gethan. Da staken im Kissen an die dreissig Nadeln
aller Grössen, da lagen Zwirnknäuel verschiedener Feine und Farbe. Und
die beiden Teile des Ärmlings, wie werden sie zusammengethan ? Ich warf
fragende Blicke auf den Meister; aber der that nicht, als wisse er mehr als
ich. So hub ich denn an, legte den Lodenstoff aufs Knie und machte einen
Stich. Der Faden schlüpfte durch; der erste Stich war misslungen. Tief
erglühend forschte ich der Ursache nach und kam endlich darauf, dass von
mir vergessen worden war, an den Faden einen Knoten zu machen. Ich
schlang also mit grosser Mühe ein Knötlein und nähte hierauf mit Erfolg,
aber auch mit Hindernissen. Es verwand und verdrehte sich der Zwirn; es
staute sich die Nadel am Finger; es verschob sich das Zeug und liess sich
mit jedem Zuge hoch in die Lüfte ziehen; es riss sogar der Faden.
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne dass mein Meister
auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hatte, und als ich endlich mit dem
Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge fragte, was nun zu be-
ginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den Ärmling wieder auf bis auf den
letzten Stich und ziehe die Fäden sauber aus. Achtung geben musst nur,
dass du den Stoff nicht anschneidest.“ Als ich das mit Angst und Schmerz
gethan hatte und die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie sie mir der
Meister in die Hand gegeben hatte, liess dieser von seiner Arbeit ab und
sprach zu mir folgendes: „Ich hab’ nur sehen wollen, wie du die Sache an-
greifst. Just nicht ungeschickt; aber den Loden muss man zwischen Knie
und Tischrand einzwängen, sonst hegt er nicht still. Später, wenn du ’s
einmal kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängen still liegen, so wie bei
mir da. Auf den Finger musst du einen Fingerhut stecken; sonst kriegt
deine Hand gerade so viele Löcher wie der Loden. Den Zwirn musst mit
Wachs glätten, sonst wird er fransig und reifst. Die Stiche musst du so
machen, dass einer über den andern reitet, das heisst man Hinterstiche, sonst
klafft die Naht. Die Teile musst du so zusammennähen, dass du sie nicht
wieder voneinander zu trennen brauchst, und giebt es doch einmal zu trennen,
so musst kein saures Gesicht dazu machen; empfindsam sein leidet unser
Handwerk nicht. Jeder Ochsenknecht wird dich ausspotten und wird dich
fragen, ob du das Bügeleisen bei dir hättest, dass dich der Wind nicht fort-
trägt, und wird, solange er deiner ansichtig wird, wie ein Ziegenbock meckern.
Lass ihm die Freud’ und geh still und sittsam deiner Wege. Ein gescheiter
Mensch schämt sich nicht seines ehrlichen Handwerks, und ein dummer ver-
mag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert nie aus; jede Kundschaft
hat einen andern Leib, jedes Jahr hat eine andere Mode; da heisst ’s nicht
bloss Zuschneiden und Nähen, da heisst ’s auch denken, mein lieber Bub’!
1912 -
Essen Berlin
: Bachmann Baedeker
- Hrsg.: ,, Heinecke, August
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
340
Die Berufswahl.
auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hatte, und als ich endlich mit dem
Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem „Auge fragte, was nun zu be-
ginnen fei, antwortete er: „Jetzt trenne den Ärmling wieder auf bis auf den
letzten Stich und ziehe die Fäden sauber aus! Achtung geben mußt nur,
daß du den Stoff nicht anschneidest." Als ich das mit Angst und Schmerz
getan hatte und die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie sie mir der
Meister in die Hand gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und
sprach zu mir folgendes: „Ich hab' nur sehen wollen, wie du die Sache an-
greifst. Just nicht ungeschickt; aber den Loden muß man zwischen Knie und
Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später, wenn du 's einmal
kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängen still liegen, so wie bei mir da.
Auf den Finger mußt du einen Fingerhut stecken; sonst kriegt deine Hand
gerade so viele Löcher wie der Loden. Den Zwirn mußt mit Wachs glätten,
sonst wird er franzig und reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß einer
über den andern reitet; das heißt man Hinterstiche, sonst klafft die Naht. Die
Teile mußt du so zusammennähen, daß du sie nicht wieder voneinander zu
trennen brauchst, und gibt es doch einmal zu trennen, so mußt kein saures
Gesicht dazu machen; empfindsam sein leidet unser Handwerk nicht. Jeder
Ochsenknecht wird dich ausspotten und wird dich fragen, ob du das Bügel-
eisen bei dir hättest, daß dich der Wind nicht fortträgt, und wird, solange
er deiner ansichtig wird, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihm die Freud'
und gehe still und sittsam deiner Wege. Ein gescheiter Mensch schämt sich
nicht seines ehrlichen Handwerks, und ein dummer vermag es nicht zu lernen.
Der Schneider studiert nie aus; jede Kundschaft hat einen andern Leib, jedes
Jahr hat eine andere Mode; da heißt 's nicht bloß zuschneiden und nähen,
da heißt 's auch denken, mein lieber Bub'! Aus einem tüchtigen Schneider
ist schon manch ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feldherr
Derfflinger ist ein Schneider gewesen. Deswegen, wenn du in dir wirklich
die Neigung empfindest zu diesem Stande, so will ich dich lehren, was ich
selber kann."
Ich nickte dankend mit dem Kopfe. Beim Weggehen sagte der Alpel-
hofer zu mir: „Schneider werden? Wie ist dir denn das eingefallen? Alle-
weil in der finstern Stube sitzen; in den meisten Häusern lassen die Leut'
nicht einmal Luft zu den Fenstern hinein. Wenn du meinst, daß du für die
Bauernarbeit zu schwach wärst, hättest du nicht können ein Almhalter werden
oder so was, wo du auf freier Weid' gewesen wärest! Jetzt bist einmal
Schneider, so bleib dabei und schick dich, und wenn dir das Kreuz weh tut
vom vielen Sitzen, so denk an den da oben; der will 's haben, daß der
Mensch mit Müh' und Fleiß sein Brot verdient. Nur alles schön mit Willen
und Geduld, so wird 's schon gut gehen! In meinem Hause hast heut' an-
gefangen, so bin ich dir der Pate fürs Handwerk, und wenn du ein An-
liegen hast, oder eine Klag', so komm zu mir!"
