2 Am. Abend der Kriegserklärung 1914 in Königsberg.
Mit ernster Miene, doch mit fester Stimme hielt der Kaiser dann folgende Rede an sein Volk, die eigentlich jedes deutsche Kind auswendig lernen sollte: „Eine schwere Stunde ist heute über Deutschland hereingebrochen. Neider überall zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand. Ich hoffe, daß, wenn es nicht in letzter Stunde meinen Bemühungen gelingt, die Gegner zum Einsehen zu bringen und den .Frieden zu erhalten, wir das Schwert mit Gottes Hilfe so führen werden, daß wir es mit Ehren wieder in die Scheide stecken können. Enorme Opfer an Gut und Blut würde ein Krieg von uns fordern. Den Gegnern aber würden wir zeigen, was es heißt, Deutschland anzugreifen. Und nun empfehle ich euch Gott, geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer!"
Immer wieder wurde die Rede von Beifallsrufen unterbrochen, und als der Kaiser'geendet hatte, drängten sich die Gefühle zusammen in dem „Heil dir im Siegerkranz," das von der ganzen Niesenmenge entblößten Hauptes gesungen wurde. Noch einmal grüßte das Kaiserpaar, und brausender Gegengruß antwortete. Dann traten die Majestäten in ihre Zimmer zurück, und die Masse flutete singend weiter durch die Straßen der Reichshauptstadt.
Für alle war es eine entscheidende und erlösende Stunde gewesen; denn jeder wußte es nun: „Der Kaiser ist eins mit seinem ganzen Volke."
Gustav Schlipköter, „Der Sturm bricht los!" (Deutsche Iugendkriegsbücherei.
1. Folge.) Verlag Friedr. Burchard. Clberfeldrsonnborn.
3. Am Abend der Kriegserklärung und am ersten Mobilmachungstage 1914 in Königsberg.
„Krieg, Krieg!" So hörte man am Abend des 1. August 1914 in den Straßen Königsbergs rufen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, daß die Bemühungen unseres Kaisers, den Frieden zu erhalten, leider vergeblich gewesen wären. Daher hätte er die Mobilmachung anbefohlen und gleichzeitig Rußland den Krieg erklärt.
Die Anschlagsäulen mit den roten amtlichen Bekanntmachungen und die Anschlagstellen mit den Extrablättern der Zeitungen waren überall von dichten Menschenmassen umringt. Bei dem großen Andrange war es dem einzelnen unmöglich, selbst zu lesen; darum las stets einer, der am nächsten stand, mit erhobener Stimme vor.
Mittlerweile begannen die Glocken der ganzen Stadt zu läuten und riefen die waffenfähigen Männer auf zum Sturm. Ein erhebender und tief ergreifender Augenblick! Wer ihn miterlebt, wird ihn nie vergessen. Die Menge stand still. Frauen falteten die Hände, und Ernst und Andacht ergriffen alle Herzen. Jeder empfand die Größe der schicksalsschweren Stunde. Man hörte verhaltenes Schluchzen, und manches Auge füllte sich mit Tränen.
Die Hauptstraßen waren „schwarz von Menschen" und glichen einem Strombett, in dem sich die Flut dem Schlosse zuwälzte. Bis lange nach Mitternacht wogte auf dem Schloßplatz eine tausendköpfige Menge, so daß es
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Extrahierte Personennamen: Gustav_Schlipköter Gustav Burchard August Ernst
Extrahierte Ortsnamen: Königsberg Deutschland Gottes Deutschland Königsberg Schloßplatz
8^ Plötzliches Auftauchen der Kosaken auf einem Gute Ostpreußens an der russischen Grenze.
zu spenden in diesen Lagen der Bitternis. Und Trost kann er jetzt nur schöpfen aus dem Bewußtsein, daß sein ganzes Volk in aufopfernder Liebe und unerschütterlicher Treue an ihm hängt, von der Hauptstadt bis in den fernsten Winkel an den Grenzen. An euch zuerst tritt es heran, ihm das zu beweisen. Deshalb gilt es hier, auszuharren und auszuhalten, Gott zu geben, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Beiden aber gehört das Leben. Doch mißversteht mich nicht, meine Kinder! Ich fordere euch nicht auf, mit Waffen in der Hand den Feind zu erwarten und den Kampf aufzunehmen. Nein, wenn es an uns kommt, daß wir sterben sollen, so werden wir den Tod des Märtyrers erleiden, nicht um des Glaubens willen, doch um des Vaterlandes willen. Ich will keine Waffe sehen in euern Händen, ich will keinen Schuß fallen hören aus euern friedlichen Häusern, ihr sollt euch nicht beflecken mit Blut — in friedlicher Ruhe soll man euch finden. Drum gehe morgen ein jeder seinem Tagewerke nach wie sonst und warte in Gottvertrauen und deutscher Besonnenheit ab, was geschehen wird. Mich werdet ihr in eurer Mitte sehen. Und nun, meine Kinder, rufe ich euch alle noch einmal an den Tisch des Herrn!"
