Goethe in Italien.
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gab es kaum Kupferstiche. Nun stand er da, wo die Dinge selbst sich
boten, in einer Fülle, die zuerst auch nur im ganzen zu überschlagen
fast unmöglich schien.
Vier Monate dauerte Goethes erster römischer Aufenthalt. Schon
zu Ende des Jahres hatte er die Absicht, nach Weimar zurückzukehren.
Er fühlte sich, schreibt er, von einer ungeheueren Leidenschaft und
Krankheit geheilt, wieder zum Lebensgenuß, zum Genuß der Geschichte,
der Dichtkunst und Altertümer genesen. Es genügte ihm, soviel ge-
wonnen zu haben; seine Bescheidenheit dem Herzoge und dem Lande
gegenüber, von dem er einen hohen Lohn bezog, erinnerten an die Rück-
kehr. In den Weimaraner Zirkeln beurteilte man seine Abwesenheit
in mißgünstiger Weise. Goethe verzehre das viele Geld in angenehmem
Nichtsthun, sagte man, während zu Hause schlechterbezahlte Beamte
seine Geschäfte noch obendrein besorgen müßten. Goethen blieb das
gewiß kein Geheimnis, aber der Herzog selbst beruhigte ihn, gewährte
ihm neuen, unbestimmten Urlaub und forderte ihn freundlich auf, den
ausgedehntesten Gebrauch davon zu machen.
So entschloß sich Goethe denn, nach Süden weiter vorzudringen.
Anfang Februar 1787 geht er nach Neapel. Gegen das, was er hier
fand, mußte für den Augenblick jeder frühere Eindruck weichen. Rom
mit seiner Bewegung war doch die Stille selbst im Vergleich zu dem
Treiben von Neapel. Was aber kommt auf gegen diese Natur? „Hier
ist mehr als alles," schreibt Goethe. „Ich bin nach meiner Art ganz
stille und mache nur, wenn es gar zu toll wird, große, große Augen."
In einer unaufhörlichen Berauschung erschien ihm die Welt da zu
leben und er selbst ward mit hineingezogen in den Taumel. Wer
dachte damals an Politik in Neapel? Sorglos strömte das Leben der
Leute so hin, sorglos selbst heute noch, denn diese Menschen scheinen
auch nicht durch die kleinste Last bedrückender Gedanken beschwert zu
sein. Man kommt nicht zur Ruhe. Musik, Gesang, Schießen, Schreien
und nachts Feuerwerk bilden ein ewiges Getöse. Niemals ist es stille
dort bei Tag und Nacht, nur die heißesten Mittagsstunden ausge-
nommen. Die geringfügigste Verhandlung wird mit Leidenschaft ge-
führt. Pracht, die aber kein Reichtum zu sein braucht, Armut, die
aber niemand Elend nennen kann, Schmutz und Gold: alles dicht
nebeneinander, und für den, der unsere Begriffe bürgerlicher Moral
anlegen wollte, ein Zustand babylonischer Begriffsverwirrung. Lügen
und die Wahrheit sagen, stehlen und ehrlich sein, Treue und Betrug
sind für die Neapolitaner im allgemeinen Dinge, zwischen denen nur
der Unterschied waltet, daß dem einen das eine, dem andern das
andere im Alómente gerade das bequemere ist: — an sich scheint den
Leuten eins genau denselben Wert zu haben wie das andere. Zugleich
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Johann Gottfried Herder.
keiner Dissertation; wir erkennen sie alle und sehen ihren Bau auf
einander. Wer im Frühling nicht säet, wird im Sommer nicht ernten,
im Herbst und Winter nicht genießen; er trage sein Schicksal. Wer
als Greis thun will und nicht mehr zu thun vermag, was er als
Jüngling mit Ehren thun durfte, gerät an eine unrechte Hora; er
trage sein Schicksal. Jedermann hat hierüber den Kompaß in sich, der
ihm sagt: „jetzt ist es Zeit; jetzt nicht mehr Zeit. Die Stunde ist
vorüber." Will er das Schicksal herausfordern, so wage ers auf seine
eigne Kosten. In der Jugend darf man wagen; das Glück, sagt man,
ist ein Weib; es gefällt sich an Etourderieen der Jugend. Wehe dem
aber, der diese über den Punkt bis zum Alter hinaus treibet! Wehe
dem, der von allen Wagnissen jüngerer Jahre, in welchen das Glück
ihm beistand, nichts als einen üblen Namen und ein Bewußtsein lauter
nichtiger, verfehlter Pläne davon trägt. Er hat sich einen üblen
Winter bereitet, und darf nicht eben mit Freude sagen: „das ist mein
Schicksal."
Von Schriftstellern und berühmten Männern braucht man den
Ausdruck: „um diese Zeit hat er geblühet". Von berühmten und
glücklichen Schönen sagt man ein Gleiches. Mancher blühete, wie der
Feigenbaum, früh, ehe noch seine Blätter da waren; die Blüte ging
bald vorüber. Mancher, wie der Mandelbaum, spät und bei grauen
Haaren. Daher er auch seine Blüte ins Grab nimmt. Der nüchterne
Mann, der sich die Sophrosyne zur Freundin erwählte, weiß, wenn
er blühen und nicht mehr blühen, wenn er Früchte bringen soll. Er
will und mag seine Jugend nicht verlängern, nicht das Höchste seines
Lebens zu einem noch Höheren treiben; sondern bereitet sich, so lange
es sein kann, zu bestehen, und allgemach hinabzuschreiten. Die Göttin
Nüchternheit bewahrt ihn vor dem bösen Schicksal, sich selbst zu über-
leben. Er ändert seine Kleider nach der Jahreszeit, und erlebt zuweilen
im Herbst eine verspätete Rose, oder nach ruhig durchlebtem Winter
die ersten Veilchen eines neuen Frühlings.
