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1. Deutsche Prosa - S. 142

1900 - Gera : Hofmann
142 Bernhard ten Brink. Bretterwelt hinausdrang. Und auch hier bietet seine Biographie uns charakteristische Zuge, die uns in sein Inneres einen Blick werfen lassen. Vom Jahre 1592 bis zum Jahre 1599 sehen wir den Dichter die Höhe seiner Kunst ersteigen und zugleich in der Kunstwelt und in der Gesellschaft sich eine gesicherte, allgemein anerkannte Stellung erobern. Im ersten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts schafft er dann seine tiefsten, großartigsten Werke. Aber noch bevor er den Höhepunkt erreicht, sehen wir ihn die ersten Schritte thun, um sich für seine späteren Jahre in seiner Geburtsstadt ein ruhiges Heim zu bereiten. Shakspere hatte in London die Heimat und die Seinigen nie aus den Augen verloren; sobald er es vermochte, hatte er die Seinigen an seinem beginnenden Wohlstand teilnehmen lassen, zweifellos auch häufiger sie auf längere oder kürzere Zeit besucht. Bereits i. I. 1597 aber begann er sich in Stratford anzukaufen, den Plan vorzubereiten, den er dann nicht wieder fahren ließ. Und gegen das Jahr 1609 — etwas früher oder später — gelangte der lange gehegte Lieblingsgedanke endlich zur Verwirk- lichung. Der Dichter verließ die Bühne und die Großstadt und zog sich nach seiner stillen Heimat, zu Wald und Wiese, zu Frau und Kindern und Enkelin zurück, um die ihm noch beschiedenen Tage in edler Muße und ruhig beschaulichem Genuß zu verleben. So schloß sich das Ende seines Lebens wieder dem Anfang an zur schönen Voll- endung des Kreislaufes. Shaksperes Leben, mit dem seiner dramatischen Zeitgenossen ver- glichen, ist ebenso singulär, wie seine Werke sich unter den ihrigen ausnehmen. Der einzige unter ihnen, der keine akademische Erziehung genossen, der in einfachen Verhältnissen, in vertrautem Verkehr mit der Natur groß geworden, seine Bildung mehr dem Leben als der Schule ver- dankte. Früher als einer von den andern hatte Shakspere seine Zu- kunft gestaltet in einer Weise, die nichts Großes für ihn erhoffen ließ. Aber das, woran ein anderer zu Grunde gegangen wäre, wurde ihm nur ein Sporn, ein neues Lebensblatt mit frischem Mut zu beginnen. Enger als irgend einer seiner dramatischen Nebenbuhler schloß Shakspere sich in London dem Bühnenleben an. Aber weit entfernt, in dem lockeren Getriebe, wie so viele andere, an Seele und Leib zu Grunde zu gehen, erwuchs er zum Mann, zum Künstler und Dichter, zur geistigen und auch zur materiellen Selbständigkeit und Unabhängig- keit. — Wohlhabend, angesehen, berühmt, verließ er dann in der Kraft seiner Jahre das Theater und die Großstadt, um als Landedelmann in der Heimat seine Tage zu beschließen.

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1. Für Ober-Sekunda und Prima - S. 168

1911 - Leipzig : Dürr
168 Prosal,est Vii, ein ruhiges Heim zu bereiten. Shakespeare hatte in London die Heimat und die Seinigen nie aus den Augen verloren; sobald er es vermochte, hatte er die Seinigen an seinem beginnenden Wohlstand teilnehmen lassen, zweifellos auch häufiger sie auf längere oder kürzere Zeit besucht. Bereits im Jahre 1597 aber begann er sich in Stratford anzukaufen, den Plan vorzubereiten, den er dann nicht wieder fahren ließ. Und gegen das Jahr 1609 — etwas früher oder später — gelangte der- lange gehegte Lieblingsgedanke endlich zur Verwirklichung. Der Dichter verließ die Bühne und die Großstadt und zog sich nach seiner stillen Heimat, zu Wald und Wiese, §u Frau und Kindern und Enkelin zurück, um die ihm noch beschiedenen Tage in edler Muße und ruhig beschau- lichem Gennß zu verleben. So schloß sich das Ende seines Lebens wieder dem Anfang an, zur schönen Vollendung des Kreislaufes. Shakespeares Leben, mit dem seiner dramatischen Zeitgenossen ver- glichen, ist ebenso einzigartig, wie seine Werke sich unter den ihrigen aus- nehmen. Er ist der einzige unter ihnen, der keine akademische Erziehung genossen hat, der in einfachen Verhältnissen, in vertrautem Verkehr mit der Natur groß geworden ist, seine Bildung mehr dem Leben als der Schule verdankte. Früher als einer von den anderen hatte Shakespeare dem Ansehen nach seine Zukunft gestaltet: in einer Weise, die nichts Großes für ihn er- hoffen ließ. Aber das, woran ein anderer zugrunde gegangen wäre, wurde ihm nur ein Sporn, ein neues Lebensblatt mit frischem Mut zu beginnen. Enger als irgendeiner seiner dramatischen Nebenbuhler schloß Shakespeare sich in London dem Bühnenleben an. Aber weit entfernt, in dem lockeren Getriebe, wie so viele andere, an Seele und Leib zu verderben, erwuchs er zum Manne, zum Künstler und Dichter, zur geistigen und auch zur materiellen Selbständigkeit und Unabhängig- keit. Wohlhabend, angesehen, berühmt, verließ er dann in der Kraft seiner Jahre das Theater und die Großstadt, um als Landedelmann in der Heimat seine Tage zu beschließen. 16. Warum liât Molière keine „Jugenddramen" geschaffen! Max I. Wolfs, Molière, Der Dichter und sein Werk. (München 1910, C. H. Becksche Verlagsbuchh.) Es ist erstaunlich, in wie späten Jahren Moliöres dichterische Be- gabung zum Durchbruch kam. Wenn wir die undatierten, unselbständigen, und ihrer Autorschaft nicht einmal sicher beglaubigten, kleinen Jugend- schwänke außer acht lassen, so ist der „Étourdi“ sein erstes Werk, und damals zählte der Verfasser mehr als dreißig Jahre. Und selbst diesem Drama fehlen die eigentlich jugendlichen Züge, es ist kein Gemisch von äußerer Unfertigkeit und innerer Genialität wie Goethes „Gvtz", Schillers

2. Deutsche Prosa - S. 141

1900 - Gera : Hofmann
Shakspere, der Dichter und der Mensch. 141 -seinem feinen Beobachtungssinn, seiner bereits reichen inneren Erfahrung, seinem Lerneifer, seiner Aufnahme- und Begeifterungsfähigkeit — und vor allem mit jener unverwüstlichen Kraft, jener Gewandtheit und Aus- dauer, die ihn im Kampf des Lebens, auch wo er strauchelte, niemals zu Falle kommen ließ. Damals ist Shakspere der Sinn für Geschichte und Politik erst recht aufgegangen; damals hat er die Lücke seiner litterarischen Bildung ausgefüllt und nicht nur die Schriftsteller seiner eigenen Nation, sondern auch manche große Geister der alten Welt und des Auslandes — zumal Italiens — wenn auch zum großen Teil nur aus zweiter Hand, in Übersetzungen und Nachbildungen kennen gelernt. Damals ist Shakspere sich klar geworden über seinen eigentlichen Beruf und ist demjenigen Institut zugeführt worden, dessen Zukunft mit der seinigen unzertrennlich verbunden war. Ohne Zweifel hat Shakspere, wie die Tradition uns lehrt, beim Theater von der Pike auf gedient und sich erst allmählich zu einer höheren Stellung als Schauspieler und als Schauspieldichter emporgeschwungen. Bereits im Jahre 1592 gilt er für das Faktotum der Gesellschaft, der er angehörte. Unter den zahlreichen Thorheiten, welche die Baconianer sich zu Schulden kommen lassen, ist die größte wohl die, daß sie die Größe und Tiefe seiner Dichtungen mit seiner Stellung als Schauspieler und Schauspielunternehmer nicht vereinbar finden. Als ob der größte Dramatiker aller Zeiten ohne die genaueste Kenntnis der Bühne, wie sie nur durch vieljährige Praxis erworben wird, auch nur zu denken wäre. Und wie zeigt sich Shakspere mit der Bühne verwachsen! — wie liebt er es, das Leben unter dem Bild des Schauspiels und umge- kehrt wieder das Schauspiel unter dem Bild des Lebens anzuschauen! Wie genau kennt er die Leistungsfähigkeit des Schauspielers und die Bedürfnisse des Zuschauers! — Warum giebt es bei Shakspere keine undankbaren Rollen? Warum wirken auch die üppige Fülle der Diktion und die verschlungenen Gänge von tiefer Reflexion bei ihm dramatisch? — Weil er die Bühne kennt, weil er, indem er seine Scenen schreibt, nicht nur seine Gestalten lebendig vor sich sieht, den Ton ihrer Stimme hört, ihr Mienenspiel und ihre Gesten sieht, sondern weil manchmal sogar diese Gestalten vor seinem geistigen Auge die vertrauten Züge bestimmter Schauspieler au sich tragen. Das, was Shaksperes Werken ihr einzigartiges Gepräge auf- drückt, jene Verbindung von tiefstem, unvergänglichem Gehalt und höchster momentaner Wirksamkeit, erklärt sich eben nur daraus, daß der Dichter der Bühne ganz und gar angehörte, in seiner Thätigkeit für das Theater seinen Lebensberuf antrat und doch wieder mit seinem Denken und Sinnen weit über den begrenzten Horizont der leichten