Als das Abendmahl erteilt war, verließ die Gemeinde das Gotteshaus. Die Glocken läuteten in die Stille des Vormittags hinein. Heller Sonnenschein, unterbrochen von den spärlichen Schatten einiger Bäumchen, lag auf dem Platze vor der Kirche.
Entnommen aus: Walter Heichen, „Unter den Fahnen Hindenburgs."
Aus dem Phönix-Derlag, Carl Siwinna-Kattowitz O. S.
6. Plötzliches Auftauchen der Kosaken auf einem Gute Ostpreußens an der russischen Grenze.
Landtagsabgeordneter Hofer.
Heute frühmorgens — es war zu Beginn des Weltkrieges — saß ich noch nichtsahnend zu Hause an meinem Schreibtisch, um eine Eingabe an den Landrat fertig zu machen, als vor dem Fenster plötzlich der Kopf eines Kosakenoffiziers erscheint. „Aus diesem Hause ist geschossen worden!" ruft er auf deutsch. Ich nötige ihn ins Wohnzimmer und gebe ihm die Versicherung, daß weder von mir noch von meinen Leuten ein Schuß abgegeben worden sei und daß wir von der Anwesenheit der Russen überhaupt nichts gewußt hätten. Er scheint sich dabei zu beruhigen, und ich frage ihn, ob ich ihm eine Flasche Wein vorsetzen dürfe. „Wir nehmen während des Feldzuges keinen Tropfen Alkohol, es ist streng verboten," antwortet er, „aber für ein Glas Tee wäre ich ihnen dankbar." Ich lasse ihm Tee und ein Frühstück vorsetzen, wir unterhalten uns ganz gemütlich miteinander. Als er aber fertig ist, erklärt er mir mit der gleichgültigsten Miene: „Nun muß ich meine Pflicht tun und den Hof anzünden lassen, denn es ist aus Ihrem Hause auf meine Truppen geschossen worden." Meine Beteuerungen helfen nichts, er gestattet mir nur, meine Leute und mich in Sicherheit zu bringen, und er verspricht — worum ich ihn nicht gebeten hatte — mein
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Aus der Zeit des zweiten Nuffeneinfalls in Ostpreußen.
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wenn er nicht als dummer Junge seine Hand in eine Häckselmaschine gesteckt und einen seiner Finger, der zum Laden eines Gewehres unentbehrlich ist, verstümmelt hätte. Er hatte also nie des Kaisers Rock getragen und verstand nichts von militärischen Dingen. Das wurde sein Unglück.
Als die Russen im November 1914 zum zweiten Male in Ostpreußen einfielen, mußte er mit Weib und Kind wie alle anderen Bewohner des Dorfes schleunigst fliehen und seine herrliche Wirtschaft mit den reichsten Wintervorräten, so und soviel Stück Vieh, Schweinen, Gänsen und Hühnern im Stich lassen. Nur sein alter Vater wollte nicht mit, sondern auch unter den Russen zur Abwartung des Viehes und Fortführung der Wirtschaft bleiben. Ein lebensmüder Greis fürchtet den Tod auch aus Feindeshand nicht.
Und so floh denn Jankowski auf einem mit starken Pferden bespannten Planwagen, darunter Weib und Kind saßen, im langen Flüchtlingszuge zunächst nach der Kreisstadt Angerburg. Schon unterwegs fiel ihm so manches ein, was er mitzunehmen vergessen hatte. Einige geschlachtete Gänse und Hühner hätten immer noch Platz gehabt. Auch sonst manches schöne Hausgerät hätte man mitnehmen können. Dann fiel ihm weiter ein, daß er so manches dem Alten auf die Seele zu binden vergessen hatte: Den Schweinen nur nicht zu heißes Fressen zu geben, das jüngste Kalb von der bunten Kuh bald zu entwöhnen und es nicht unter 25 Mark an den Fleischer zu verkaufen.