In meiner Lehrzeit gab 's wenig zu klagen. Ich hätte mein Anliegen
dem Alpelhofer auch nicht vorbringen können; denn der gute Mann ist schon
fünf Wochen nach meinem Eintritt ins Handwerk gestorben.
Stach Peter Noseggcr.
1903 -
Essen
: Baedeker
- Autor: Heinecke, August
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
340
Die Berufswahl.
auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hatte, und als ich endlich mit dem
Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem, Auge fragte, was nun zu be-
ginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den Ärmling wieder auf bis auf den
letzten Stich und ziehe die Fäden sauber aus! Achtung geben mußt nur,
daß du den Stoff nicht anschneidest." Als ich das mit Angst und Schmerz
getan hatte und die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie sie mir der
Meister in die Hand gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und
sprach zu mir folgendes: „Ich hab' nur sehen wollen, wie du die Sache an-
greifst. Just nicht ungeschickt; aber den Loden muß man zwischen Knie und
Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später, wenn du 's einmal
kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängen still liegen, so wie bei mir da.
Auf den Finger mußt du einen Fingerhut stecken; sonst kriegt deine Hand
gerade so viele Löcher wie der Loden. Den Zwirn mußt mit Wachs glätten,
sonst wird er franzig und reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß einer
über den andern reitet, daß heißt man Hinterstiche, sonst klafft die Naht. Die
Teile mußt du so zusammennähen, daß du sie nicht wieder voneinander zu
trennen brauchst, und gibt es doch einmal zu trennen, so mußt kein saures
Gesicht dazu machen; empfindsam sein leidet unser Handwerk nicht. Jeder
Ochsenknecht wird dich ausspotten und wird dich fragen, ob du das Bügel-
eisen bei dir hättest, daß dich der Wind nicht fortträgt, und wird, solange
er deiner ansichtig wird, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihm die Freud'
und gehe still und sittsam deiner Wege. Ein gescheiter Mensch schämt sich
nicht seines ehrlichen Handwerks, und ein dummer vermag es nicht zu lernen.
Der Schneider studiert nie aus; jede Kundschaft hat einen andern Leib, jedes
Jahr hat eine andere Mode; da heißt 's nicht bloß zuschneiden und nähen,
da heißt 's auch denken, mein lieber Bub'! Aus einem tüchtigen Schneider
ist schon manch ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feldherr
Derfflinger ist ein Schneider gewesen. Deswegen, wenn du in dir wirklich
die Neigung empfindest zu diesem Stande, so will ich dich lehren, was ich
selber kann."
Ich nickte dankend mit dem Kopfe. Beim Weggehen sagte der Alpel-
hofer zu mir: „Schneider werden? Wie ist dir denn das eingefallen? Älle-
weil in der finstern Stube sitzen; in den meisten Häusern lassen die Leut'
nicht einmal Luft zu den Fenstern hinein. Wenn du meinst, daß du für die
Bauernarbeit zu schwach wärst, hättest du nicht können ein Almhalter werden
oder so was, wo du auf freier Weid' gewesen wärest! Jetzt bist einmal
Schneider, so bleib dabei und schick dich, und wenn dir das Kreuz weh tut
vom vielen Sitzen, so denk an den da oben, der will 's haben, daß der
Mensch mit Müh' und Fleiß sein Brot verdient. Nur alles schön mit Willen
und Geduld, so wird 's schon gut gehen! In meinem Hause hast heut' an-
gefangen, so bin ich dir der Pate fürs Handwerk, und wenn du ein An-
liegen hast, oder eine Klag', so komm zu mir!"
In meiner Lehrzeit gab 's wenig zu klagen. Ich hätte mein Anliegen
dem Alpelhofer auch nicht vorbringen können; denn der gute Mann ist schon
fünf Wochen nach meinem Eintritt ins Handwerk gestorben.
Nach Peter Rosegger.
1907 -
Essen Berlin
: Bachmann Baedeker
- Hrsg.: ,, Heinecke, August
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde?
- Geschlecht (WdK): koedukativ
340
Die Berufswahl.
auch uur eine Silbe zu mir gesprochen hatte, und als ich endlich mit dem
Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem, Auge fragte, was nun zu be-
ginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den Ärmling wieder auf bis auf den
letzten Stich und ziehe die Fäden sauber aus! Achtung geben mußt nur,
daß du den Stoff nicht anschneidest." Als ich das mit Angst und Schmerz
getan hatte und die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie sie mir der
Meister in die Hand gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und
sprach zu mir folgendes: „Ich hab' nur sehen wollen, wie du die Sache an-
greifst. Just nicht ungeschickt; aber den Loden muß man zwischen Knie und
Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später, wenn du 's einmal
kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängen still liegen, so wie bei mir da.
Auf den Finger mußt du einen Fingerhut stecken; sonst kriegt deine Hand
gerade so viele Löcher wie der Loden. Den Zwirn mußt mit Wachs glätten,
sonst wird er franzig und reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß einer
über den andern reitet; das heißt man Hinterstiche, sonst klafft die Naht. Die
Teile mußt du so zusammennähen, daß du sie nicht wieder voneinander zu
trennen brauchst, und gibt es doch einmal zu trennen, so mußt kein saures
Gesicht dazu machen; empfindsam sein leidet unser Handwerk nicht. Jeder
Ochsenknecht wird dich ausspotten und wird dich fragen, ob du das Bügel-
eisen bei dir hättest, daß dich der Wind nicht fortträgt, und wird, solange
er deiner ansichtig wird, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihm die Freud'
und gehe still und sittsam deiner Wege. Ein gescheiter Mensch schämt sich
nicht seines ehrlichen Handwerks, und ein dummer vermag es nicht zu lernen.
Der Schneider studiert nie aus; jede Kundschaft hat einen andern Leib, jedes
Jahr hat eine andere Mode; da heißt 's nicht bloß zuschneiden und nähen,
da heißt 's auch denken, mein lieber Bub'i Aus einem tüchtigen Schneider
ist schon manch ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feldherr
Dersflinger ist ein Schneider gewesen. Deswegen, wenn du in dir wirklich
die Neigung empfindest zu diesem Stande, so will ich dich lehren, was ich
selber kann."
