Hilfe und Dokumentation zu WdK-Explorer

Diagramm für Aktuelle Auwahl statistik

1. Abt. 8 = Für Prima - S. III

1908 - Berlin : Grote
Deutsches Lesebuch für Here Lehranstalten. Achte Abteilung, für P r í m a, Geh. Reg.-Rat Professor Dr. C Í) f. U f f, Rektor der Königlichen Landesschule Pforta. Die Sprache ist tief in die geistige Entwicklung der Menschheit verschlungen, sie begleitet dieselbe auf jeder Stufe ihres Bor- und Rückschreibens, und der jedesmalige Kulturzustand wird auch in ihr erkennbar. Wilhelm von Humboldt. Dritte, verbesserte Auflage. Berlin, G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung. 1908.

2. Abt. 8 = Für Prima - S. V

1908 - Berlin : Grote
Die Frage, ob ein deutsches Lesebuch in Prima gebraucht werden soll oder nicht, kaun hier nicht näher erörtert werden. Ich verweise darüber auf den vortrefflichen Auf- satz, den A. Matthias in der Zeitschrift für das Gymnasialwesen, Jahrgang 1889, Seite 641 ff. veröffentlicht hat und in dem er zu folgendem Ergebnis kommt: „Ein literar- historisches Lesebuch ist kein dringendes Bedürfnis; wenn ein Lehrerkollegium nicht ohne dasselbe fertig werden kann, mag es gute Dienste leisten. Daß es feelenverderberisch wirke, ist wohl kaum anzunehmen. Ein rhetorisch-stilistisches oder, sagen wir besser, ein philo- sophisches Lesebuch werden wir kaum entbehren können, wenn wir den Lehrplänen und allen billigen Anforderungen, welche man an den deutschen Unterricht stellen muß, genügen wollen. Die Frage, wie ein solches philosophisches Lesebuch eingerichtet sein soll, ist noch nicht vollständig gelöst. Ihre Lösung ist aber des Schweißes der Edeln wert." Diese Sätze sind mir aus der Seele geschrieben. Auch ich bin der Meinung, daß man auf eine Zusammenstellung literargeschichtlicher Charakteristiken mit entsprechenden Proben ganz gut verzichten kann. Die „Chrestomathien- leserei" hat sogar, wie Henke im 1. Heft der Lehrplanübersichten des Barmer Gymnasiums 1884 nachweist, ihre großen Gefahren, insofern sie zur Oberflächlichkeit und zum Wissens- dünkel verführen kann. Es genügt vollkommen, wenn der Lehrer, der seinen Schülern Lebensbilder aus der deutschen Literaturgeschichte vom Beginn des sechzehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in knapper Darstellung vorführt (siehe Lehrpläne von 1892, Seite 15), ihnen das Verständnis durch Vorlesen charakteristischer Stellen aus den Schriften der Männer erleichtert und fördert. Dagegen halte ich die Einführung einer Sanunlnng gediegener Aufsätze, eines rhetorisch-stilistischen oder philosophischen Lesebuches, wie Matthias es nennt, für durchaus wünschenswert, wenn nicht für notwendig. Wohl sollen unsere Klassiker mit bestimmten, besonders wertvollen und geeigneten Werken im Mittelpunkt des deutschen Unterrichts stehen; aber die Prosa der großen Schriftsteller gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gehört, wie Matthias treffend bemerkt, im wesentlichen einer literarisch-ästhetischen Periode unserer Geschichte an, wo das historische und politische Interesse vor den Beschäftigungen mit Poesie und Philosophie sehr zurücktrat. Wenn also auch die nachgvethischen Prosaiker, in denen der Pulsschlag einer kräftigen, politisch, historischen Zeit sich regt, zur Geltung kommen sollen, so muß das Lesebuch eintreten und Aufsätze bringen, die den großen Gebieten der Theorie und Praxis, der Religion und Philosophie, der Welt-, Kultur- und Kunstgeschichte, der Naturwissenschaft und der Sozialpolitik entnommen sind. Auf diese