Ja, es war so viel zu bedenken. Auf das schwarze Huhn, welches immer die Eier in verborgene Winkel legt, war aufzupassen. Ach, was hätte er dem Alten nicht alles noch ans Herz zu legen gehabt! Die Flucht war zu hastig gekommen.
In der Stadt Angerburg faßt er zufällig in seine Westentasche und findet — o weh! — den Speicherschlüssel. Ach, was nun? Die Pferde können keinen Hafer, die Kühe und Schweine nicht Kleie bekommen.
„Mutter," sagt er zu seiner Frau, „ich muß wieder zurück. Bleibe hier mit den Kindern und warte auf mich, bis ich wieder hier bin. Ich muß dem Alten den Speicherschlüssel abgeben und auch noch manches sagen wegen dem Kalb, dem Schwein und auch dem schwarzen Huhn." —
Ein Soldat, den er auf der Straße fragt, ob er wohl nach seinem Dorfe zurückkehren könne und ob die Russen wohl schon dort seien, gibt ihm den Rat, aufs Etappen-Kommando zu gehen und sich einen Ausweis zu holen.
Freund Jankowski schüttet dem Etappen-Kommando seine Herzensangelegenheiten aus, findet aber kein Gehör. Der Erlaubnisschein wird ihm verweigert. Er zeigt den Speicherschlüssel, schildert die Not seines Viehes — nichts macht auf die hohe Militärbehörde Eindruck. Da denkt Jankowski in seinem citin: „Wer hat mir was zu befehlen? Ich bin kein Soldat, sondern ein masurischer Bauer. Ich gehe, wohin ich will. Donnerwetter, ich werde doch wohl in mein eigenes Haus gehen können!"
Und so wandert er trotzig aus der Stadt zur Heimat. Unterwegs bei Dtr. sieht er unsere Schützengräben, und auf der Chaussee steht ein deutscher ooldat. „Ich werde nicht so dumm sein, den Patrouillen in die Arme zu laufen. Ich schleiche mich hinter jenem Gebüsch rechts den Berg herab und
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Die Nüssen in Carlshof.
2. Wagen, Maschinen in der Landwirtschaft, Getreidevorräte
geraubt........................................................... 2 000 M.
3. Drei Anstaltsscheunen niedergebrannt..............................16 000 „
4. Die volle Ernte des Jahres.................................... 10 000 „
5. Ausfall der freiwilligen Liebesgaben und der Hauskollekte
im Jahre 1914 ............................................... 30 000 „
6. Die Störung und Einstellung der 7 Handwerksbetriebe
in der Krüppellehranstalt und Dampfwäscherei, Ausfall . 10 000 „
7. Durchzerstörung der Ortschaften, welche für ihre siechen
Pfleglinge Pfleqegeld gezahlt haben und jetzt nichts
zahlen können, Verlust......................................... 8 000 ,,
Summe des Schadens 86 000 M.
Angerburg i. Ostpreußen. H. Braun, Superintendent.
64. Die Russen in Carlshof.
Anstaltsdirektor Dembowski.
In dem Gebiete Ostpreußens, das von den Schrecken und Nöten des Krieges mit Rußland furchtbar heimgesucht ist, liegen an der Bahnstrecke Angerburg-Rastenburg die Anstalten der Inneren Mission in Carlshof bei Rastenburg. Beim Anblick dieser glaubt man ein liebliches Städtchen vor sich zu haben. In der Mitte ragt der schlanke Turm einer Kirche hervor; rings herum scharen sich Häuser, die in anmutigen Gärten gelegen, etwa 950 Epileptiker*) und Schwachsinnige beherbergen.
Es schließen sich ihnen die Trinkerheilstätten mit einer Pfleglingszahl von 60 Alkoholkranken an, die hier Genesung von ihrem schweren, Geist und Körper zerrüttenden Leiden suchen und oft auch finden, dann ein Siechenhaus, ein Arbeitslosenheim, in dem arbeitslose Leute Obdach suchen, hier zu zweckmäßiger Arbeit angehalten und sehr oft zu geordnetem Leben geführt werden, ferner ein dreistöckiges Krankenhaus und die Erziehungsanstalt für schulentlassene Fürsorgezöglinge mit über 100 sittlich gefährdeten Jünglingen, die hier zu einem ordentlichen Beruf erzogen werden.