Ich nickte dankend mit dem Kopfe. Beim Weggehen sagte der Alpel-
hofer zu mir: „Schneider werden? Wie ist dir denn das eingefallen? Alle-
weil in der finstern Stube sitzen; in den meisten Häusern lassen die Leut'
nicht einmal Luft zu den Fenstern hinein. Wenn du meinst, daß du für die
Bauernarbeit zu schwach wärst, hättest du nicht können ein Almhalter werden
oder so was, wo du auf freier Weid' gewesen wärest! Jetzt bist einmal
Schneider, so bleib dabei und schick dich, und wenn dir das Kreuz weh tut
vom vielen Sitzen, so denk an den da oben; der will 's haben, daß der
Mensch mit Müh' und Fleiß sein Brot verdient. Nur alles schön mit Willen
und Geduld, so wird 's schon gut gehen! In meinem Hause hast heut' an-
gefangen, so bin ich dir der Pate fürs Handwerk, und wenn du ein An-
liegen hast, oder eine Klag', so komm zu mir!"
In meiner Lehrzeit gab 's wenig zu klagen. Ich hätte mein Anliegen
dem Alpeihofer auch nicht vorbringen können; denn der gute Mann ist schon
fünf Wochen nach meinem Eintritt ins Handwerk gestorben.
Nach Peter Rojegger.
1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
— 52
paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein Meister auch nur
eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und als ich endlich mit dem
Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge fragte, was nun
zu beginnen sei, antwortete er: ,,Jetzt trenne den Ärmling wieder
auf — bis auf den letzten Stich alles auf und ziehe die Fäden sauber
aus. Achtung geben mußt nur, daß du den Loden nicht anschneidest.“
Und als ich das mit Angst und Schmerz getan hatte und die Teile
des Ärmlings wieder so dalagen, wie mir sie der Meister in die Hand
gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und sprach zu mir
folgendes:
,,Waldbauernbub! Ich hab’ nur sehen wollen, wie du die Sach’
angreifst. Just nicht ungeschickt, aber den Loden muß man zwischen
Knie und Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später,
wenn du’s einmal kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängen still
liegen, so wie bei mir da. Auf den Finger, mit dem die Nadel ein-
drückst — das ist der mittlere, der lange — mußt du einen Fingerhut
stecken, sonst kriegt deine Haut gerade so viele Löcher, als wie der
Loden. Den Zwirn mußt du mit Wachs glätten, sonst wird er fransig
und reißt. Die Stiche mußt im Loden so machen, daß einer über dem
andern reitet, das heißt man Hinterstiche — sonst klafft die Naht.
Und die Teile mußt du allemal so zusammennähen, daß du sie nicht
wieder voneinander zu trennen brauchst, wie dasmal. Und gibt es
schon doch einmal zu trennen, so mußt kein saures Gesicht dazu
machen, mein lieber Waldbauernbub. Empfindsam sein, das leidet unser
Handwerk nicht. Jeder Ochsenknecht wird dich meistern, und jeder
Halterbub wird dich ausspotten und wird dich fragen, ob du wohl das
Bügeleisen bei dir hättest, daß dich der Wind nicht verträgt, und wird,
solang’ er deiner ansichtig ist, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihm
die Freud’ und geh still und sittsam deiner Wege. Ein gescheiter
Mensch schämt sich nicht seines ehrlichen Handwerks, und ein Dummer
vermag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert nie aus, jede
Kundschaft hat einen andern Leib, jedes Jahr hat eine andre Mode;
da heißt’s nicht gerade Zuschneiden und Nähen, da heißt’s auch
denken, mein lieber Waldbauernbub. Aus dem tüchtigen Schneider
ist schon manch ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feld-
herr Derfflinger, der Wiedertäuferprophet Johann von Leyden sind
Schneider gewesen, in Amerika gibt es sogar eine Gattung von Schnei-
dern, welche Präsidenten von den Vereinigten Staaten werden. Ich
hab’ ein Büchel, das will ich dir einmal zeigen, da wirst alle berühmten
Schneider darin finden. Deswegen, Waldbauernbub, wenn du in dir
wirklich die Neigung und das Talent zu diesem Stande empfindest, so
bleibe da, und ich will dir lernen, was ich selber kann.“
Ich neigte dankend mit dem Kopfe.
1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): offen für alle
53
paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein Meister auch nur
eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und als ich endlich mit dem
Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge fragte, was nun
zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den Ärmling wieder
auf — bis auf den letzten Stich alles auf und ziehe die Fäden sauber
aus. Achtung geben mußt nur, daß du den Loden nicht anschneidest.“
Und als ich das mit Angst und Schmerz getan hatte und die Teile
des Ärmlings wieder so dalagen, wie mir sie der Meister in die Hand
gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und sprach zu mir
folgendes:
„Waldbauernbub! Ich hab’ nur sehen wollen, wie du die Sach’
angreifst. Just nicht ungeschickt, aber den Loden muß man zwischen
Knie und Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später,
wenn du's einmal kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängen still
liegen, so wie bei mir da. Auf den Finger, mit dem die Nadel ein-
drückst — das ist der mittlere, der lange — mußt du einen Fingerhut
stecken, sonst kriegt deine Haut gerade so viele Löcher, als wie der
Loden. Den Zwirn mußt du mit Wachs glätten, sonst wird er fransig
und reißt. Die Stiche mußt im Loden so machen, daß einer über dem
andern reitet, das heißt man Hinterstiche — sonst klafft die Naht.