3. Deutsche Prosa - S. 129

1900 - Gera : Hofmann
Bernhard ten Brink. 129 Shakspere, der Dichter und der Mensch. (Gekürzt?) 1888. Bernhard ten Brink, Shakspere. Fünf Vorlesungen ans dem Nachlaß. 2. Anst. (Straßburg, Trübner.) 1894. .... Es liegt in meinem Plan, in diesen Vortrügen der Reihe nach die wichtigen Probleme zu berühren, welche durch die Erscheinung Shakspere angeregt werden. Recht in das Herz des Gegenstandes wollen wir einzudringen versuchen — in den Entwicklungsgang des Dichters, in die verschiedenen Seiten, welche sein entwickeltes Denken, Wollen und Können der Betrachtung darbietet. In erster Linie haben wir die Frage zu erörtern, die seit einer Reihe von Jahren zu einer brennenden geworden ist: „das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Menschen" oder, wie wir die Frage auch formulieren könnten, die Möglichkeit der Identität zwischen dem Dichter und dem Menschen Shakspere. Es ist nicht erst seit gestern, daß man von einem Shakspere- mythus zu reden begonnen hat; aber wer diesen Ausdruck heute an- wendet, der denkt dabei an etwas ganz anderes als vor dreißig bis vierzig Jahren . . . Es wird Ihnen ja bekannt sein, daß gegenwärtig nicht etwa von einem, sondern von einer ganzen Anzahl von Schriftstellern — zumal in England und Amerika — der Satz verfochten wird, daß der große Dichter, den wir studieren und verehren, mit Unrecht den Namen Shakspere führt, daß Hamlet, Macbeth, Othello, Lear und was noch sonst das Siegel dieses einzigen Geistes trügt und uns als Shaksperes Werk überliefert ist, einen ganz andern Urheber hat als jenen William Shakspere, der im Jahre 1564 zu Stratford am Avon geboren wurde, sich dort in jugendlichem Alter verheiratete und Kinder zeugte, der später nach London ging, als Schauspieler und Schauspielunternehmer sein Glück machte und im Jahre 1616 in seiner Heimat starb: jene historisch ausreichend identifizierte Persönlichkeit sei in keiner Weise für den Schöpfer zu halten jener herrlichen Dramen, welche das Entzücken von Gelehrten und Ungelehrten bilden. Er habe diese Werke höchstens für die Bühne etwas zugerichtet, im übrigen aber nur seinen Namen dazu hergegeben, den wahren Autor zu verdecken. . . . Wenn wir den historischen Shakspere für den Dichter der Werke halten, die seinen Namen tragen, so thun wir dies in Übereinstimmung mit einer beinahe dreihundertjährigen Tradition, welche sich auf eine solche Fülle von glaubwürdigen zeitgenössischen Zeugnissen stützt, wie *) *) Die Bacon-Theorie ist im Original etwas ausführlicher behandelt. M. Henschke, Deutsche Prosa. 9

4. Deutsche Prosa - S. 138

1900 - Gera : Hofmann
138 Bernhard ten Brink. Aber auch an historischen Erinnerungen fehlte es Warwickshire nicht. Mächtige Denkmäler aus der Römerzeit, die man im 16. Jahr- hundert für Werke der Briten ansah, Städte und Örter, an die sich der Name berühmter Geschlechter, die Kunde von großen Begebenheiten, gewaltigen Schlachten knüpfte, waren hier in Fülle vorhanden. Be- sonders die traurige Zeit, wo die Häuser Lancaster und Jork in blutiger Fehde die englische Aristokratie dezimierten und das Land verwüsteten, die Zeit der Rosenkriege, stand den Bewohnern jener Grafschaft noch in lebendigster Erinnerung. Der große Held der Rosenkriege war der fünfte Graf von Warwick, Richard Beauchamp, und ein anderer Graf von Warwick, Richard Neville, ist als der Königsmacher auch uns aus Historie und Dichtung wohlbekannt. War es ein Wunder, wenn jene Periode der englischen Geschichte, von der seine Heimat ihm vor allen anderen erzählte, zugleich diejenige, welche Eduard Hall in seiner Chronik behandelt hatte, Shakspere gleich im Beginn seiner dramatischen Laufbahn zur Darstellung und künstlerischen Bewältigung reizte? Es ist nicht gleichgültig, wo ein Mensch, zumal ein Genie, geboren wird, ob er einem schon verbrauchten oder einem lebensfrischen Volks- stamm entsprießt, welche Luft er in seiner Kindheit atmet, welche Lieder ihm an der Wiege gesungen wurden. Und so mag es kein Zufall sein, daß Shakspere in Warwick geboren wurde; es mag ein Zusammenhang zwischen seiner Herkunft und der eigentümlichen Richtung seines Genius vorhanden sein. Shak- spere ist seit der altenglischen Periode der erste unter den großen eng- lischen Dichtern, in dem das germanische Element sich mit übermächtiger Gewalt wieder geltend macht und alles, was an ausländischen Bildungs- elementen vom Nationalgeist aufgenommen war, in seinen Dienst zwingt. Bei ihm erklingt zum erstenmal wieder dieser erschütternde Ton tiefster Empfindung, findet sich diese einfach kühne Art des dichterischen Aus- drucks, welche ohne Vorbereitung und ohne Vermittelung — scheinbar ohne jeden Aufwand künstlerischer Mittel — uns plötzlich mitten in die Sache hinein versetzt, mit einem Wort: das Stimmungsvolle, das ein Hauptmerkmal germanischer Poesie ist. — Shaksperes Knabenjahre scheinen sehr glückliche gewesen zu sein. Wie auf ein verlorenes Paradies blickt der Dichter im späteren Leben auf jene Tage der Unschuld, jugendlicher Freuden und jugendlicher Freundschaft zurück, die Zeit, wo er nicht weiter vorwärts dachte, als: „folch ein Tag wie heut' sei morgen auch, und daß er ewig Knabe bleiben werde," wo er mit feinen Spielgenossen „Unschuld für Unschuld tauschte" und sich nicht träumen ließ, „man thäte Böses" in der Welt. — Die schöne Zeit währte nur kurz.