In der Carlshöfer Diakonissenanstalt werden die zu dieser christlichen Arbeit durchaus nötigen christlichen Pfleger ausgebildet. Aufgenommen werden darin Jünglinge, die schon irgend ein Handwerk erlernt oder in einem andern Beruf gearbeitet haben, und die nun in mehrjährigem Kursus für ihr Amt vorbereitet werden.
Die Anstalten stehen unter dem Protektorat Ihrer Majestät der Kaiserin, sind im Jahre 1881 gegründet und 30 Jahre hindurch von Pfarrer D. Dr. Dembowski bis zu seinem Lebensende geleitet und durch sein segensreiches Wirken zu seiner jetzigen Größe angewachsen. 1500 Personen finden hier Pflege und Arbeit. —
*) Epilepsie — die Fallsucht, eine Krankheit des Nervensystems, Krämpfe und Bewußtlosigkeit.
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Die Russen in Carlshof.
Offizier, die eine Anzahl Zivilgefangener aus Rastenburg fortführen sollten. Auf Befragen sagte der Offizier, der Gouverneur wäre für uns nicht zu sprechen; man sollte ja nicht denken, die Russen wären gekommen, um uns hier zu helfen.
Als der Anstaltsleiter sich als der Vorsteher einer großen christlichen Krankenanstalt vorstellte und sagte, daß er gekommen sei, einen Kranken, der fortgeschleppt wäre, loszubitten, befahl der Offizier, ihn gefangen zu nehmen, weil er Dembowski heiße und daher Pole sei, desgleichen auch den Kranken, weil er russisch könne. Ein Unteroffizier, ein starker, großer Mann, trat auf beide mit der Knute in der Hand zu und machte Anstalten, sie zu schlagen. Herrn Dr. Ehrhardt und Lehrerinnen der Anstatt für Schwachsinnige in Rastenburg gelang es jedoch, beide wieder loszubitten.
Die von den Russen angezündete Scheune mit der ganzen reichen Ernte verbrannte vollständig, obgleich alles, was Hände hatte, sich rührte, um den Flammen ihren Raub zu entreißen. Der Arzt, die männlichen Pfleglinge, die Schwestern mit ihren Schutzbefohlenen, alle waren unausgesetzt tätig, um die Anstalt davor zu bewahren, gänzlich vom Feuer vernichtet zu werden.
Kindlich stolz auf ihre Pflegerinnen und in gewissem Sinne zutreffend schrieb später ein kleines epileptisches Mädchen der Anstaltsschule in einem Aufsatz: Die Russen in Carlshof: „Die Schwestern taten die Hauptsache dabei."
Nach einem Löschen von zwei Tagen und einer Nacht gelang es, die Umfassungsmauern des ebenfalls vom Feuer ergriffenen danebenstehenden Stalles zu retten und das Feuer so weit zu dämpfen, daß es nicht weiter um sich greifen konnte.
Sehr oft hatten die Anstalten nun Besuch vom Feinde, der immer befürchtete, daß in den großen Häusern Soldaten versteckt sein konnten. Öfters noch wurde in die Fenster geschossen, besonderer Schaden aber nicht mehr angerichtet. Der Befehl, auch unsern Speicher noch anzuzünden, der bereits an einem Abend gegeben war, wurde auf inständiges Bitten des Pflegers Loreck, der stets den Russen entgegenging, mit ihnen verhandelte und Schaden verhütete, wieder zurückgenommen.
Am 28. August rückte eine größere Truppenmasse an der Anstalt vorüber auf Lötzen zu, wohl um diese kleine Festung zu erstürmen. Eine Seitendeckung dieser Truppe marschierte über den zur Fürsorgeerziehungsanstalt gehörenden Freihof, der etwa drei Kilometer von der Anstalt entfernt liegt. Hausvater Elfert hielt dort mit seiner Frau treue Wache.
Der Hof liegt ganz einsam, und gerade auf solchen Höfen ist von den Russen oft viel Schaden gestiftet. Das Ausharren dort ist besonders schwer und gefährlich. Hier nahmen die Russen acht Pferde nebst Geschirr, Sätteln und zwei Wagen mit; außerdem raubte ein Kosak einem Erziehungsgehilfen seine Uhr nebst Kette.