Und die Teile mußt du allemal so zusammennähen, daß du sie nicht
wieder voneinander zu trennen brauchst, wie dasmal. Und gibt es
schon doch einmal zu trennen, so mußt kein saures Gesicht dazu
machen, mein lieber Waldbauernbub. Empfindsam sein, das leidet unser
Handwerk nicht. Jeder Ochsenknecht wird dich meistern, und jeder
Halterbub wird dich ausspotten und wird dich fragen, ob du wohl das
Bügeleisen bei dir hättest, daß dich der Wind nicht verträgt, und wird,
solang’ er deiner ansichtig ist, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihm
die Freud’ und geh still und sittsam deiner Wege. Ein gescheiter
Mensch schämt sich nicht seines ehrlichen Handwerks, und ein Dummer
vermag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert nie aus, jede
Kundschaft hat einen andern Leib, jedes Jahr hat eine andre Mode;
da heißt’s nicht gerade Zuschneiden und Nähen, da heißt’s auch
denken, mein lieber Waldbauernbub. Aus dem tüchtigen Schneider
ist schon manch ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feld-
herr Derfflinger, der Wiedertäuferprophet Johann von Leyden sind
Schneider gewesen, in Amerika gibt es sogar eine Gattung von Schnei-
dern, welche Präsidenten von den Vereinigten Staaten werden. Ich
hab’ ein Büchel, das will ich dir einmal zeigen, da wirst alle berühmten
Schneider darin finden. Deswegen, Waldbauernbub, wenn du in dir
wirklich die Neigung und das Talent zu diesem Stande empfindest, so
bleibe da, und ich will dir lernen, was ich selber kann."
Ich neigte dankend mit dem Kopfe.
1905 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Scharf, Th., ,
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1900
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Unterrichtsanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
4
Meister in die Hand gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab
und sprach zu mir folgendes: „Waldbauernbub, ich hab' nur sehen
wollen, wie du die Sach' angreifst. Just nicht ungeschickt, aber den
Loden muß man zwischen Knie und Tischwand einzwängen, sonst liegt
er nicht still. Später, wenn du's einmal kannst, wird er wohl auch
ohne Einzwängen still liegen, so wie bei mir da. Auf den Finger,
mit dem du die Nadel eindrückst, mußt du einen Fingerhut stecken,
sonst kriegt deine Haut gerade so viel Löcher wie der Loden. Den
Zwirn mußt mit Wachs glätten, sonst wird er fransig und reißt. Die
Stiche mußt im Loden so machen, daß einer über dem andern reitet,
das heißt man Hinterstiche — sonst klafft die Naht. Und die Teile
mußt du allemal so zusammen nähen, daß du sie nicht wieder von-
einander zu trennen brauchst, wie dasmal. Und gibt es doch einmal
zu trennen, so mußt kein saures Gesicht dazu machen. Empfindsam
sein, das leidet unser Handwerk nicht. Jeder Ochsenknecht wird dick
meistern, und jeder Halterbub wird dich ausspotten und wird dich
fragen, ob du wohl das Bügeleisen bei dir hättest, daß dich der Wind
nicht verträgt, und wird, so lang' er deiner ansichtig ist, wie ein
Ziegenbock meckern. Laß ihm die Freud' und geh' still und sittsam
deiner Wege. Ein gescheiter Mensch schämt sich nicht seines ehrlichen
Handwerks, und ein Dummer vermag es nicht zu lernen. Der Schneider
studiert nie aus; jede Kundschaft hat einen andern Leib, jedes Jahr
hat eine andere Mode; da heißt's nicht gerade zuschneiden und nähen,
da heißt's auch denken. Aus dem tüchtigen Schneider ist schon manch'
ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feldherr Derfflinger ist
ein Schneider gewesen. Deswegen, Waldbauernbub, wenn du in dir
wirklich die Neigung und das Talent zu diesem Stande empfindest,
so bleibe da, und ich will dich lehren, was ich selber kann."
Ich nickte dankend mit dem Kopfe. Beim Weggehen sagte der
Alpelhofer zu mir: „Schneider werden, wie ist dir denn das ein-
gefallen? Alleweil in der finsteren Stuben sitzen; in den meisten
Häusern lasten die Leut' nicht einmal Luft zu den Fenstern hinein.
Wenn du meinst, daß du für Bauernarbeit zu gefüg' bist, hättest nicht
können was anderes werden? Jetzt bist einmal Schneider, so bleib'
dabei und schick' dich, und wenn dir das Kreuz weh' tut vom vielen
Sitzen, so denk' auf den da oben, der will's haben, daß der Mensch
mit Mühe und Not sein Brot verdient. Kreuzer wirst nicht in Über-
fluß gewinnen, als Lehrling schon gar nicht. Nur alles schön mit
Willen und Geduld, 's wird dir schon einmal besser gehen. In meinem
Haus hast heut' angefangen, so bin ich dir Pati für's Handwerk.
Wenn du ein Anliegen hast oder eine Klag', so komm' zu mir, und
nun alleweil wohlgemut!" R°s-gger.
4. Behmiguny.
1. Eines schickt sich nicht für alle.
Sehe jeder, wie er's treibe,
sehe jeder, wo er bleibe,
und wer steht, daß er nicht falle!
2. Willst du immer weiter schweifen?
Sieh! das Gute liegt so nah'.
Lerne nur das Glück ergreifen;
denn das Glück ist immer da.
Goethe.
1914 -
Metz
: Even
- Auflagennummer (WdK): 10
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
— 169 —
kriecht zusammen; dieses hält Farbe, das andere schießt ab.
Wer das vorher nicht weiß, der macht ein Unding zusammen.
Kurz, der Kleidermacher muß Menschen- und Weltkenner sein.
Na, werd' ihn mal anschauen; soll nächster Tage zum Bauer
Alpelhofer kommen, dort wird er mich finden.»
So bin ich denn an einem hellen Morgen hingegangen.
Lange stand ich auf dem Antrittstein der Haustür und dachte:
«Wie wird es sein, wenn ich „wieder heraustrete?» Da ich in
die Stube trat, saß der Meister am Tische und nähte. Ich
blieb an der Tür stehen. Er zog die Nadel auf und nieder; nur
die Wanduhr und mein Herz pochten. «Was willst du denn?»
fragte er mich nach einer Weile. .« Schneider möcht ich werden,»
antwortete ich zagend. — « So setz dich her, nimm Nadel und
Zwirn und nähe mir diesen Ärmling zusammen.» So tat ich;
— aber es ist leichter gesagt als getan. Da staken im Kissen
an die dreißig Nadeln aller Größen, da lagen Zwirnknäuel ver-
schiedener Feine und Farbe. Und die beiden Teile des Ärm-
lings, wie werden sie zusammengetan? Ich warf fragende Blicke
auf den Meister; aber der tat nicht, als wisse er mehr als ich.