Traurig ist's aber, wenn eine schlechte Verfassung der Menschen
den Greis wider seinen Willen zum Jünglinge, zu einem Brautwerber
des Glücks, der Gunst und des Beifalls mit grauen Haaren macht,
damit er und die Seinen nicht Hungers sterben. Hinter dem fünfzigsten
Jahre sollte wohl kein würdiger Mann mehr betteln dürfen, wenn er
dreißig derselben in nützlicher Arbeit hingebracht hat. Meistens hat
sich in diesen dreißig Jahren die Welt und er selbst so verändert, daß
er nicht mehr von vorn anfangen kann; so wenig es dem Strom, der
dreißig Meilen fortfloß, zuzumuten ist, daß er zur Quelle zurückkehre.
Einen verdienten Mann im Alter seinem Schicksal zu über-
lassen, ist eine Undankbarkeit, von der auch die Wilden nichts wissen,
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Extrahierte Personennamen: Johann_Gottfried_Herder Johann
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der im Jahre 1482 zu Venedig auf öffentlichem Markte einen Knaul Bind-
faden in die Wolken fchmiß, und daran in die Luft kletterte, bis man ihn
nicht mehr gesehen. Er wird mit dem 9. Jänner dieses Jahres anfangen,
feine Einthalerkünste auf dem hiesigen Kaufhause*) öffentlich-heimlich den
Augen des Publikums vorzulegen, und wöchentlich zu besseren fortschreiten,
bis er endlich zu seinen 500 Louisdorstücken kommt, worunter sich einige
befinden, die, ohne Prahlerei zu reden, das Wunderbare selbst übertreffen,
ja so zu sagen schlechterdings unmöglich sind.
Es hat derselbe die Gnade gehabt, vor allen hohen und niedrigen Poten-
taten aller 4 Welttheile, und noch vorige Woche auch sogar im 5ten vor
Jhro Majestät der Königin Oberea auf Otahaiti, mit dem größten Beifalle
feine Künste zu machen.
Er wird sich hier alle Tage und alle Stunden des Tagel sehen lassen,
ausgenommen Montags und Donnerstags nicht, da er dem ehrwürdigen
Congrefse seiner Landsleute zu Philadelphia die Grillen verjagt, und nicht
von 11—12 des Vormittags, da er zu Constantinopel engagirt ist, und
nicht von 12—1, da er speiset.
Von den Alltagsstückchen zu einem Thaler wollen wi» einige angeben,
nicht sowohl die besten, als vielmehr die, welche sich mit den wenigsten
Worten fassen lassen.
1. Nimmt er, ohne aus der Stube zu gehen, den Wetterhahn von der
Jacobikirche ab, und setzt ihn auf die Johanniskirche, und wiederum die
Fahne des Johanniskirchthurms auf die Jacobikirche. Wenn Z sie ein paar
Minuten gesteckt, bringt er sie wieder an Ort und Stelle. Nb. Alles ohne
Magnet, durch die bloße Geschwindigkeit.
2. Nimmt er 6 Loth des besten Arseniks, pulverisirt und kocht ihn in
zwei Kannen Milch, und tractirt die Damen damit. Sobald ihnen übel
wird, läßt er sie 2—3 Löffel voll geschmolznes Blei nachtrinken, und die
Gesellschaft geht gutes Muthes und lachend auseinander.
3. Läßt er sich eine Holzaxt bringen, und schlägt damit einem Chapeau
vor den Kopf, daß er wie todt zur Erde fällt. Auf der Erde versetzt er ihm
den zweiten Streich, da dann der Chapeau aufsteht und gemeiniglich fragt:
was das für eine Musik sei? Uebrigens so gesund wie vorher.
4. Er zieht 3—4 Damen die Zähne sanft aus, läßt sie von der Gesell-
schaft in einem Beutel sorgfältig durch einander schütteln, ladet sie alsdann
in ein kleines Feldstück, und feuert sie besagten Damen auf die Köpfe,
da denn jede ihre Zähne rein und weiß wieder hat.
5. Ein metaphysisches Stück, worin er zeigt, daß wirklich etwas zugleich
sein und nicht sein kann. Erfordert große Zubereitung und Kosten, und giebt
er es bloß der Universität zu Ehren für einen Thaler.
6. Nimmt er alle Uhren, Ringe und Juwelen der Anwesenden, auch
baares Geld, wenn es verlangt wird, und stellt jedem einen Schein aus,
*) Ein zu Gastmahlen, Festivitäten und dergl. großen Zusammenkünften
gewöbnlich gebrauchtes Haus in Güttingen, dicht am Marktplatze.
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Extrahierte Personennamen: Knaul
Extrahierte Ortsnamen: Königin_Oberea Philadelphia Constantinopel Johanniskirche Johanniskirchthurms Güttingen