Die ganze nach Lötzen abmarschierende Truppe zog jedoch bald wieder zurück. Der Grund war wohl der, daß die Russen inzwischen die Kunde von dem großen Sieg bei Tannenberg erhalten batten. In der Anstalt wußte
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12 Brief einer ostpreußischen Mutter an ihre Tochter über ihre Flucht.
Pferde, zu großen Herden von unserem Landsturm zusammengetrieben, vor dem Feinde in Sicherheit zu bringen.
Oft gerieten die Flüchtlinge zwischen russische Soldaten und wurden von diesen beschossen. Alte und kranke Leute starben am Wege. Not und Elend war rings umher. Standesunterschiede gab es nicht mehr. Ein Graf war auf der Flucht mit einem Platz im Eisenbahnviehwagen ebenso zufrieden wie sein Jnstmann. Aus Gumbinnen flüchtete eine über hundert Jahre alte Witwe nach Berlin. Tausende von Frauen waren mit ihren Kindern auf der Flucht auf sich allein angewiesen, da ihre Männer fürs Vaterland kämpften. Das war eine traurige Völkerwanderung, die jeden mit tiefem Weh erfüllen muß! Nach M. Brügmann, „Aus Ostpreußens Russennot".
Verlag des Evangel. Bundes. Berlin W 35.
11. Brief einer ostpreußischen Mutter an ihre Tochter über ihre Flucht.
Mit Tränen in den Augen teile ich Dir mit, daß wir noch alle hier am Leben sind. Wir haben bloß unser nacktes Leben gerettet. Am 17. August 1914, nachts um zwölf Uhr, mußten wir unsere Wohnungen verlassen; denn die Kosaken kamen durch den Wald und haben unsere Landwehrleute, die in der Umgegend waren, beschossen. Als die Landwehrleute abends um elf Uhr von Beltkehmen durch die Brücke kamen, da hieß es: „Rette sich, wer kann!"
Wir waren noch auf, und kannst Du Dir denken, wie es da herging. Ich riß die Kinder aus dem Schlaf, und Vater lief, die Pferde an die Wagen zu spannen. Ich zog die Kinder an, und Emma packte noch etwas zu essen und Bettzeug ein. Da mußten wir auch schon losfahren. In Walter-kehmen bei Gumbinnen blieben wir über Nacht.
Am Nachmittag des 18. August fuhr Otto mit einem Rad nach Hause, um die Schweine zu füttern und die Ställe aufzumachen. Als er damit fertig war und losfahren wollte, kamen schon wieder Kosaken. Sie haben auch nach ihm geschossen. Aber Otto kann sehr schnell fahren, so daß ihn keine Kugel getroffen hat.
Als er dann wieder in Walterkehmen anlangte, wurden die Walter-kehmer alle gefangen genommen und mußten ihr Vieh nach Rußland treiben. Otto aber ging schnell durch den Fluß. Wir waren schon vorher weiter gefahren und ebenfalls auf der anderen Seite des Flusses. So sind wir alle davongekommen.
Dann fuhren wir bis Friedland. Da trafen wir wieder Russen. Aber diese taten uns nichts, nur das Brot nahmen sie uns weg. Ich kann Dir sagen, mein liebes Kind, wie es uns da ergangen ist! Überall, wohin wir kamen, gab es nichts mehr zu kaufen; da mußten wir hungern.
Wir fuhren weiter bis Preußisch-Eylau, wo wir auch Brot kaufen konnten, und blieben dort 14 Tage lang, aber immer zwischen den Russen. Der alte Gröll war uns unterwegs gestorben, den mußten wir in Wehlau
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Extrahierte Personennamen: Brügmann Ostpreußens_Russennot" August Emma August Otto Otto Otto
Ist gar schwer gewesen. Wie die Muffen in Neidenburg hausten.
3. Ich hatte noch vier!" Ihre Stimme bricht.
Wo die vier geblieben, — das weiß sie nicht.
Irgendwo in einer fremden Stadt
man die Kleinen in Pflege genommen hat.
4. Die Führerin schaut ihr mild ins Gesicht.
„Wer nahm sie an sich?" — Auch das weiß sie nicht. „Irgendwo!" — und „Irgendwer!"
Und „Ich hatte noch vier!" Und sonst nichts mehr. —
5. Sie ist nicht irre, sie ist nicht krank, — nur daß sie den Trank des Kummers trank, daß der Schlaf sie in wandernden Nächten floh! „Irgendwer!" — und „Irgendwo!" —
6. „Und hatte noch vier!" So schläft sie ein,
und dreimal verblüht der Sonne Schein,
dreimal tröstet die linde Nacht, — da ist sie erwacht.