So hub ich denn an, legte den Stoff aufs Knie und machte
einen Stich. Der Faden schlüpfte durch; der erste Stich war
mißlungen. Tief erglühend forschte ich der Ursache nach und
kam endlich darauf, daß von mir vergessen worden war, an den
Faden einen Knoten zu machen. Ich schlang also mit großer
Mühe ein Knötlein und nähte hierauf mit Erfolg, aber auch mit
Hindernissen. Es verdrehte sich der Zwirn, es staute sich die
Nadel am Finger, es verschob sich das Zeug und ließ sich mit
jedem Zuge hoch in die Lüfte ziehen, es riß sogar der Faden.
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß
mein Meister auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und
als ich endlich mit dem Ärmling fertig zu sein wähnte und mit
dem Auge fragte, was nun zu beginnen sei, antwortete er:
«Jetzt trenne den Ärmling wieder auf bis auf den letzten Stich
•und ziehe die Fäden sauber aus. Achtung geben mußt du nur,
daß du den Stoff nicht anschneidest.» Als ich das mit Angst
und Schmerz getan hatte und die Teile des Ärmlings wieder so
da lagen, wie sie der Meister mir in die Hand gegeben hatte,
ließ dieser von seiner Arbeit ab und sprach zu mir folgendes:
«Ich hab' nur sehen wollen, wie du die Sache angreifst. Just
nicht ungeschickt, aber den Stoff muß man zwischen Knie und
Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später, wenn
1905 -
Wittenberg
: Herrosé
- Hrsg.: Scharf, Th., ,
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1900
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Unterrichtsanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Berufsbildung
- Geschlecht (WdK): koedukativ
3
So bin ich denn am Erchtag in Heller Morgenfrüh zum Alpel-
hofer gegangen. Lange stand ich auf dem Antrittsstein der Haustür
und dachte: wie wird es sein, wenn ich wieder heraustrete? Eine fast
feierliche Stimmung lag um das Haus, das auf dem Berge zwischen
Eschen und Linden stand, und in dem die Entscheidung über mein
Schicksal getroffen werden sollte.
Als ich in die Stube eintrat, saß der Meister am Tisch und
nähte. Vor ihm lag das Handwerkszeug, daneben zugeschnittenes
Lodentuch, und an der Sitzbank hing das Bügeleisen.
„Gelobt sei Jesus Christus," flüsterte ich.
„In Ewigkeit," antwortete er mit milder, tiefer Stimme.
Ich blieb an der Tür stehen. Es war alles still. Er zog die
Nadel auf und nieder; nur die Wanduhr tickte, und mein Herz pochte
dem Augenblicke entgegen. „Was willst denn?" fragte mich nach einer
Weile der Meister. „Schneider werden möcht ich halt gern," ant-
wortete ich zagend. „So, bist du derselbe," sagte er und blickte eine
Weile auf mich her. „In Gottes Namen, geh's an. Setz' dich her,
nimm Nadel und Zwirn und nähe mir diesen Ärmling zusammen."
So tat ich — aber es ist leichter gesagt als getan. Da staken im
Kiffen an die dreißig Nadeln aller Größen, da lagen Zwirnknäuel ver-
schiedener Feine und Farbe. Und die beiden Teile des Ärmlings, wie
werden sie behandelt und zusammengetan? Ich warf fragende Blicke
auf den Meister, aber er tat nicht, als wisse er mehr als ich. So
hub ich denn an. Ich fädelte ein und legte den Loden aufs Knie
und machte einen Stich. Der Faden schlüpfte durch. Der erste Stich
war mißlungen. An den Wangen tief erglühend, forschte ich der Ur-
sache nach und kam endlich d'rauf, daß von mir vergeffen worden war,
in den Faden einen Knoten zu machen. Ich schlang also mit großer
Mühe ein Knötlein und beschäftigte all' meine zehn Finger dabei.
Hierauf nähte ich mit Erfolg, aber auch mit Hindernissen. Es ver-
wand und verdrehte sich der Zwirn, es staute sich die Nadel am
Finger, es verschob sich der Loden und ließ sich mit jedem Zug hoch
in die Lüfte ziehen, es riß sogar der Faden.
Mittlerweile kam der alte Alpelhofer in die Stube und rief:
„Zum Dünner, jetzt ist ein junger Schneider Herkommen!" „Ja," sagte
mein Meister. Wie mir dies Wörtlein wohlgetan hat! Im Voll-
bewußtsein meiner Ungeschicklichkeit hatte ich von Minute zu Minute
erwartet, daß der Meister mich fortschicken werde; aber dieses Ja war
wie eine Anerkennung und Einsetzung. „Das ist brav," sagte der
Alpelhofer und ging wieder davon.
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein
Meister auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hatte, und als ich
endlich mit dem Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge
fragte, was nun zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den
Ärmling wieder auf — bis auf den letzten Stich alles auf und ziehe
die Fäden sauber aus. Achtung geben mußt nur, daß du den Loden
nicht anschneidest! Als ich das mit Angst und Schmerz getan hatte
und die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie sie mir der
1908 -
Zweibrücken
: Kranzbühler
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Volksfortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
33
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein
Meister auch nur eine Silbe zu mir sprach, und als ich end-
lich mit dem Ärmel fertig zu sein wähnte und mit dem Auge
fragte, was nun zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den
Ärmel wieder auf und ziehe die Fäden sauber aus! Gib aber ja
acht, daß du den Stoff nicht anschneidest!“ Als die Teile des
Äimels wieder so dalagen, wie sie mir der Meister in die
Hand gegeben hatte, ließ er von seiner Arbeit ab und sprach
zu mir folgendes: „Ich hab’ nur sehen wollen, wie du die
Sache angreifst Just nicht ungeschickt, aber den Loden muß
man zwischen Knie und Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht
still. Später, wenn du’s einmal kannst, wird er wohl auch ohne
Einzwängen stilliegen, so wie bei mir da. Auf den Finger mußt du
einen Fingerhut stecken, sonst kriegt deine Hand gerade so viele
Löcher wie der Loden. Den Zwirn mußt du mit Wachs glätten, sonst
wird er fransig und reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß
einer über dem anderen reitet, das heißt man Hinterstiche, sonst
klafft die Naht. Die Teile mußt du so zusammennähen, daß du sie
nicht wieder voneinander zu trennen brauchst, und gibt es doch
einmal zu trennen, so mußt du kein saures Gesicht dazu machen;
empfindsam sein leidet unser Handwerk nicht. Jeder Ochsenknecht
wird dich ausspotten und dich fragen, ob du das Bügeleisen
bei dir hättest, daß dich der Wind nicht fortträgt, und wird, solange
er deiner ansichtig ist, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihm die
Freud’ und geh still und sittsam deiner Wege! Ein gescheiter Mensch
schämt sich nicht seines ehrlichen Handwerks und ein dummer
vermag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert nie aus; jede
Kundschaft hat einen anderen Leib, jedes Jahr hat eine andere Mode;
da heißt’s nicht bloß zuschneiden und nähen, da heißt’s auch denken,
mein lieber Bub’. Aus einem tüchtigen Schneider ist schon manch
ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feldherr Derfflinger
ist ein Schneider gewesen. Wenn du in dir wirklich die Neigung
empfindest zu diesem Stande, so will ich dich lehren, was ich selber
kann.“
Ich nickte dankend. Beim Weggehen sagte der Alpel-
hofer zu mir: „Schneider werden? wie ist dir denn das ein-
gefallen? Immer in der finsteren Stube sitzen; in den meisten
Häusern lassen die Leut’ nicht einmal Luft zu den Fenstern herein.