3. Abt. 8 = Für Prima - S. VI

1908 - Berlin : Grote
Vi Vorwort. Weise wird am besten die unerläßliche Bekanntschaft mit dem Leben der Gegenwart und seinen Bestrebungen vermittelt. Man werfe nicht ein, daß durch die Schülerbibliothek und durch die Möglichkeit billiger Beschaffung von Büchern aller Art unseren Primanern sein reicher Wissensstoff zugeführt werden könne und zugeführt werde. Es kommt nicht auf reichen, sondern auf passenden Stoff an; es gilt nicht ein wüstes Aufspeichern von Kenntnissen, sondern eine angemessene, regelrecht fortschreitende Erweiterung des Gesichtskreises und Vertiefung der Gedankenwelt im Anschluß an den Unterricht. So soll das Lesebuch nicht der Zersplitterung Vorschub leisten, sondern das Wissen verdichten und einigen. Es ist daher bei der Aus- wahl der Stücke in diesem Buche mit der größten Sorgfalt verfahren worden. Die maß- gebenden Unterrichtsfächer der Klasse sind alle bedacht, und immer sind cs allgemeine Gesichtspunkte, Grundbegriffe, hervorragende Persönlichkeiten und wertvolle Werke, über die gehandelt und Aufschluß gegeben wird. Von ebensogroßer, wenn nicht von größerer Wichtigkeit ist ein zweiter Punkt, der nämlich, daß durch das Lesebuch das Denken ganz besonders geübt und geschult werde. Auf diese Forderung wird in den Lehrplänen von 1892, Seite 16 mit den Worten hin- gewiesen: „An die Stelle der genannten Prosalektüre tritt unter Umständen in Ib wie in Ia die Durcharbeitung schwierigerer Stücke eines Lesebuches für I". Vielleicht hätte es nur zu heißen brauchen „ihnen zur Seite", nicht „au ihre Stelle", und dann hätte das Verfahren wohl mehr empfohlen werden können. Denn gerade von ihm gilt das, was an einer anderen Stelle (Seite 18) von der zweckmäßig geleiteten Prosalektüre gesagt wird, daß sie die 'oft recht unfruchtbar betriebene und als besondere Lehraufgabe aus- geschiedene philosophische Propädeutik ersetzen könne. Zu dem Zwecke habe ich fast durchweg solche Aufsätze gewühlt, die der Geisteskraft, vor allem der Verstandestätigkeit des Schülers etwas zumuten, ihn zu ernster Mitarbeit zwingen und ihn anleiten, folgerichtig zu denken, zu entwickeln und zu schließen. Sie sind also eine gute Vorschule für die eigenen Aufsätze und für die ganze große Denk- arbeit im Leben. Eine dritte Forderung, daß alles, was geboten wird, in gutem Deutsch geschrieben sei, um auf die Darstellung des Schülers vorbildlich einwirken zu können, ist zu selbst- verständlich, als daß sie noch besonders betont zu werden brauchte. Paul Cauer hat in der Zeitschrift für das Gymuasialwesen, Heft Juli-August 1894, eine besondere Abhandlung geschrieben, um ausführlich darzulegen, wie er einzelne Stücke des von ihm herausgegebenen und, wie ich gern anerkenne, guten Lesebuches niit seinen Primanern behandelt. Diese sehr sinnige Art der Behandlung dürfte sich ohne weiteres auch an meinen Lesestücken vornehmen lassen; ich verzichte aber auf eine Angabe der Gründe, warum ich gerade diese Aufsätze ausgewählt und gerade diese Reihenfolge beobachtet habe. Ob es mir gelungen ist, etwas zur Lösung der Frage beizutragen, der, wie wir oben gesehen hatten, mit Recht so (große Wichtigkeit beigelegt wird? Ich darf es nur wünschen und hoffen, entscheiden mögen es die, die das Lesebuch benutzen. Auch bei der Ausgabe dieser Abteilung habe ich wieder die Freude, für geleistete Hilfe danken zu können. Ich hätte ein Buch von (diesem Umfange in so kurzer Zeit nicht herstellen können, hätte ich nicht Kollegen gefunden, die bereit und geschickt waren, in einem Geiste mit mir zu arbeiten. Das sind die Herren Oberlehrer vr. Hildebrandt und Hahn in Stettin, Hochhuth in Wiesbaden, vr. Rausch in Jena, Franz, Manns und Dr. Eigenbrodt in Kassel. Ich spreche ihnen allen für (die guten Dienste, die sie mir und dem Werke geleistet haben, meinen tiefgefühlten Dank aus.