7. Und ihr Erstes: „Gebt zu schreiben mir!
Muß grüßen meine Kindlein vier.
Sind mit mir bis Berlin gekommen!
Eine edle Frau hat sie an sich genommen.
8. Baronin von Krafft!" •— Geschwunden der Kummer!
Wußte nun Straße und Stockwerk und Nummer!
Hat bankbar der Pflegerin Hand gesucht. —
Äst gar schwer gewesen, der Ostpreußen Flucht!
Frieda Jung, „Aus Ostpreußens Leidenstagen". Verlag Ernst Buchheim. Cöthen.
13- Wie die Russen in Neidenburg hausten.
Nach A. Kuhn, „Die Schreckenstage von Neidenburg in Ostpreußen." Kriegserinnerungen aus dem Jahre 1914.*)
1. Btlb.
Am 22. August 1914 kam eine Kosakenpatrouille von etwa 15 Mann in bte Stadt Neidenburg. Die ganze beutsche Besatzung bestanb nur noch aus zwei Jägern und einem Kürassier, die wahrscheinlich ihre Truppen verloren hatten und beshalb in der Stadt zurückgeblieben waren. Binnen zehn Minuten hatten diese brei Martn bte 15 Kosaken vertrieben.
Später kamen 80 Kosaken mit großem Geschrei und geschwungenen Lanzen in die Stadt gesprengt und machten auf dem Marktplatz halt. Im Nu waren sämtliche größeren Schaufenster mit Lanzen und Flintenkolben eingeschlagen ober durch Schüsse zertrümmert und mancherlei Wertsachen und Eßwaren geraubt. Darauf machten sich bte Kosaken daran, die Schienen
*) Vaterländische Verlagsanstalt Wilhelm Köhler. Minden i. W. Preis 15 Pf.
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Extrahierte Personennamen: Frieda_Jung Ernst_Buchheim Ernst A._Kuhn Schreckenstage_von_Neidenburg Btlb August Wilhelm
Extrahierte Ortsnamen: Neidenburg Berlin Neidenburg Ostpreußen Neidenburg
16
Wie die Nüssen in Neidenburg hausten.
Wohnung aus, die darüber liegt, und stecken das Haus den Bewohnern über dem Kopfe an.
Es war unterdessen zehn Uhr geworden. Nun will ich sehen, ob mein Haus noch steht und ob ich mich hineinschleichen kann. Ich erreiche die ersten Häuser der Stadt. Kein Mensch ist zu sehen. Aber, Herrgott, wie sieht es hier aus! Kein Fenster ist ganz, keine Tür heil. Und vor den Häusern und drinnen ein unbeschreibliches Durcheinander.
Ich komme in mein Haus. Sämtliche Türen stehen weit offen. Ich hatte sie nicht verschlossen, um den Herren das Einschlagen zu ersparen. Das war recht getan, denn jeden Widerstand beseitigen Axt und Kolben. Sämtliche Schränke, Schubladen, Behälter sind geöffnet. Alles, was drin war, ist herausgerissen und durchwühlt. Stühle, Kästen, Kleider, Wäsche, Wanduhren, Bilder, kurz alles, rvas sich in einer Wohnung befindet, liegt kunterbunt durcheinander. Man kann keinen Schritt frei schreiten. Zigarrenkisten liegen leer am Boden. Die Lebensmittel sind weg. Die Schmucksachen meiner Frau, silberne Bestecke und Löffel sind verschwunden. Zwei Brecheisen finde ich an verschiedenen Stellen. Es scheint fast, als gehörten die zur Ausrüstung der russischen Soldaten.
In erster Linie haben sie es natürlich aufs Geld abgesehen. Auch hier zeigt sich ihre Stärke und ihre Übung. Die gut versteckten Sparkassen der Kinder haben sie richtig gefunden. Von meiner Standuhr, von meinem Wecker haben sie die hinteren Verdeckplatten abgeschraubt, von den stehenden Bilder-rahmen die Pappe gelöst: Es könnte ja Papiergeld darin versteckt sein.