Wenn du meinst, daß du für die Bauernarbeit zu schwach wärest,
hättest du nicht können ein Almhalter werden oder so was, wo du
Lesebuch für die Volksfortbildungsschulen der Pfalz. Z
1910 -
Zweibrücken
: Kranzbühler
- Autor: Salzgeber, Franz
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Sonntagsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
33
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein
Meister auch nur eine Silbe zu mir sprach, und als ich end-
lich mit dem Ärmel fertig zu sein wähnte und mit dem Auge
fragte, was nun zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den
Ärmel wieder auf und ziehe die Fäden sauber aus! Gib aber ja
acht, daß du den Stoff nicht anschneidest!" Als die Teile des
Äimels wieder so dalagen, wie sie mir der Meister in die
Hand gegeben hatte, ließ er von seiner Arbeit ab und sprach
zu mir folgendes: „Ich hab’ nur sehen wollen, wie du die
Sache angreifst Just nicht ungeschickt, aber den Loden muß
man zwischen Knie und Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht
still. Später, wenn du’s einmal kannst, wird er wohl auch ohne
Einzwängen stilliegen, so wie bei mir da. Auf den Finger mußt du
einen Fingerhul stecken, sonst kriegt deine Hand gerade so viele
Löcher wie der Loden. Den Zwirn mußt du mit Wachs glätten, sonst
wird er fransig und reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß
einer über dem anderen reitet, das heißt man Hinterstiche, sonst
klafft die Naht. Die Teile mußt du so zusammennähen, daß du sie
nicht wieder voneinander zu trennen brauchst, und gibt es doch
einmal zu trennen, so mußt du kein saures Gesicht dazu machen;
empfindsam sein leidet unser Handwerk nicht. Jeder Ochsenknecht
wird dich ausspotten und dich fragen, ob du das Bügeleisen
bei dir hättest, daß dich der Wind nicht fortträgt, und wird, solange
er deiner ansichtig ist, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihm die
Freud’ und geh still und sittsam deiner Wege! Ein gescheiter Mensch
schämt sich nicht seines ehrlichen Handwerks und ein dummer
vermag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert nie aus; jede
Kundschaft hat einen anderen Leib, jedes Jahr hat eine andere Mode;
da heißt’s nicht bloß zuschneiden und nähen, da heißt’s auch denken,
mein lieber Bub’. Aus einem tüchtigen Schneider ist schon manch
ein hoher Herr hervorgewachsen. Der große Feldherr Derfflinger
ist ein Schneider gewesen. Wenn du in dir wirklich die Neigung
empfindest zu diesem Stande, so will ich dich lehren, was ich selber
kann."
Ich nickte dankend. Beim Weggehen sagte der Alpel-
hofer zu mir: „Schneider werden? wie ist dir denn das ein-
gefallen? Immer in der finsteren Stube sitzen; in den meisten
Häusern lassen die Leut’ nicht einmal Luft zu den Fenstern herein.
Wenn du meinst, daß du für die Bauernarbeit zu schwach wärest,
hättest du nicht können ein Almhalter werden oder so was, wo du
Lesebuch für die Sonnlagschulen de: Pfalz. > q
1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
51
seines Kunden, er muß auch seinen Charakter kennen lernen, muß,
sozusagen, das ganze Wesen erfassen, um ihm ein Kleid zu geben,
welches paßt! Und wie er den Menschen kennen muß, den er nach
außen hin vollendet, so muß er den Stoff kennen, von dem er den
Anzug zu verfertigen hat. Manches Tuch dehnt sich, manches? kriecht
zusammen, dieses hält Farbe, das andre schießt ab. Wer das von
vornherein nicht weiß, der macht ein Unding zusammen. Kurz, der
Kleidermacher muß Menschen- und Weltkenner sein." „Na," versetzte
am Ende der Meister, „werde ihn einmal anschauen! Mag nächster
Tage zum Alpeihofer kommen, dort wird er mich finden!“ . . .
2. So bin ich denn am nächsten Erchtag (Dienstag) in heller Mor-
genfrüh zum Alpelhofer gegangen. Lange stand ich auf dem Antritt-
stein der Haustür und dachte: Wie wird es sein, wenn ich wieder
heraustrete? Eine fast feierliche Stimmung lag um das Haus, welches
auf dem Berge zwischen Eschen und Linden stand, und in welchem die
Entscheidung meines Schicksals saß. Da ich in die Stube trat, saß der
Meister am Tisch und nähte. Vor ihm lag das Handwerkszeug, daneben
zugeschnittenes Lodentuch, und an der Sitzbank hing das Bügeleisen.
„Gelobt sei Jesus Christus," flüsterte ich. „In Ewigkeit," antwortete
er mit milder, sonorer Stimme. Ich blieb an der Tür stehen. Es war
alles still. Er zog die Nadel auf und nieder; nur die Wanduhr tickte,
und mein Herz pochte dem Augenblick entgegen.