5. Deutsche Prosa - S. 131

1900 - Gera : Hofmann
Shakspere, der Dichter und der Mensch. 131 griffene. Die verschiedenen Werke zeigen nns den Einen Dichter von verschiedenen Seiten, auf verschiedenen Stufen geistiger und moralischer Reife, von verschiedenen Ideen erfüllt, verschiedenen Stimmungen unter- worfen. — Nimmt man nun zu dem Bild des Dichters, das uns seine Werke enthüllen, hinzu, was man von feinen äußeren Lebensumständen weiß, von den Bedingungen, den Einflüssen, unter denen er aufwuchs und sich entwickelte — so wird die Aufgabe wiederum komplizierter, aber auch um so lohnender: es handelt sich jetzt darum, die Einheit des Lebens und der Werke zu finden. Die Lösung, soweit sie erreicht wird, bildet die Anschauung (denn in Begriffe läßt sich derartiges nicht fassen) von einem bestimmten geistigen Individuum in seiner Entwicklung. Diese Aufgabe nun ist, auf Shakspere angewendet, mit ganz außerordentlichen Schwierigkeiten verknüpft, vornehmlich aus zwei Gründen: einmal wegen der Größe seines Genius, und dann, weil wir von seinem Leben so wenig wissen, und was wir davon wissen, nicht von der Art ist, daß es zu der ungeheuern geistigen Bedeutung des Mannes irgend ein Verhältnis zu haben scheint. Einer roheren sinn- lichen Auffassung, die sich das geistig Große nur in Gestalt eines Ge- waltigen der Erde zu denken vermag, wird dieser Umstand besonders hinderlich. — Shaksperes äußeres Leben hat nichts von dem Glanz und dem Ansehen, mit dem man den Urheber dieser Werke gerne um- kleidet sehen möchte; und dabei vergißt man, daß diese Werke selber an unzähligen Stellen uns die Lehre predigen (man denke nur an die Kästchen-Wahl im Kaufmann von Venedig), daß gerade die unschein- barste Hülle oft den köstlichsten Inhalt in sich schließt; dabei übersieht man, daß der Eindruck, den jeder feinere Beobachter von diesen Dich- tungen davonträgt, vor allem der ist, daß sie viel mehr leisten als sie versprechen, und daß man sich ihren Verfasser auch nur als einen Mann denken kann, in dessen äußerer Erscheinung, Haltung, Lebens- stellung, seine innere Bedeutung nur sehr unvollkommen zum Ausdruck gelangte. Auf dieser Sachlage aber: auf der Schwierigkeit, die Einheit von Shaksperes Leben und Werken zu finden, beruht es wesentlich, wenn die Bacon-Theorie — ich sage nicht: überhaupt entstanden ist, sondern solche Verbreitung hat finden können. Und an diesem Punkt soll unsere Betrachtung einsetzen. Wir wollen versuche::, einen Weg zu finden, der uns dahin führt, jene Einheit wenigstens als eine denkbare, eine mögliche zu fassen. Den Schleier zu lösen, der das Geheimnis des Genius ver- hüllt, dürfen wir ninimer zu hoffen wagen. Das Wunder, welches in der Erscheinung William Shaksperes gegeben ist, wird sich niemals aufhellen lassen. Aber "bleibt nicht in allen ähnlichen Fällen nach allem, was zur Erklärung geschehen sein mag, das eigentliche Wunder

6. Deutsche Prosa - S. 140

1900 - Gera : Hofmann
140 Bernhard ten Brink. suchen wir uns Shaksperes Lage während der in Betracht kommenden Jahre lebhaft zu vergegenwärtigen, so kommen wir zu der Überzeugung, daß er in verhältnismäßig kurzer Frist die ganze Stufenleiter der Stimmungen und Gefühle, vom glühendsten Rausch der Leidenschaft bis zum fröstelnden Jammer blasser Enttäuschung, von der höchsten Freude bis zum tiefsten Weh durchkostet hat — und daß von dieser Zeit an die Epoche datieren muß, wo seine Kenntnis der Welt und des menschlichen Herzens und ebenso seine Sympathie mit menschlichen Leiden und Freuden sich zu vertiefen begann. Und nun kam Shaksperes Gang oder, wenn Sie so wollen, Flucht nach London. Zu Anfang des Jahres 1585 hatte sich seine Familie um ein Zwillingspaar vermehrt: Hamlet und Judith, die am 2. Februar getauft wurden. Man darf vermuten, daß William nicht lange darauf die Heimat verlassen hat, um in der Hauptstadt sein Glück zu versuchen. Der Zeitpunkt jener Hedschra ist uns nicht genauer be- kannt, denn an dieser Stelle klafft in der Biographie des Dichters eine große Lücke. Bis zum Jahre 1592 fehlen uns alle und jede Nach- richten über ihn — und das erste, was wir dann über ihn hören, zeigt uns, daß er in London und in seinem neuen Wirkungskreis ganz und gar festen Fuß gefaßt hat. — Die Zeit von Shaksperes Ankunft in der englischen Hauptstadt bis zum Jahre 1592, die wir nur mittelst Kombination und Phautasiegebilden auszufüllen vermögen, muß in dem Leben des Dichters von der höchsten Bedeutung und größten Tragweite gewesen sein. In jene Zeit fällt sein eigentliches Ringen mit der Welt, mit dem Schicksal — in jene Zeit fallen zweifellos neue schwere Kämpfe, die Shakspere gegen sich selber zu bestehen hatte — alles Krisen, aus denen er nicht unversehrt, jedoch siegreich und innerlich erstarkt und gereift hervorging. — In jene Zeit fällt die ungeheure Erweiterung seines geistigen Horizonts, wie sie der Übergang aus der Stratforder Enge und Stille auf den lauten Markt des englischen Lebens für den Dichter im Gefolge hatte. — Und hier müssen wir uns die große geschichtliche Epoche vergegenwärtigen, in der England sich seiner europäischen Mission bewußt wurde, und wo es zu gleicher Zeit die Arme nach der neuen transatlantischen Welt auszustrecken begann; die Zeit, wo die Wogen des englischen Volkslebens so hoch gingen und das Nationalgefühl eine so ungeheure Steigerung erfuhr; die Zeit, wo England auch in der jungen Wissenschaft des geistig erneuerten Europas seinen Platz sich zu erobern begann, und wo die englische Dichtung einen Flug wagte, wie nie zuvor, sich zu Höhen emporschwang, die sie auch später nicht wieder erreicht hat. In jener Epoche haben wir uns den jungen Provinzler auf das Pflaster der großen Hauptstadt versetzt zu denken — mit seiner naturwüchsigen Art, seiner geistigen Frische,

7. Deutsche Prosa - S. 134

1900 - Gera : Hofmann
134 Bernhard ten Brink. Wie wohlthätig auf ein so organisiertes Wesen eine Jugend wirken mußte, die ihn in stets erneuerte Berührung, in innigen Verkehr mit der Natur brachte, leuchtet ein. Das Landleben mit seiner erfrischenden, stählenden Luft vermochte dieser feinen Organisation seine Gesundheit zu erhalten, in ihr jene Kraft zu entwickeln, die bei einer mehr treib- hausartigen Erziehung vielleicht frühzeitig verkümmert wäre. Das ruhige Behagen eines so zu sagen patriarchalischen Zustandes schützte dieses gar so zart besaitete Gemüt, dieses gar zu feinfühlige Wesen vor einer vorschnellen Entwicklung seiner Triebe und Anlagen, einer Entwicklung, die es aller Wahrscheinlichkeit nach einem Zustand fieber- hafter Überspannung entgegengeführt hätte, in der es, wie so viele, zumal dramatische Talente zu Grunde gegangen wäre. Und ferner: jener vertraute Verkehr mit der Natur, zu der ihn das Leben in Stratford einlud, bildete schließlich die beste Schule für seinen Geist, für sein noch schlummerndes Genie. Nicht nur wurden seine Sinne, seine Beobachtungsgabe dadurch geschärft; er verdankt ihm unendlich viel mehr. Dem sinnigen, höherer Entwicklung fähigen Menschen trägt die Natur auf Schritt und Tritt Wunder entgegen — Wunder primitiver Art und darum dem Standpunkt der Kindheit an- gemessener und eher als solche erscheinend, denn die im Leben des Geistes sich vollziehenden. Auf Schritt und Tritt werden Fragen an- geregt; auch das Kleinste, Unwahrscheinlichste giebt sich liebevoller Be- trachtung als ein in sich abgeschlossenes, in seinen Schranken vollendetes Wesen zu erkennen — und wiederum erkennt man hier leichter den Zusammenhang aller Wesen, die Bedingtheit des einen durch das andere. In das Buch der Natur that Shakspere in seiner Heimat einen tiefen Blick. Nicht nur wurde sein ästhetischer Sinn von der Schön- heit der ihn umgebenden Landschaft gefesselt; nicht nur lernte er, was sich seinen Augen darbot, in ein Gesamtbild fassen und festhalten — wie denn in seiner Dichtung zu wiederholten Malen die Erinnerung an seine Heimat, an den sanft fließenden, durch grüne Wiesen, dunkle Banmgrnppen, an schönen Obstgärten entlang sich schlängelnden Avon wiederkehrt. Auf jede Einzelheit des vor ihm stehenden Bildes lernte er den Blick lenken: jede Blume, jedes Kraut, jedes Tier erregte sein Interesse; mit allem, was ihn umgab, machte er sich aufs genaueste vertraut. Hier bethätigte und entwickelte sich jene universelle Sympathie, die der Dichter der gesamten Schöpfung entgegenträgt, hier ist zu- gleich die Grundlage jener ausgebreiteten Naturkenntnis, von der seine Werke Zeugnis ablegen, die dem Botaniker, dem Zoologen, dem Physio- logen, jedem auf seinem Standpunkt Erstaunen und Bewunderung ab- ringt, ihnen die Vermutung nahe legt, Shakspere müsse jeden dieser