4. Abt. 8 = Für Prima - S. VII

1908 - Berlin : Grote
Vorwort. Vii Mit dem Teile für Prima, der hier vorliegt, erhält das von mir herausgegebene Lesebuch seinen Abschluß, nachdem auch die beiden Teile für die Vorklassen einer Neu- bearbeitung unterzogen sind. Möge das zehnbändige Werk, das den Lesestoff von der Oktava der Vorschule bis zur Prima des Gymnasiums nach einheitlichem Plane dar- bietet, an den deutschen Schulen in Segen wirken! Kassel, den 25. Januar 1895. Christian Muff. Vorwort zur zweiten Auflage. Die zweite Auflage unterscheidet sich von der ersten nur darin, daß die neue Recht- schreibung durchgeführt und in den Angaben alles berichtigt ist, was etwa versehen war. Tiefergreifende Änderungen bleiben der nächsten Auflage vorbehalten. Pforta, den 1. März 1903. Christian Muff. Vorwort zur dritten Auflage. In der vorliegenden dritten Auflage des Lesebuches für Prima, die früher nötig ge- worden ist, als man erwarten durfte, löse ich das Versprechen ein, das ich im Vorwort zur zweiten Auflage gegeben habe. Es hieß dort am Schluß: „Tiefergreifende Änderungen bleiben der nächsten Auflage vorbehalten." Aber ist das erlaubt? Ist nicht vielmehr, und zwar mit gutem Recht, von den Behörden immer wieder befohlen worden, die verschiedenen Auflagen von Lehr- und Lesebüchern in solcher Übereinstimmung zu halten, daß sie bequem nebeneinander gebraucht werden können? Doch das gilt nur für die unteren und mittleren Klaffen, in denen das Lesebuch dem Unterrichte zugrunde liegt und wo es sich von Bruder auf Bruder vererbt. In Prima dagegen, wo das Lesebuch nur zur Ergänzung der Klassiker- lektüre dient und wo nur ab und zu ein Stück herausgegriffen wird, um logischen und stilistischen Zwecken zu dienen, ist eine völlige Übereinstimmung der verschiedenen Auf- lagen nicht erforderlich, auch schon um deswillen nicht, weil Lesebücher für Prima danach angetan sind, den abgehenden Schüler ins Leben zu geleiten. Schließlich ist der Eingriff, den ich mir gestattet habe, nicht allzu groß; es sind neun Stücke entfernt und sieben neue dafür aufgenommen worden. Ich denke, daß die Veränderungen zugleich Verbesserungen sind. Die Philosophie ist zu größerer Geltung gekommen, und auf den ausdrücklichen Wunsch von Lehrern realistischer Anstalten ist das klassische Altertum mehr als bisher berücksichtigt worden. Möge es dem Buche auch in der neuen Auflage vergönnt sein, zur rechten Bildung und Erziehung unserer Jugend das Seine beizutragen! Pforta, den 15. Januar 1908. Christian Muff.