„Was willst denn?“ fragte mich nach einer Weile der Meister.
„Schneider werden möcht’ ich halt gern," antwortete ich zagend. „So,
bist du derselbe," sagte er und blickte eine Weile auf mich her. „In
Gottes Namen, geh’s an. Setz dich her, nimm Nadel und Zwirn und
nähe mir diesen Ärmling zusammen.“
So tat ich — aber es ist leichter gesagt als getan. Da staken
im Kissen an die dreißig Nadeln aller Größen, da lagen Zwirnknäuel
verschiedner Feine und Farbe. Und die beiden Teile des Ärmlings, wie
werden sie behandelt und zusammengetan? Ich warf fragende Blicke
auf den Meister. Er tat nichts dergleichen, als wisse er mehr als
ich. So hub ich denn an. Ich fädelte ein und legte den Loden aufs
Knie und machte einen Stich. Der Faden schlüpfte durch. Der erste
Stich war mißlungen. An den Wangen tief erglühend, forschte ich
der Ursache nach und kam endlich darauf, daß von mir vergessen
worden war, in den Faden einen Knoten zu machen. Ich schlang also
mit großer Mühe ein Knötlein und beschäftigte alle meine zehn Finger
dabei. Hierauf nähte ich mit Erfolg, aber auch mit Hindernissen.
Es verwand und verdrehte sich der Zwirn, es staute sich die Nadel
am Finger, es verschob sich der Loden und ließ sich mit jedem Zug
hoch in die Lüfte ziehen, es riß sogar der Faden . . . Als ich ein
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1912 -
Halle a.S.
: Schroedel
- Autor: Steger, August, Wohlrabe, Wilhelm
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Mittelschule
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): offen für alle
52
seines Kunden, er muß auch seinen Charakter kennen lernen, muß,
sozusagen, das ganze Wesen erfassen, um ihm ein Kleid zu geben,
welches paßt! Und wie er den Menschen kennen muß, den er nach
außen hin vollendet, so muß er den Stoff kennen, von dem er den
Anzug zu verfertigen hat. Manches Tuch dehnt sich, manches, kriecht
zusammen, dieses hält Farbe, das andre schießt ab. Wer das von
vornherein nicht weiß, der macht ein Unding zusammen. Kurz, der
Kleidermacher muß Menschen- und Weltkenner sein." „Na,“ versetzte
am End.e der Meister, „werde ihn einmal anschauen! Mag nächster
Tage zum Alpeihofer kommen, dort wird er mich finden!" . . .
2. So bin ich denn am nächsten Erchtag (Dienstag) in heller Mor-
genfrüh zum Alpeihofer gegangen. Lange stand ich auf dem Antritt-
stein der Haustür und dachte: Wie wird es sein, wenn ich wieder
heraustrete? Eine fast feierliche Stimmung lag um das Haus, welches
auf dem Berge zwischen Eschen und Linden stand, und in welchem die
Entscheidung meines Schicksals saß. Da ich in die Stube trat, saß der
Meister am Tisch und nähte. Vor ihm lag das Handwerkszeug, daneben
zugeschnittenes Lodentuch, und an der Sitzbank hing das Bügeleisen.
„Gelobt sei Jesus Christus," flüsterte ich. „In Ewigkeit," antwortete
er mit milder, sonorer Stimme. Ich blieb an der Tür stehen. Es war
alles still. Er zog die Nadel auf und nieder; nur die Wanduhr tickte,
und mein Herz pochte dem Augenblick entgegen.
„Was willst denn?" fragte mich nach einer Weile der Meister.
„Schneider werden möcht’ ich halt gern," antwortete ich zagend. „So,
bist du derselbe," sagte er und blickte eine Weile auf mich her. „In
Gottes Namen, geh’s an. Setz dich her, nimm Nadel und Zwirn und
nähe mir diesen Ärmling zusammen."
So tat ich — aber es ist leichter gesagt als getan. Da staken
im Kissen an die dreißig Nadeln aller Größen, da lagen Zwirnknäuel
verschiedner Feine und Farbe. Und die beiden Teile des Ärmlings, wie
werden sie behandelt und zusammengetan? Ich warf fragende Blicke
auf den Meister. Er tat nichts dergleichen, als wisse er mehr als
ich. So hub ich denn an. Ich fädelte ein und legte den Loden aufs
Knie und machte einen Stich. Der Faden schlüpfte durch. Der erste
Stich war mißlungen. An den Wangen tief erglühend, forschte ich
der Ursache nach und kam endlich darauf, daß von mir vergessen
worden war, in den Faden einen Knoten zu machen. Ich schlang also
mit großer Mühe ein Knötlein und beschäftigte alle meine zehn Finger
dabei. Hierauf nähte ich mit Erfolg, aber auch mit Hindernissen.
Es verwand und verdrehte sich der Zwirn, es staute sich die Nadel
am Finger, es verschob sich der Loden und ließ sich mit jedem Zug
hoch in die Lüfte ziehen, es riß sogar der Faden . . . Als ich ein
1914 -
Metz
: Even
- Auflagennummer (WdK): 10
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
— 170 —
du’s einmal kannst, wird er auch wohl ohne Einzwängen still
liegen, so wie bei mir da. Auf den Finger mußt du einen Finger-
hut stecken, sonst kriegt deine Hand gerade so viele Löcher wie
der Stoff. Den Zwirn mußt du mit Wachs glätten, sonst wird
er fransig und reißt. Die Stiche mußt du so machen, daß
einer über den andern reitet, das heißt man Hinterstiche, sonst
klafft die Naht. Die Teile mußt du so zusammennähen, daß
du sie nicht wieder voneinander zu trennen brauchst, und gibt
es doch einmal zu trennen, so mußt du kein saures Gesicht
dazu machen; empfindsam sein leidet unser Handwerk nicht.
Verspotten dich törichte Leute und fragen dich, ob du das
Bügeleisen bei dir hättest, daß dich der Wind nicht fortträgt:
laß ihnen die Freude und geh still und sittsam deiner Wege.