8. Für Ober-Sekunda und Prima - S. 167

1911 - Leipzig : Dürr
167 B. ten Brink, Shakespeare, der Dichter und der. Mensch. gefüllt und nicht nur die Schriftsteller seiner eigenen Nation, sondern auch manche große Geister der alten Welt und des Auslandes — zumal Italiens — wenn auch zum großen Teil nur aus zweiter Hand, in Übersetzungen und Nachbildungen, kennen gelernt. Damals ist Shake- speare sich klar geworden über seinen eigentlichen Beruf und ist dem- jenigen Institut zugeführt worden, dessen Zukunft mit der seinigen un- zertrennlich verbunden war. Ohne Zweifel hat Shakespeare, wie die Tradition uns lehrt, beim Theater von der Pike aus gedient und sich erst allmählich zu einer höheren Stellung als Schauspieler und als Schanspieldichter emporgeschwungen. Bereits im Jahre 1592 gilt er für das Faktotum der Gesellschaft, der er angehörte. Unter den zahlreichen Torheiten, welche die Baeonianer sich zu- schulden kommen lassen, ist die größte wohl die, daß sie die Größe und Tiefe von Shakespeares Dichtungen mit seiner Stellung als Schau- spieler und Schauspielnnternehmer nicht vereinbar finden. Als ob der größte Dramatiker aller Zeiten ohne die genaueste Kenntnis der Bühne, wie sie nur durch vieljährige Praxis erworben wird, auch nur zu denken wäre. Und wie zeigt sich Shakespeare mit der Bühne verwachsen, wie liebt er es, das Leben unter dem Bilde des Schauspiels und um- gekehrt wieder das Schauspiel unter dem Bilde des Lebens anzuschauen! Wie genau kennt er die Leistungsfähigkeit des Schauspielers und die Bedürfnisse des Zuschauers! Warum gibt es bei Shakespeare keine un- dankbaren Rollen? Warum wirkt auch die üppige Fülle der Diktion und der verschlungene Gang tiefer Reflexion bei ihm dramatisch? Weil er die Bühne kennt, weil er, indem er seine Szenen schreibt, nicht nur seine Gestalten lebendig vor sich sieht, den Ton ihrer Stimme hört, ihr Mienenspiel und ihre Gesten sieht, sondern weil manchmal sogar diese Gestalten vor seinem geistigen Auge die vertrauten Züge be- stimmter Schauspieler an sich tragen. Das, was Shakespeares Werken ihr einzigartiges Gepräge aufdrückt, jene Verbindung von tiefstem, unvergänglichem Gehalt und höchster momentaner Wirksamkeit, erklärt sich eben nnr daraus, daß der Dichter der Bühne ganz und gar angehörte, in seiner Tätigkeit für das Theater seinen Lebensbernf antrat und doch wieder mit seinem Denken und Sinnen weit über den begrenzten Horizont der leichten Bretterwell hinausdrang. Und auch hier bietet seine Biographie uns charakteristische Züge, die uns in sein Inneres einen Blick werfen lassen. Vom Jahre 1592 bis zum Jahre 1599 sehen wir den Dichter die Höhe seiner Kunst er- steigen und zugleich in der Kunstwelt und in der Gesellschaft sich eine ge- sicherte, allgemein anerkannte Stellung erobern. Im ersten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts schafft er dann seine tiefsten, großartigsten Werke. Aber noch bevor er den Höhepunkt erreicht, sehen wir ihn die ersten Schritte tun, um sich für seine späteren Jahre in seiner Geburtsstadt

9. Deutsche Prosa - S. 139

1900 - Gera : Hofmann
Shakspere, der Dichter und der Mensch. 139 Um die Zeit, wo Shakspere — ein vierzehnjähriger Knabe — die Schule verlassen haben mag, begann der Horizont seines Lebens sich mählich zu verfinstern. Es war zuerst der Wohlstand seiner Familie, der ins Schwanken geriet, um dann zu sinken, tiefer und immer tiefer zu sinken. Wir können die traurige Entwicklung der Dinge, welche die Familie Shakspere in Armut stürzte und um ihr Ansehen brachte, ihr Haupt John Shakspere seiner Aldermanswürde verlustig gehen ließ und endlich seiner persönlichen Freiheit beraubte, in Stratforder Urkunden deutlich genug verfolgen, vom Jahre 1578 bis zum Jahre 1587, wo die Entwicklung ihren Höhepunkt, jedoch noch immer nicht ihren Abschluß erreicht. In eben diese Zeit fällt jene Krisis in Shaksperes Leben, welche den Übergang aus den Knaben- in die Jünglingsjahre bezeichnet: das Erwachen jugendlicher Sehnsucht und Leidenschaft; die erste Jugendliebe mit ihren Träumereien, ihrer Schwärmerei — diesmal leider auch mit ihren Verirrungen, ihren für das ganze Leben bestimmenden Folgen. Im November 1582 ist William Shakspere im Begriff, sich zu verheiraten — er, der Achtzehnjährige, mit einem um acht Jahre älteren Mädchen — im Begriff, sich zu verheiraten, wie es scheint, ohne Ein- willigung seiner Eltern; bemüht, beim Bischof von Worcester die Er- laubnis zu seiner Vermählung mit Anna Hathaway zu erwirken. Bald daraus muß die Trauung stattgefunden haben. Und nun denke man sich den jugendlichen Familienvater in den nächsten Jahren seiner Ehe — wie er sich allmählich klar wird über das Mißverhältnis, welches schon die Verschiedenheit im Alter zwischen ihm und seiner Gattin aufrichtete; wie er sich klar wird über mannig- fache Aussichten, die Welt und Leben ihm geboten Hütten, und über die Fesseln, die ihm den Kampf um das Dasein erschweren und die er sich selber angelegt — wie die Schwierigkeit, den Bedürfnissen seiner kleinen Familie gerecht zu werden, sich von Tag zu Tag steigert, und die wachsende Zerrüttung der Vermögensverhältnisse seines Vaters seine Lage allmählich zu einer unhaltbaren macht. Da mag wohl der junge Ehemann von Reue, Beschämung, Verzweiflung und in der Verzweiflung von einer Art Galgenhumor ergriffen worden sein, er mochte den Versuch machen, ans Augenblicke die drückenden Sorgen von sich abzu- schütteln, und sich in Gesellschaft übermütiger Burschen auf tolle Streiche eingelassen haben. Jene Tradition, wonach Shakspere in Stratford mit lustigen Gesellen ein lockeres Leben geführt und allerlei Unfug, insbesondere auch Wilddiebstahl verübt haben soll, so übertrieben oder ungenau sie in manchen Einzelheiten auch ist, mag einen Kern von Wahrheit enthalten. Worauf es uns wesentlich ankommt, ist dies:

10. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 9

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
3. Gedächtnisrede auf weiland L-c. Majestät Kaiser Wilhelm I. 9 vierzig Jahren, vergessen, den der Prinz von Preußen noch in Verborgen- heit auf der Pfaueninsel zubrachte. Hier fühlte er sich gedruugeu, im engsten Kreise der Familienglieder und Hausgenossen offen auszusprechen, daß er einer umfassenderen Beteiligung der Volksvertretung niemals ent- gegen getreten wäre; am Abend seines Geburtstages nahm er tieferschüttert von den Seinigen und der Heimat Abschied, um, von einem Adjutanten begleitet, unerkannt nach Hamburg zu fahren. In England begann ein neues Leben für ihn. Niemals hat er der hochherzigen Königin die ihm bereitete Ausnahme vergessen, und lebenslang ist er dem damaligen Ge- sandten, Herrn von Bunsen, dankbar geblieben, weil er durch ihn mit den englischen Staatseinrichtungen bekannt wurde. Als die Königin von England damals von Frevlerhand eine Verletzung erhielt, war er Zeuge, wie tief gewurzelt im Laude der Parlamente das Königtum sei. Ganz London scharte sich um den Palast, um der Fürstin seine Teilnahme zu zeigen, und als abends im Theater von neuem eine begeisterte Sympathie zum Ausbruche kam, flössen Thränen über seine Wangen, indem er seiner Lage und der Heimat gedachte. Die Königin bemerkte es und sagte, seine Hand leise fassend: „Sie werden das auch noch erleben!" „Ja, ja," sagte der Kaiser, als er dies erzählte und setzte, da die Anwesenden ihn freudig anblickten, mit mildem Lächeln hinzu: „Es hat nur etwas lauge gedauert!" Zürnen Sie mir nicht, verehrte Zuhörer, wenn ich dieser dunkeln Tage gedenke. Denn das Bild unseres Kaisers Wilhelm, das wir unseren Kindern und Kindeskindern einprägen wollen, strahlt auf diesem Hinter- gründe um so leuchtender hervor. Ja, lange dauerte es, bis das irregeleitete Volk sich von der Lüge frei machte und sich seinem Königssohne wieder zuwandte. Als die pom- mersche Ritterschaft ihren heimgekehrten Statthalter feierte, tobte draußen um das Stettiner Schloß noch gellender Widerspruch. Aber ohne Ver- bitterung, ohne Groll im Herzen, ohne daran zu denken, den tückischen Ränken nachspüren zu lassen, ist der edle Fürst selbstverleugnend, un- beirrt seinen Weg gegangen, hat als Mitglied der Nationalversammlung inmitten derselben seine Anerkennung der Verfassung offen ausgesprochen. Er ist den Verhandlungen des Frankfurter Parlaments, dessen Mitglieder von den Fanatikern der rechten Seite als Frevler oder Thoren angesehen wurden, mit voller Unbefangenheit gefolgt und hat den Entwurf der deutschen Wehrverfassung einer eingehenden Beurteilung unterzogen, die er, als Manuskript gedruckt, verteilte. So bereitete sich der schwergeprüfte Thronfolger mit stillem Ernste auf das Herrscheramt vor, das dem Einundsechzigjährigen als Regentschaft zufiel. „Was kann ich noch thun," antwortete er auf einen Glückwunsch, „als meinem Sohne den Weg bereiten?"

11. Bd. 1 - S. 105

1824 - Ilmenau : Voigt
105 auf das Tiefste bewegte, sondern aych einen fortwirkenden Eindruck auf ihn hinterließ. Dieses Trauerspiel und Götz von Berlichingen gaben seiner dichtenden Geistesthatigkeit eine neue Richtung, und diese Werke sowohl, als Lefsmgs Schauspiele, die Gedichte des Ma- lers Friedrich Müller und ganz vorzüglich Leisewitz's Julius von Tarent gehörten zu Schillers damaliger Lieblingslectüre. So ging sein erstes dramatisches Werk hervor: Cosmus von Medicis, ans dem er spater jedoch nur einige Stellen in sein Schauspiel die Räuber aufnahm. Auch war es im Ganzen nur ein sehr unvoll- kommener Versuch, und die Aehnlichkeit im Stoffe mit dem oben- erwähnten Julius von Tarent unverkennbar. Eben so ließen Schillers lyrische Gedichte — d. h. solche, die nach einem strengen Versmaaße gebildet sind und sich in Stoff und Form vorzüglich zum Singen eignen, — ich sage: auch diese lyrischen Versuche jener Zeit ließen nur schwach den Geist ahnen, der sich in seinen spätem Werken dieser Gattung ausspricht. In seinem ersten Gedichte dieser Art, das im Jahr 1776 öffentlich erschien, hatte er sich mehr frem- de Bilder und Gedanken,, die vorzüglich von Klopftock, Cramer und Utz entlehnt waren, angeeignet, als daß er eigenthümlichcn, dichte- rischen Schwung gezeigt hatte. Bemerkenswerth sind jedoch folgende Verse, da sie uns recht klar und tief in Schillers innere Gemüths- welt blicken lassen, und wir da sehen, worauf sich in dieser Zeit all sein Sehnen und Streben beschrankte. Er spricht in jener Stelle von dem Gefühle für die Reize der Natur und bricht dann in die Worte aus: Für Könige, für Große ist's geringe, Die Niederen besucht es nur — O Gott i Du gäbest mir Natur Kheil' Welten unter sie — nur Bator mir Gesänge! E 3

12. Teil 3 - S. 14

1912 - Leipzig : Dürr
— 14 — legen und half überseeische Handelsgesellschaften gründen. Der Aufschwung des Handels und der Industrie kam allermeist der Hauptstadt des Landes zugute. Paris vergrößerte und verschönerte sich damals mit Riesenschritten, die Festungsgräben wurden zugeschüttet, an Stelle der Wälle erhoben sich breite, mit Baumreihen bepflanzte Straßen, die Boulevards, elegante Uferdämme faßten die Seine ein, und viele Steinbrücken führten über den Fluß. Auf den Straßen wogte eine bunte Menge wohlhäbiger Bürger und vornehmer Adliger in goldgestickten Sammetkleidern, dazwischen bewegten sich prächtig geputzte Reiter, schön geschmückte Frauen und glänzende'wagen. 3. Der Hof Ludwigs Xiv. a) Das geräuschvolle Leben in der Großstadt behagte dem Könige nicht immer, deshalb ließ er in dem benachbarten Versailles ein Schloß von unvergleichlicher Pracht bauen, das nach heutigem Geldwert etwa 800 Millionen Franken gekostet hat. Um dieses Schloß siedelte sich dann bald eine Stadt von 80000 Einwohnern an, in der es in der Hauptsache nur Paläste und Prachtbauten gab. In Versailles wohnten die vornehmsten Familien des Reiches. Dazu kamen noch viele Paläste und Lustschlösser, die in der näheren und weiteren Umgebung der Stadt gebaut wurden, alles nur für den Dienst des Königs und der Seinigen. Die Hofhaltung des Königs beschäftigte gegen 15000 Köpfe und verursachte jährlich einen Aufwand von 40—45 Millionen Franken. Alle die großen Herren des französischen Adels waren bereit, dem leisesten Winke des Königs zu folgen und täglich vom Morgen bis zum Abend bei der Hand zu sein, um seine Befehle abzuwarten. Ebenso war es mit den Damen des Hofadels, die gleichfalls von früh bis spät an den Dienst bei der Königin und den Prinzessinnen gebunden waren. b) Die Feste des Hofes sind in ihrer Pracht und Kostbarkeit gar nicht zu schildern. Da gab es Tänze, bei denen der König oft selbst seine Tanzkunst zeigte, Reiterfeste, Theateraufführungen, Basars, wo die schönsten und vornehmsten Damen des Hofes die kostbarsten und ausgesuchtesten Sachen verkauften, die der französische Gewerbefleiß erzeugte. Solche Vergnügungen, wie auch die großen Hofseste, konnte wegen ihrer Kostspieligkeit kein zweiter Hof Europas veranstalten. c) Den Ruhm des „Sonnenkönigs", wie ihn schmeichlerische Höflinge nannten, halfen auch die Dichter fördern. Damals lebten große Dichter Frankreichs in der Umgebung Ludwigs, so Corneille und Racine, die beide Trauerspiele dichteten und ihre Stoffe den Sagen oder der Geschichte des Altertums entlehnten; Moliere dagegen, der Lustspieldichter, brachte Menschen aus dem täglichen Leben auf die Bühne und geißelte mit beißendem Spotte die Fehler seiner Zeitgenossen. 4. Liselotte von der Pfalz. Eine eigenartige Erscheinung am französischen Hofe jener Zeit war die Prinzessin „Liselotte", Elisabeth Charlotte, die Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz. Wider ihren Willen und nur auf Wunsch des Vaters hatte sie den Herzog von Orleans, einen Bruder Ludwigs Xiv., geheiratet. Der Aufenthalt am Hofe zu