5. Abt. 8 = Für Prima - S. 2

1908 - Berlin : Grote
2 von Helmholtz: Über wissenschaftliche Arbeit. gedruckt vor sich liegen hat. Es muß eben auch dabei jede einzelne Tat- sache durch aufmerksame Beobachtung aufgefunden, nachher geprüft und ver- glichen werden, es muß das Wichtige von dem Unwichtigen gesondert werden, und dies alles kann offenbar nur jemand tun, der den Zweck, zu welchem gesammelt wird, den geistigen Inhalt der betreffenden Wissenschaft und ihre Methoden lebendig aufgefaßt hat, und für einen solchen wird auch jeder einzelne Fall wieder in Zusammenhang mit dem Ganzen treten und sein eigentümliches Interesse haben. Sonst würde ja auch eine solche Arbeit die schlimmste Sklavenarbeit sein, die sich ausdenken ließe. Daß auch aus diese Werke die fortschreitende Jdeenentwicklung der Wissenschaft Einfluß hat, zeigt sich eben darin, daß man fortdauernd neue Lexika, neue natur- historische Systeme, neue Gesetzsammlungen, neue Sternkataloge auszuarbeiten für nötig findet; darin spricht sich die fortschreitende Kunst der Methode und der Organisation des Wissens aus. Unser Wissen soll nun aber nicht in der Form der Kataloge liegen bleiben; denn eben, daß wir es in dieser Form, schwarz auf weiß gedruckt, äußerlich mit uns herumtragen müssen, zeigt an, daß wir es geistig nicht bezwungen haben. Es ist nicht genug, die Tatsachen zu kennen; Wissen- schaft entsteht erst, wenn sich ihr Gesetz und ihre Ursachen enthüllen. Die logische Verarbeitung des gegebenen Stoffs besteht zunächst darin, daß wir das Ähnliche zusammenschließen und einen allgemeinen Begriff ausbilden, der es umfaßt. Ein solcher Begriff begreift, wie sein Name andeutet, eine Menge von Einzelheiten in sich und vertritt sie in unserem Denken. Wir nennen ihn Gattungsbegriff, wenn er eine Menge existierender Dinge, wir nennen ihn Gesetz, wenn er eine Reihe von Vorgängen oder Ereignissen umfaßt. Wenn ich ermittelt habe, daß alle Säugetiere, d. h. alle warm- blütigen Tiere, welche lebendige Junge gebären, auch zugleich durch Lungen atmen, zwei Herzkammern und mindestens drei Gehörknöchelchen haben, so brauche ich die genannten anatomischen Eigentümlichkeiten nicht mehr vom Affen, Pferde, Hunde und Walfisch einzeln zu behalten. Die allgemeine Regel umfaßt hier eine ungeheure Menge von einzelnen Fällen und vertritt sie im Gedächtnis. Wenn ich das Brechungsgesetz der Lichtstrahlen aus- spreche, so umfaßt dieses Gesetz nicht nur die Fälle, wo Strahlen unter den verschiedensten Winkeln auf eine einzelne ebene Wasserfläche fallen, und gibt mir Auskunft über den Erfolg, sondern es umfaßt alle Fälle, wo Licht- strahlen irgendeiner Farbe auf die irgendwie gestaltete Oberfläche einer irgend- wie gearteten durchsichtigen Substanz fallen. Es umfaßt also dieses Gesetz eine wirklich unendliche Masse von Fällen, welche im Gedächtnisse einzeln zu bewahren gar nicht möglich gewesen sein würde. Dabei ist aber weiter zu bemerken, daß dieses Gesetz nicht nur diejenigen Fälle umfaßt, die wir