Doch, was soll ich klagen. Sie sind glimpflich mit mir umgegangen. Sie haben mir keine Betten und Sofas aufgeschlitzt, keine Türfüllungen und Spiegel eingeschlagen, kein Geschirr und keine Fenster zertrümmert, auch das Haus nicht angezündet. Nachher habe ich in den anderen Straßen und Häusern gesehen, daß das alles zu ihrem Handwerk gehört.
Die Kosakenwachen stehen träumerisch auf den Straßen. Sie sind aufgezogen, um die Stadt vor der Plünderung der eigenen Kameraden zu schützen, aber erst, als die Plünderung bereits vollendet war. Nach Th. Boenner.
2. Bild.
Gleich beim Einzuge der Russen in Neidenburg schnitten die Soldaten die jungen Lindenbäumchen an den Straßen mit ihrem Seitengewehr überall mitten durch. Sie brachen die verschlossenen Haus- und Stubentüren gewaltsam auf, ebenso die in den Wohnungen vorhandenen Schränke und Behälter und zertrümmerten Hausgerät, Spiegel und andere Möbel.
Kleider, Wäsche und Betten, Gardinen und Vorhänge wurden, soweit sie von den Soldaten nicht mitgenommen werden konnten oder an die plündernden Polen nicht abgegeben worden waren, zerrissen und mit Kot beschmutzt. Ich beobachtete, daß etwa 15 polnische Frauen und Männer und 10 russische Soldaten große Bündel mit Betten, Wäsche und dgl. mehr aus dem Wohn-hause des Schloßgutes Neidenburg trugen. Sie luden alles auf die bereit-
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Erlebnisse eines Königlichen Försters des Kreises Wehlau in russischer Gefangenschaft. 23
an meiner Försterei vorbei. Ich sah ein leeres Pferd — der Offizier fehlte. Bald kamen nun größere Kavallerieabteilungen angerückt und zogen nach der Ringlacker Gegend, ohne sich um mich zu kümmern. Nachmittags vier Uhr erschien wieder eine Offizierpatrouille auf meinem Gehöft und nahm den noch vorhandenen Hafer und zwei Seiten Speck. Ich wurde nach nichts gefragt.
Um sieben Uhr sah ich zwei lange Leiterwagen auf die Försterei zukommen. Auf jedem Wagen saßen ein Offizier und 20 russische Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr. Ich trat aus dem Hause. Sofort wurde ich gepackt und auf den Wagen geworfen. Meine Fragen nach dem Grunde dieser Behandlung wurden nicht beantwortet. Haus und Hof mußte ich offen lassen und fort ging's längs der Forstgrenze bis in die Nähe des Dorfes Skaticken. Hier zeigte sich eine deutsche Patrouille. Die Russen schwärmten aus, und es wurden mehrere Schüsse gewechselt. Ich mußte auf dem Wagen liegen bleiben, bewacht von drei Russen mit aufgepflanzten, geladenen Gewehren.
Mit Eintritt der Dunkelheit hörten die Einzelschüsse auf. Die Russen begannen nun unter schrillen Pfiffen am Waldessäume den am Morgen erschossenen Offizier zu suchen, ohne Erfolg. Nun setzten sie sich wieder auf die Wagen und fuhren mit mir über Pareyken und Wachlacken nach Groß Aßlacken. Hier mußte ich mich neben den Offizier setzen und wurde gezwungen, die Steinchaussee entlang über Groß Schirrau und Gut Plompen nach Weidlacken zu fahren.
Hier langten wir um Mitternacht an, es war stockfinster. Ich wurde auf
ein Gehöft zu einem General geführt. Dieser schlief aber schon. Darum
ging es zurück ins russische Lager vor dem Dorfe, wo ich unter strenger Bewachung bis zum Morgen blieb. Welche Gedanken mich da quälten, vermag ich nicht zu schildern. Von den Russen konnte niemand deutsch sprechen. Aber alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß ich erschossen werden sollte.
Am Morgen wurde ich vor den General geführt, einen griesgrämigen Herrn. Ich erzählte von meinem Zusammentreffen mit der ersten Offizierspatrouille und bewies ihm, daß ich an den weiteren Begebenheiten unschuldig sei. Er antwortete nichts darauf, sondern sprach nur einige Worte auf russisch zu dem Offizier, der mich vorgeführt hatte. Nun wußte ich, was mich erwartete. Ich wurde wieder durch das Dorf Weidlacken gebracht. Die dort zurückgebliebenen Einwohner, die mich ja alle kannten, falteten die Hände und baten um Gnade für mich. Sie erhielten keine Antwort. Da winkten
sie mir stumm zu, es war ein Abschiedsgruß; sie wußten es schon, daß dies
mein letzter Gang war.