13. Dichtung der Neuzeit - S. 259

1908 - Freiburg im Breisgau : Herder
§ 40. Schillers Werke. — Die dramatischen Werke. 259 strebt. Aber alle Wirklichkeit bleibt hinter dem Ideale zurück; alles Existierende hat seine Schranken, aber der Gedanke ist grenzenlos. Durch diese Einschränkung, der alles Sinnliche unterworfen ist, leidet also auch der naive Dichter, da hingegen die unbedingte Freiheit des Jdeenvermögens dem sentimentalischen zu statten kommt." 8 40. 3. Schillers dramatische Werke. Schiller gilt mit Recht für den größten Dramatiker Deutschlands. Seine Schau- und Trauerspiele entwickeln unter großer dramatischer Wirkung einen Kampf um Freiheit und Recht in wichtigen ge- schichtlichen Ereignissen, in bewegtem Staats- und Völkerleben. Seine drei ersten Jugenddramen stehen noch ganz innerhalb der Sturm- und Drangperiode. Ungestümes Streben nach un- gezügelter Freiheit, welches weder politische noch soziale Schranken achtet, ist der Grundgedanke derselben. 1. „Die Räuber" (erst die zweite Auflage hat als Titelvignette den sich aufrichtenden Löwen mit der Devise: in Tyrannos) wurden zum erstenmal am 13. Januar 1782 in Mannheim aufgeführt. Das Drama enthält zwei Handlungen, das Räuberdrama mit dem Helden Karl von Moor als Haupthandlung und das Familiendrama mit der Hauptperson Franz, Karls Bruder, als Gegenspiel. Franz von Moor, ein nichtswürdiger, tückischer Mensch, bringt seinen zwar leichtsinnigen, aber im Grunde des Herzens doch edeln Bruder Karl um die Liebe seines Vaters durch trugvolle Verleumdung und sucht die Herrschaft über die Graf- schaft seines Vaters an sich zu bringen. Als Karl auf seinen an den Vater ge- richteten reuevollen Brief dessen Fluch durch einen Brief Franzens erfährt, wird er, erfüllt von Erbitterung über die Härte seines Vaters und von Rache gegen die gesellschaftliche Ordnung, die ihn ausgestoßen hat, zum Führer einer Räuberbande und wähnt, ein Rächeramt des gerechten Gottes ausüben zu können. Franzens Bemühungen, Amalia von ihrem geliebten Karl zu trennen, mißlingen, doch die erlogene Nachricht von dem Tode Karls nach heldenhaftem Kampfe bringt dem Vater scheinbaren Tod. Auch als Räuber bewahrt Karl durch Schutz der Unter- drückten und Ahndung des Unrechts noch edeln Sinn. Amalia weist die Werbung Franzens, der die Zügel der Regierung ergriffen hat, mit Entrüstung zurück und erfährt jubelnd, daß Karl und der alte Moor, im Turme von Franz gefangen gehalten, noch leben. Von Reue über sein schuldbeflecktes Leben gequält, läßt Karl sich zu dem Eidschwur drängen, daß er die Seinen nicht verlassen werde (Höhe), doch zieht er mit ihnen nach Franken, von Sehnsucht nach der Heimat ergriffen. Als er im Schlosse seiner Väter die an ihm verübte Schandtat seines Bruders vernimmt und sich von der unveränderten Liebe Amaliens überzeugt, trägt er sich mit Selbstmordgedanken, unterdrückt sie aber, um die Qual eines reuevollen Lebens weiter zu dulden, und verläßt das Schloß. Aber die Auffindung seines Vaters und die Erkenntnis der ganzen Schurkerei seines Bruders treibt ihn zur Rache. Franz kommt ihm jedoch durch Selbsterdrosselung zuvor, und der Vater 17*

14. Unser Heer - S. 89

1903 - Leipzig : Dürr
89 aber würden sie staunen, zu sehen, wieviel besser die Invaliden jetzt aufgehoben sind als früher, und wieviel behaglicher sie wohnen und leben. Dieselben Räume, die früher 500—600 Mann beherbergten, dienen jetzt nunmehr 50 Offizieren und zwar ebensoviel Unteroffizieren zur Wohnung, von denen allerdings der größte Teil verheiratet ist, so daß immerhin etwa 300 Menschen in dem Hause leben. 5. Sie bilden eine Welt für sich, in der sie ein behagliches und ruhiges Leben führen. Wenn auch etliche jüngere Insassen mit ihrer Familie noch das Getriebe der Großstadt aufsuchen und die Ver- gnügungen derselben genießen, so sind doch viele andere, die sich an dem, was das Haus und seine Umgebung bieten, genügen lassen und froh sind, in der Stille und Zurückgezogenheit bleiben zu können. Meist ist es auch still im Hanse, und nur selten begegnet man jemand in den langen Korridoren; die Invaliden sitzen unter den schattigen Bäumen des Gartens und reden von vergangenen Zeiten, und drinnen waltet die Hausfrau ihres Amtes, um auch an ihrem Teil dem Gatten das Leben lebenswert zu gestalten. An der Spitze des Hauses steht ein Gouverneur und — haupt- sächlich für die inneren Angelegenheiten des Hauses — ein Kommandant. Ihnen sind die einzelnen Kompagniechefs untergeordnet, welche hier noch mehr als bei der Truppe die Sorge für das Wohl ihrer Untergebenen und deren Familie auf dein Herzen tragen müssen. An sie wendet sich nicht nur der Mann mit seinen dienstlichen Anliegen, nein, auch die Hausfrau weiß, daß sie bei ihm ein offenes Ohr findet für die Sorgen und Nöte innerhalb ihrer vier Wände. Die vielen Insassen fühlen sich im Grunde als eine einzige große Familie; das Zusammenwohnen bringt sie auch innerlich einander nahe, und es mag nicht viele Häuser in der Großstadt geben, wo das Ge- fühl der Zusammengehörigkeit in schönerer Weise zutage tritt, als im Jnvalidenhause — und das bei fröhlichen wie traurigen Anlässen. An beiden fehlt es dort nicht! Die vaterländischen Erinnernngstage, obenan der Geburtstag des alten Fritz, bieten Gelegenheit zur Feier für die Offiziere wie für die Mannschaften, und die Kasinokommission sorgt, daß es auch den Damen nicht an Vergnügen fehlt. Mehr als einmal kommen sie im Laufe des Jahres im Kasino zusammen, und die unge- zwungene Fröhlichkeit, die dann herrscht, läßt es den eingeladenen Gast ganz vergessen, daß er sich im Jnvalidenhause befindet. — Aber auch ernste Tage kommen vor, wenn der Tod in das Haus einkehrt und unter den Alten und Gebrechlichen seine Opfer aussucht. Dann ist es noch stiller dort als sonst, und leise schleicht ein jeder an der Tür der betreffenden Wohnung vorüber, um die Ruhe des Toten nicht zu stören. In solchen Zeiten öffnet sich dann das Tor des Kanonenhofs, das sonst stets verschlossen ist, und der Entschlafene nimmt zum letztenmal aus

15. Teil 2, Oberstufe, Teil 2 - S. 53

1901 - Kiel : Lipsius & Tischer
I. Aus der Heimat. 53 jacke. Hier und da bekommt man auch etwas von den Befestigungsan- lagen zu sehen, obwohl das meiste unter der Erde oder vielmehr im Felsen steckt. Helgoland ist nämlich in deutschen Händen zu einem starken vorgeschobenen Beobachtungsposten geworden, der so leicht nicht in Feindes Hand gelangen wird. Heinrich Bork. 3(>. Der Kieler Hafen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Schatten der Nacht lichteten sich, und im Osten erglänzte der erste hellere Schein des anbrechenden Tages. Der Sturm, der während der Nacht die Ostsee ungewöhnlich erregt hatte, legte sich, und die Fahrt des Dampfers, der, vom Norden kommend, dem Kieler Hafen zusteuerte, wurde allmählich ruhiger. Die Passagiere lagen noch in tiefem Schlafe; nur ein rüstiger Greis hatte schon zu dieser frühen Stunde den engen Raum seiner Kajüte verlassen und das freie Verdeck aufgesucht. Tine Meile blieb er allein; dann aber trat mit freundlichem Worgengruß ein frischer, wettergebräunter wann auf ihn zu, in dem er unschwer einen Seemann erkannte, der sich auf einer Trholungsreise befinden mochte. Sofort wandte sich der Alte mit einer Frage an ihn: „Ich beobachte seit einiger Zeit ein vor uns auftauchendes Sicht; ist es vielleicht schon ein Leuchtfeuer der schleswig-holsteinischen Küste?" „Ts ist der Leuchtturm von Bülk am Tingange des Kieler Hafens." „Also wirklich! Der erste Gruß meiner bheimat!" sprach der Alte bewegt. „wie habe ich mich nach diesem Augenblicke gesehnt!" „Sie waren lange in der Fremde?" „Ich habe meine lheimat seit fast fünfzig Jahren nicht gesehen", sprach der Greis mit feuchten Augen. Dann schwieg er und blickte unverwandt in die Ferne. Jm Osten fchoffen leuchtende Strahlen auf und verkündeten das Trfcheinen der Sonne. Die Sterne erblichen; in wunderbarer Schönheit tauchte die Herrscherin des Tages aus der dunkelblauen Flut empor, und lichter Glanz breitete sich auf der weiten Fläche aus. Jetzt zeigten sich am südlichen und westlichen Horizonte weite Uferstrecken; sie verkündeten das Tnde der Fahrt. Der Greis wendete sich wieder an seinen Nachbar. „Dort schauen meine alten Augen das Land, das ich vor fast einem halben Jahrhundert verließ," sagte er. „Ich bin einer von denen, die damals durch das traurige Geschick meiner Heimat in die Fremde getrieben wurden. Als unser Kämpfen und Ringen so schmählich endete und mein schönes Heimatland sich dem Bedrücker- wehrlos unterwerfen mußte, da riß ich mich, wie so viele andere, mit blutendem Kerzen vom Vaterlande los und suchte jenseit des Weltmeeres mein Glück, wein Brühen und Schaffen ist nicht vergeblich gewesen; aber rechte Ruhe habe ich drüben nicht gefunden; ich mußte am Abend meines Lebens noch einmal hinüber nach Schleswig-Holstein, um an den Stätten der Erinnerung der alten Zeiten zu gedenken. Ich bin zunächst vorr London her ins Land unsers da-