Ein gescheiter Mensch schämt sich nicht seines ehrlichen Hand-
werks, und ein dummer vermag es nicht zu lernen. Der Schneider
studiert nie aus: jede Kundschaft hat einen andern Leib, jedes
Jahr hat eine andere Mode; da heißt’s nicht bloß zuschneiden
und nähen, da heißt’s auch denken, mein lieber Bub. Aus einem
tüchtigen Schneider ist schon manch ein hoher Herr hervor-
gewachsen. Der große Feldherr Derfflinger ist ein Schneider
gewesen. Deswegen, wenn du in dir wirklich die Neigung emp-
findest zu diesem Stande, so will ich dich lehren, was ich selber
kann.»
Ich neigte dankend den Kopf. Beim Weggehen sagte der
Alpeihofer zu mir: « Schneider werden? Wie ist dir denn das
eingefallen? Alleweil in der finstern Stube sitzen; in den meisten
Häusern lassen die Leute nicht einmal Luft zu den Fenstern
hinein. Wenn du meinst, daß du für die Bauernarbeit zu schwach
wärst, hättest du nicht können ein Almhalter werden oder so
was, wo du auf freier Weide gewesen wärest! Jetzt bist du ein-
mal Schneider, so bleib dabei und schick dich, und wenn dir
das Kreuz weh tut vom vielen Sitzen, so denk an den da oben,
der will's haben, daß der Mensch mit Müh’ und Fleiß sein Brot
verdient. Nur alles schön mit Willen und Geduld, so wird’s
schon gut gehen. In meinem Hause hast heut angefangen, so
bin ich dir der Pate fürs Handwerk, und wenn du ein Anliegen
hast oder eine Klage, so komm zu mir!»
In meiner Lehrzeit gab's wenig zu klagen. Ich hätte mein
Anliegen dem Alpeihofer auch nicht vorbringen können; denn
der gute Mann ist schon fünf Wochen nach meinem Eintritt
ins Handwerk gestorben. p. Rosegger.
1912 -
Essen Berlin
: Bachmann Baedeker
- Hrsg.: ,, Heinecke, August
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Niedere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Berufliche Bildungsgänge, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Gewerbliche Fortbildungsschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Die Berufswahl.
333
eines Abends über mich in der Stube des Waldbauern abgehalten wurde.
Meine Mutter ging zu dem Geistlichen, Hülfe heischend, daß ich in die Studie
(zum Studieren) kommen könnte. Der Herr Dechant sagte ihr aber: „Laß
die Waldbäuerin das bleiben I Wenn der Bub' sonst keine Anzeichen für den
Priester hat, als daß er schwach ist, so soll er was anderes werden." Nun, so
ging denn meine Mutter vom Herrn Dechanten zum Schneidermeister: sie
hätte einen Buben, der möcht' Schneider werden. — Was ihn auf diesen
Gedanken brächte? — Weil er halt so schwächlich wäre. Stand der Meister
auf und sprach: „Ich will der Waldbäuerin nur sagen, daß der richtige
Schneider ein kerngesunder Mensch sein muß. Einmal das viele Sitzen,
nachher zur Feierabendzeit das weite Gehen über Berg und Tal und das
ganze Zeug mitschleppen wie der Soldat seine Rüstung. Dann die ver-
schiedene Kost: bei einem Bauer mager, beim andern feist, in einem Hause
lauter Mehlspeisen, im andern wieder alles von Fleisch, heut' nichts als
Erdäpfel und Grünzeug, morgen wieder alles Suppen und Brei. Und
red' ich erst von den unterschiedlichen Leuten, mit denen man sich abgeben
mußl Da eine brummige Bäuerin, der kein ordentlicher Zwirn feil ist, dort
ein Bauer, der mit seinen närrischen Späßen den Handwerker erheitern und
satt machen will. All' die Leut' soll der Schneider mit einem Maß messen.
Und was die Hauptsache ist: Kopf muß einer haben! Was an einem krummen,
buckeligen, einseitigen Menschenkinde verdorben ist, das soll der Schneider
wieder gut machen. Der Schneider muß aber nicht allein den Körper seines
Kunden, er muß auch, so zu sagen, sein ganzes Wesen erfassen, um ihm ein
Kleid zu geben, welches paßt. Und ebenso muß er den Stoff kennen, von
dem er den Anzug zu verfertigen hat. Manches Tuch dehnt sich, manches
kriecht zusammen; dieses hält Farbe, das andere schießt ab. Wer das vorher
nicht weiß, der macht ein Unding zusammen. Kurz, der Kleidermacher muß
Menschen- und Weltkenner sein (s. Nr. 171). Na, werd' ihn 'mal anschauen;
soll nächster Tage zum Alpelhofer kommen, dort wird er mich finden!"
2. So bin ich denn an einem Hellen Morgen hingegangen. Lange stand
ich auf dem Antrittstein der Haustür und dachte: „Wie wird es sein, wenn
ich wieder heraustrete?" Da ich in die Stube trat, saß der Meister am
Tische und nähte. Ich blieb an der Tür stehen. Er zog die Nadel auf und
nieder; nur die Wanduhr und mein Herz pochten. „Was willst du denn?"
fragte mich nach einer Weile der Meister. „Schneider werden möcht' ich halt
gern," antwortete ich zagend. — „So setz dichter, nimm Nadel und Zwirn
und nähe mir diesen Ärmling zusammen!" So tat ich; aber es ist leichter
gesagt als getan. Da staken im Kissen an die dreißig Nadeln aller Größen,
da lagen Zwirnknäuel verschiedener Feine und Farbe. Und die beiden Teile
des Ärmlings, wie werden sie zusammeugetan? Ich warf fragende Blicke
auf den Meister; aber der tat nicht, als wisse er mehr als ich. So hub ich
denn an, legte den Lodenstoff aufs Knie und machte einen Stich. Der Faden
schlüpfte durch; der erste Stich war mißlungen. Tief erglühend forschte ich
der Ursache nach und kam endlich darauf, daß von mir vergessen worden
war, an den Faden einen Knoten zu machen. Ich schlang also mit großer
Mühe ein Knötlein und nähte hierauf mit Erfolg, aber auch mit Hinder-
nissen. Es verwand und verdrehte sich der Zwirn; es staute sich die Nadel
am Finger; es verschob sich das Zeug und ließ sich mit jedem Zuge hoch in
die Lüfte ziehen; es riß sogar der Faden.
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein Meister