6. Abt. 8 = Für Prima - S. 3

1908 - Berlin : Grote
von Helmh oltz: über wissenschaftliche Arbeit. 3 selbst oder andere Menschen schon beobachtet haben, sondern wir werden auch nicht anstehen, es ans neue, noch nicht beobachtete Fälle anzuwenden, um den Erfolg der Lichtbrechung danach vorauszusagen, und werden uns in unserer Erwartung nicht getäuscht finden. Ebenso werden wir, falls wir ein unbekanntes, noch nicht anatomisch zerlegtes Säugetier finden sollten, mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit voraussetzen dürfen, daß es Lungen, zwei Herzkammern und drei oder mehr Gehörknöchelchen habe. Indem wir also die Tatsachen der Erfahrung denkend zusammenfassen und Begriffe bilden, seien es nun Gattungsbegriffe oder Gesetze, so bringen wir unser Wissen nicht nur in eine Form, in der es leicht zu handhaben und aufzubewahren ist, sondern wir erweitern es auch, da wir die gefundenen Regeln und Gesetze auch auf alle ähnlichen künftig noch aufzufindenden Fälle auszudehnen uns berechtigt fühlen. Die genannten Beispiele sind solche, in denen die Zusammenfassung der Einzelfälle durch Denken zu Begriffen keine Schwierigkeit mehr findet und das Wesen des ganzen Vorgangs klar vor Augen liegt. Aber in komplizierten Fällen gelingt es uns nicht so gut, das Ähnliche ganz zu scheiden vom Unähnlichen und es zu einem scharf und klar begrenzten Be- griffe zusammenzufassen. Nehmen Sie an, daß wir einen Menschen als ehrgeizig kennen; wir werden vielleicht mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, daß, wenn dieser Mann unter gewissen Bedingungen zu handeln haben wird, er seinem Ehrgeize folgen und sich für eine gewisse Art des Handelns ent- scheiden wird. Aber weder können wir mit voller Bestimmtheit definieren, woran ein Ehrgeiziger zu erkennen ist oder nach welchem Maß der Grad seines Ehrgeizes zu messen ist, noch können wir mit Bestimmtheit sagen, welcher Grad des Ehrgeizes vorhanden sein muß, damit er in dem betreffenden Falle den Handlungen des Mannes gerade die betreffende Richtung gebe. Wir machen also unsere Vergleichungen zwischen den bisher beobachteten Handlungen des einen Mannes und zwischen den Handlungen anderer Männer, welche in ähnlichen Fällen ähnlich gehandelt haben, und ziehen unseren Schluß auf den Erfolg der künftigen Handlungen, ohne weder den Major noch den Minor dieses Schlusses in einer bestimmten und deutlich begrenzten Form aussprechen zu können, ja ohne uns vielleicht selbst klar gemacht zu haben, daß unsere Vorhersagung auf der beschriebenen Vergleichung beruht. Unser Urteil geht in einem solchen Falle nur aus einem gewissen psychologischen Takte, nicht aus bewußtem Schließen hervor, obgleich im wesentlichen der geistige Prozeß derselbe geblieben ist wie in dem Falle, wo wir einem neugefundenen Säugetier Lungen zuschreiben. Diese letztere Art der Induktion nun, welche nicht bis zur vollendeten des logischen Schließens, nicht zur Aufstellung ausnahmslos geltender Ge-