16. Bilder aus dem sächsischen Berglande, der Oberlausitz und den Ebenen an der Elbe, Elster und Saale - S. 395

1883 - Leipzig : Spamer
Christian Fürchtcgott Gellert als Knabe und Schüler. 395 in der regen Teilnahme für Arme und Notleidende äußerte, zeichneten Gellerts Mutter aus, und dieselbe Züge finden wir im Charakterbilde des Sohnes wieder. Die Kinderjahre flössen für Gellert in einfacher und ruhiger Weise dahin. Den ersten Unterricht erhielt er in der Schule seiner Heimatsstadt, und obwohl derselbe wenig zur Entwickelung feiner- geistigen Anlagen beitrug, so gedachte doch Gellert in feinen späteren Jahren seiner Lehrer stets mit hoher Dankbarkeit und konnte ihnen besonders nicht genug nachrühmen, daß sie ihn früh zum Ge- horsam gewöhnt und ihm besonders eingeschärft hatten, die Beschwerden des Lebens mit Ruhe und Gelassenheit zu ertragen. Bei den geringen Einkünften seines Vaters mußte Gellert schon in frühen Jahren daran denken, etwas zu erwerben. Daher begann er bereits in seinem 11. Jahre Kaufbriefe, Dokumente, gerichtliche Akten2c. abzuschreiben, um sich dadurch etwas zu erwerben. Er pflegte noch in seinen späteren Jahren scherzweise zu sageu, daß seine Vaterstadt in ihren Kauf- büchern und Kontrakten aus feiner Jugendzeit mehr Werke seiner Feder aufzuweisen habe, als sich die Welt von seinem späteren Leben rühmen könne. Früh zeigte Gellert Neigung zur Poesie. Zwar fehlte es ihm an Gelegenheit, seinen Geschmack zu bilden, aber der Vater legte wenig- stens dem Sohne in der Ausübung seiner Liebhaberei kein Hindernis in den Weg. Den ersten poetischen Versuch machte Gellert in seinem 13. Jahre. Der Geburtstag des Vaters nahte heran, und es galt, ihn an diesem Tage mit einem Ge- dichte zu begrüßen. Gellert ließ sich zu diesem durch die üble Be- schaffenheit der Wohnung seines Vaters anregen. Das Hans, worin sie sich befand, war so baufällig geworden, daß man es, um den Einsturz zu der- hindern, mit 15 Stützen versehen hatte. Mit ihnen verglich Gellert die Kinder und Enkel des Hauses, auch 15 an der Zahl, indem er sie als die Stützen des älter werdenden Vaters besang und denselben von jeder Stütze beglück- wünschen ließ. Es lag in diesem Gedichte so viel kindlich frommer Sinn und zugleich uaiver Witz, daß es im Kreise der Bekannten und Verwandten all- gemeinen Beifall fand, und daß viele von diesen es noch stellenweise im Ge- dächtnis hatten, als es von Gellert nebst andern Versuchen aus seinen Kinder- und Jünglingsjahren schon längst den Flammen übergeben worden war. ^m Jahre 1729 kam Gellert auf die Fürstenschule zu Meißen, um sich auf die Universität vorzubereiten. Der Unterricht behagte ihm aber nicht be- sonders; denn die römischen und griechischen Klassiker wurden von Wort zu Christian Fiirchtegott Gellert.

17. Deutsche Prosa - S. 136

1900 - Gera : Hofmann
136 Bernhard ten Brink. bewahrt. Er lebte in einem Städtchen, wo ländliche Arbeit sich mit Bürgererwerb paarte. Sein Vater war Ökonom und Kaufmann. Mannigfache Formen menschlicher Thätigkeit traten ihm schon in früher Jugend näher. Er gewöhnte sich daran, jede zu beobachten, bei jeder nach ihrem Zweck, nach ihren Werkzeugen, ihrer Methode zu fragen. Und diese Gewohnheit behielt er im späteren Leben bei. Daher kommt es, wenn er für jedes Ding aus jedem Gebiet den technischen Namen kennt, wenn er auch bei komplizierteren Verrichtungen irgend eines Handwerks jeden Vorgang genau darzustellen weiß. Daher die Über- lieferungen oder Hypothesen, wonach Shakspere bald ein Metzger, bald ein Wollhändler, dann wieder ein Schriftsetzer, oder auch ein Arzt oder auch Soldat gewesen sein soll. Die in solcher Weise geübte Beobachtnngs- und Kombinations- gabe wandte Shakspere ohne Frage frühzeitig auf sein eigent- lichstes Gebiet, auf das Studium des Menschen an. Die kleine Welt, die ihn umgab, und die Welt in seiner eigenen Brust boten ihm für dieses Studium ein vollkommen ausreichendes Material, und wie seine Bedürfnisse wuchsen, dehnte sich auch der Kreis seiner Er- fahrungen aus. Bekannt ist der Goethe'sche Spruch: „Einen Blick ins Buch hinein und zwei ins Leben, das muß die rechte Form dem Geiste geben." Wenn irgend ein hervorragender Dichter oder Denker aus neuerer Zeit, so ist Shakspere nach diesem Rezept gebildet. Wir haben anzudeuten versucht, wie er in Stratford jene Blicke ins Leben gethan haben mag. Was es mit dem Blick ins Buch bei ihm für eine Bewandtnis hatte, werden wir im Laufe unserer Betrachtungen zu erfahren Gelegenheit finden. Das geistige Besitztum eines Volkes, eines Zeitalters beschränkt sich aber nicht auf das, was in seiner Litteratur niedergelegt ist. Es giebt und gab besonders dazumal noch einen Schatz von Überlieferungen, die in Volksgebrüuchen und Sitten, in Lied und Sage sich fortpflanzten und bei einheitlichem Grundcharakter in den verschiedenen Landschaften vielfach eine verschiedene Färbung trugen. Auch diese gehören wesent- lich und zwar in hervorragender Weise zu der geistigen Atmosphäre, die den Menschen umgiebt. Im sechzehnten Jahrhundert verdiente England noch in vollem Maße den Namen des merry England. Puritanische Sittenstrenge hatte die lustigen, bunten Volksfeste noch nicht verpönt, die heitern Volksgesänge noch nicht verstummen lassen. Alte Sitten und Gebräuche wurden besonders auf dem Lande überall heilig gehalten: zu regel- mäßig wiederkehrenden Zeiten des Jahres wurden Umzüge, Spiele, Tänze veranstaltet, die oft in graue Vorzeit hinaufgingen, manchmal