Auf einer Anhöhe in der Nähe des vor dem Dorfe gelegenen Friedhofes mußte ich niederknieen, hinter mir gruben einige Russen mein Grab. Etwa zehn Schritte vor mir standen drei Soldaten und luden ihre Gewehre. Feigheit hat mir bisher niemand vorwerfen können, aber nun brach mir doch der kalte Todesschweiß aus. Der Gedanke an mein fernes Weib und verlassenes Kind ließ mein Herz in tiefem Weh erzittern. Einzelne Bilder aus meinem Leben tauchten mit merkwürdiger Klarheit vor mir auf. In kurzem
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Aus der Zeit des zweiten Nusseneinfalls in Ostpreußen.
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Schweinebraten, Zigarren, Wein, Kuchen, Brot, Butter, alles in großer Fülle. Die russischen Gefangenen haben es bei uns wie im Himmel."
Der Russe horchte auf, und seine Augen leuchteten vor seliger Hoffnung: „Bruder, ich möchte schon, für mein Leben gern — aber —" Er hielt an und flüsterte geheimnisvoll: „Die verfluchten Kosaken! — Die passen auf! diese Teufel!"
Dann reichten wir uns die Hand. Und nun ging es ans Schleichen und Ducken. Solange die Nacht währte, kamen wir vorwärts. Der Morgen brach an. Schon waren wir in der Nähe von Buddern. Da auf einmal taucht vor uns eine Schwadron Kosaken auf. Ach, wir konnten ihnen nicht entfliehen. Und bald kamen sie heran und forschten. Der Russe sagte ihnen Bescheid. Er habe mich als Gefangenen zum General nach Groß P. zu bringen und den Weg verfehlt. Sie ließen uns nun gehen, aber nicht vorwärts gegen die deutschen Linien, sondern rückwärts. Unser Plan war vereitelt.
Wir kamen zum Hauptquartier nach Groß P. Hier fanden wir noch viele andere deutsche Landbewohner als Gefangene: Greise, Männer, Frauen und Kinder. Unter ihnen sah ich auch den alten Glöckner aus Kutten, Kadzun. Der General betrachtete mich und sagte: „Pascholl, wieder nach Hause!"
Ich bat um eine Bescheinigung, damit mich die russischen Posten durchlassen möchten. Er sagte: „Ich habe keine Zeit. Mein Pferd ist gesattelt, ich muß fortreiten."
Es war so, wie ich befürchtete. Die Russen ließen mich nicht nach Hause zurückkehren, sondern führten mich mit den anderen Gefangenen zu Fuß über Kutten, Lissen, Rotebude und Eichen nach Marggrabowa und dann über die Grenze nach Suwalki.
In Suwalki blieben wir zwei Tage. Dort schickte uns der Kommandant zurück nach Marggrabowa. Hier waren etwa 3000 Leidensgefährten zusammengetrieben. In den großen Schulhäusern waren wir eingesperrt, 65 bis 100 in einem Zimmer. Bänke und Tische hatten die Russen schon vorher verbrannt. Ein Strohlager gab es auch nicht. Wir mußten auf dem harten Boden schlafen. Wir gewöhnten uns auch daran, obgleich die Glieder sehr schmerzten.
Zuletzt wurden wir gesichtet. Alle Personen zwischen 15 und 50 Jahren wurden ins Innere Rußlands abgeführt. Uns Altere ließ man nach Hause gehen. Jeder bekam einen Erlaubnisschein, heimzukehren. Aber der nützte uns doch nichts. Auf unserer Rückkehr wurden wir in Eichen von den Kosaken aufgehalten und nach dem Dorfe Czukten im Kreise Oletzko zurückgebracht.
Hier lebten wir von dürftiger Nahrung bis zu unserer Befreiung durch den großen Sieg Hindenburgs.
Als ich dann heimkehrte, fand ich mein Haus und Hof wüst und leer, das Dach zertrümmert, Fenster und Türen herausgerissen und verbrannt. Stühle, Tische und Betten sind fort. Es regnet und schneit in die Wohnung hinein.
Da stand ich nun in meinem eigenen Heim als Bettler — ich, der reiche Hundsdörfer, ein elender Bettler! Da nahm ich meine einzige Habe, den
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