18. Deutsche Prosa - S. 135

1900 - Gera : Hofmann
Shakspere, der Dichter und der Mensch. 135 Zweige der Wissenschaft fachmäßig studiert haben. Schwerlich hätte er je ein so tiefes Verständnis des Naturlebens sich erworben, wäre er in einer engen, geräuschvollen Stadt, in einer Atmosphäre hochgesteigerter litterarischer Kultur aufgewachsen. Shakspere aber betrachtet die Natur, wie der Dichter, wie das Kind, wie jedes Volk in seiner Kindheit sie betrachtet. Der Wechsel der Jahreszeiten, der auch uns noch elegisch oder heiter stimmt, wirkt ans den Naturmenschen wie die Entfernung oder die Rückkehr eines höchsten Gutes: es sind freundliche Götter, die im Herbste scheiden, dahinsterben, um im Friihling wieder aufzuleben. Ähnliche Mythen bildet sich jedes Kind — vor allem aber ein Kind, das dazu bestimmt ist, ein Shakspere oder Goethe zu werden. Denn darin besteht die historische Bedeutung und die nationale Kraft der höchsten Genies, daß sie den Volksgeist, den sie weiterführen, zugleich am vollständigsten repräsentieren, daß ihr Leben wie das ins kleine gezogene Bild des Lebens ihres Volkes erscheint: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft desselben in ihm sich spiegeln. So war auch Shakspere außer allem Zweifel als Kind Mythendichter. Jedes Ereignis im Leben der Natur suchte er sich menschlich zu deuten; alles wurde ihm zum Bild, zum Symbol. Und als er später die Verschiedenheit des sich Ähnlichen schärfer fassen gelernt, blieb doch der Eindruck zurück, den er in seiner Kindheit erhalten, blieb doch die Gewohnheit, ja die Notwendigkeit für ihn bestehen, in Bildern zu denken, in Bildern sich ausznsprechen. Aus der Gewohnheit des Vergleichens aber entwickelte sich die Fähig- keit, aus der Beobachtung einer einzelnen Erscheinung durch rasche Analyse und Kombination eine allgemeine Wahrheit abzuleiten. So sind die tiefen Blicke, die Shakspere später in den Zusammenhang der Dinge that, nicht außer Verbindung mit der Mythendichtnng seiner Kindheit zu verstehen. Der große Vorteil primitiver einfacher Lebensverhültnisse beruht darin, daß sie das Individuum vor einseitiger Ausbildung eines Teils seiner Anlagen auf Kosten der übrigen schützen. Die Arbeitsteilung, das Hauptmittel zum Kulturfortschritt der Menschheit im ganzen ge- nommen, hat für den einzelnen zur notwendigen Folge, daß er in einem Punkt sich entwickelt, in vielen anderen zurückbleibt, daß er auf seinem eigenen Gebiet ein Riese, ans anderen Gebieten unendlich viel hilfloser ist als der Naturmensch. Aller Welt ist geläufig — wenn auch nur aus populären Witzblättern — die Figur des unpraktischen Gelehrten, des in den Dingen des täglichen Lebens kindlich unerfahrenen Professors. Aber wie unerfahren ist der Gelehrte oft sogar in Wissens- gebieten, die seinem eigenen etwas ferner liegen! Vor solcher Einseitig- keit wurde Shakspere durch seine Natur, wie durch seine Erziehung

19. Deutsche Prosa - S. 137

1900 - Gera : Hofmann
Shakspere, der Dichter und der Mensch. 137 einen Nachklang germanischen Mythus' in sich faßten. Dahin gehört die Maifeier mit dem sich anschließenden Morris-Tanz. Dahin gehört der Georgstag, das Schafschurfest und so viele andere Feste und Spiele, deren Shakspere in seinen Dramen gerne gedenkt. — Warwickshire muß zu denjenigen englischen Grafschaften gehört haben, in denen alte Bräuche, alte Überlieferungen am kräftigsten fortlebten. Von den An- fängen der englischen Geschichte her war dies ein Gebiet, in dem ver- schiedene Stämme oder auch Nationalitäten sich berührten: zuerst West- sachsen und Kelten, dann Westsachsen und Angeln, von denen die letzteren die ersteren unterwarfen. Unter Alfred dem Großen, nach dem entscheidenden Sieg über die Dänen, ging durch diese Gegend die Grenze zwischen dem westsächsisch-mercischen und dem dänischen Reich. Aus altenglischen Urkunden läßt sich nachweisen, daß in diesen Gebieten das Heidentum lange lebendig blieb; die dänische Nachbarschaft, die ver- hältnismäßig weite Entfernung von großen Knltnrmittelpunkten mußte später der Erhaltung von Trümmern heidnischer Überlieferung günstig sein. Auch das altenglische Nationalepos fand in Warwickshire allem Anschein nach eine der Stätten, wo es am kräftigsten sich entwickelte. In litterarischer Zeit dagegen hören wir bis in die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts von Warwick wenig oder gar nichts. Kaum ein bedeutender Dichter der alt- und mittelenglischen Periode kann mit Sicherheit dem Herzen Englands, wie Michael Drayton, der Zeitgenosse Shaksperes und selbst aus Warwick, es nennt, zugewiesen werden. Desto emsiger mochte die Volkspoesie arbeiten. Hier entstand infolge der Berührung von Dänen und Sachsen die Sage von Guy von War- wick, die im Anfang des 13. Jahrhunderts in normannischer Sprache litterarische Gestaltung erhielt. Alte Zaubersprüche, Balladen und was weiter in den Kreis der Volksdichtung fällt, mögen in Warwick- shire länger als in manchen anderen Grafschaften fortgelebt, beziehungs- weise sich reicher entwickelt haben. Was von dieser Poesie aus anderen Gegenden, vorzüglich aus dem englischen Norden nach Warwick floß, wurde hier begierig aufgenommen. Für die schönen Sagen und Lieder von Robin Hood, in denen der altgermanische Sturmgott Wodan die volkstümliche Gestalt eines geächteten, in den Wäldern lebenden Bogen- schützen und Wilderers angenommen hat, oder für die verwandten Balladen von Adam Bell, William von Cloudeslay, Clym 0' the Clongh — alle von frischem Waldduft und einer urwüchsigen Heiterkeit der Lebensanschauung erfüllt — war in Warwick ein geeigneter Boden. Shaksperes Dramen sind voll von Anspielungen auf diese Balladen, wie denn kein Poet seiner Zeit so tief als er aus dem Born volks- tümlicher Dichtung und Sage geschöpft hat.

20. Alte Geschichte - S. 40

1870 - Mainz : Kunze
40 Vi. (Kultur. Eine lebendige Phantasie und ein edler Formensinn bilden vor allem die geistige Mitgift der Hellenen. Daher zeigt sich schon in dieser ersten Periode ihr Beruf, durch die allseitige Dar- stellung des Schönen das bevorzugte Kunstvolk für alle Zeiten zu werden. Der Ausgangspunkt für die verschiedenen Kunstzweige ist auch hier die Volksreligion, die Mutter alles höheren geistigen Lebens. I. Literatur. Wie jede Volksliteratur beginnt auch die griechische mit der Poesie. Die Entwicklung der Prosa in Philosophie, Geschichtschreibung, Redekunst gehört, wenn auch die frühesten Anfänge der beiden ersten Gebiete schon vor die Per- serkriege fallen, der zweiten Periode an. Von den Grund- formen der Poesie ist die epische die am frühesten kunstmäßig ausgebildete, nach ihr folgt die Lyrik, zuletzt (erst in der fol- genden Periode) die aus beiden sich entwickelnde dramatische. Die epische ist vor allem die Dichtung des ionischen, die lyrische als die universellste die des dorisch-äolischen wie ionischen, Die dramatische die des attischen Stammes, der zuletzt, wie im Staat, so in der gesammten Literatur an die Spitze Griechenlands tritt. Die altepische Poesie hat zum Stofs und Inhalt die Götter- und Heroenwelt. Homers in den ionischen Colonien Kleinasiens um 900 v. Ehr. entstandenen Volksepen wurden zu allen Zeiten als die erste Dichtung der Hellenen betrachtet, besonders in Athen, wo man sie bei der gottesdienstlichen Feier der Panathenäen benutzte, zur Anerkennung gebracht. Ihr großer Einfluß auf die Gesammt- bildung des Volks wie auf die späteren Dichter. Hesiodus, wahrscheinlich bald nach Homer dichtend, aus Asera in Böolien. Nur das Lehrgedicht Werke itufc) Tage, schon nach der Ansicht der Alten unzweifelhaft sein Werk. Unter feinem Namen gehen noch die Theogonie und der ,Schild des Herakles', andre seiner Werke sind verloren. — An die homerischen Epen schließen sich 1) die s. g. homerischen Götter-Hymnen, 2) die Cycliker an, welche die Sagenkreise der Ilias und Odyssee weiter behandelten.