7. Abt. 8 = Für Prima - S. 4

1908 - Berlin : Grote
4 von Helmholtz: Über wissenschaftliche Arbeit. setze durchgeführt werden kann, spielt im menschlichen Leben eine ungeheuer ausgebreitete Rolle. Auf ihr beruht die ganze Ausbildung unserer Sinnes- wahrnehmungen, wie sich namentlich durch die Untersuchung der sogenannten Sinnestäuschungen nachweisen läßt. Wenn z. B. in unserem Auge die Nerven- ausbreitung durch einen Stoß gereizt wird, so bilden wir die Vorstellung von Licht im Gesichtsfelde, weil wir unser ganzes Leben lang Reizung in unseren Sehnervenfasern nur gefühlt haben, so oft Licht im Gesichtsfelde war, und gewöhnt sind, die Empfindung der Sehnervenfasern mit Licht im Gesichtsfelde zu identifizieren, was wir auch in einem Falle tun, wo es nicht paßt. Dieselbe Art der Induktion spielt denn auch eine Hauptrolle den psychologischen Vorgängen gegenüber wegen der außerordentlichen Ver- wicklung der Einflüsse, welche die Bildung des Charakters und der momentanen Gemütsstimmung der Menschen bedingen. Ja, da wir uns selbst freien Willen zuschreiben, d. h. die Fähigkeit, aus eigener Machtvollkommenheit zu handeln, ohne dabei von einem strengen und unausweichlichen Kausalitäts- gesetze gezwungen zu sein, so leugnen wir dadurch überhaupt ganz und gar die Möglichkeit, wenigstens einen Teil der Äußerungen unserer Seelentätigkeit auf ein streng bindendes Gesetz zurückzuführen. Man könnte nun diese Art der Induktion im Gegensatze zu der logischen, welche es zu scharf definierteu allgemeinen Sätzen bringt, die künstlerische Induktion nennen, weil sie im höchsten Grade bei den ausgezeichnetern Kunstwerken hervortritt. Es ist ein wesentlicher Teil des künstlerischen Talents, die charakteristischen äußern Kennzeichen eines Charakters und einer Stimmung durch Worte, Form und Farbe oder Töne wiedergeben zu können und durch eine Art instinktiver Anschauung zu erfassen, wie sich die Seelen- zustände fortentwickeln müssen, ohne dabei durch irgendeine faßbare Regel geleitet zu sein. Im Gegenteil, wo wir merken, daß der Künstler mit Be- wußtsein nach allgemeinen Regeln und Abstraktionen gearbeitet hat, finden wir sein Werk arm und trivial, da ist es mit unserer Bewunderung zu Ende. Die Werke der großen Künstler dagegen bringen mit einer Lebhaftig- keit, einem Reichtum an individuellen Zügen und einer überzeugenden Kraft der Wahrheit die Bilder der Charaktere und Stimmungen uns entgegen, welche der Wirklichkeit fast überlegen scheint, weil die störenden Momente daraus fortbleiben. Überblicken wir nun die Reihe der Wissenschaften mit Beziehung auf die Art, wie sie ihre Resultate zu ziehen haben, so tritt uns ein durch- gehender Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geistes- wissenschaften entgegen. Die Naturwissenschaften find meist imstande, ihre Induktionen bis zu scharf ausgesprochenen allgemeinen Regeln und Gesetzen durchzuführen, die Geisteswissenschaften dagegen haben es überwiegend mit

8. Abt. 8 = Für Prima - S. 45

1908 - Berlin : Grote
Erdmann: Die fünf Sinne. 45 Fiktion. Ich erinnere mich, vor Jahren von einem unglücklichen Mädchen in Nordamerika gelesen zu haben, das, taubstumm und blind (zwar nicht geboren, aber schon im zweiten Jahre geworden), seinen Geruch und Ge- schmack verlor und dennoch seine menschliche Individualität nicht eingebüßt hatte, sondern weit über das Tierische hinausgehende Gefühle und Gedanken verriet. Auf der anderen Seite ist sehr leicht zu zeigen, daß bei völliger Ausbildung der vier anderen Sinne, wenn der Gefühlssinn mangelte, der Mensch in seiner Entwicklung außerordentlich zurückbleiben müßte. Woher weiß ich eigentlich, daß die Hand, die hier vor mir auf dem Papiere liegt, die meine ist? Das Auge sagt es mir nicht, es sagt mir höchstens, daß sie sichtbar ist. Daß aber, wenn ich sie mit der anderen Hand berühre, gleichzeitig immer zwei Empfindungen sich vereinigen, daß ich die eine Hand fühle, die andere betaste und mein Fühlen und Tasten eins ist, das ist ein Anstreifen an jenes Sicherfassen, welches man Ich nennt. Ganz ohne Ge- fühlssinn wären wir also außerstande, unseren Leib von anderen Gegenständen zu unterscheiden, und wollen Sie sich nun wundern, wenn dieser, ich möchte sagen, Subjektivitätssinn nicht nur das Organ der größten Lust und der intensivsten Schmerzen ist, sondern auch das hauptsächlichste Mittel für den Menschen, zu sich selbst zu kommen? Ebenso aber auch, um hinter das Wesen der Dinge zu kommen. Während wir (den Fall ausgenommen, daß der Durchmesser des Gegenstandes kleiner ist als die Distanz unserer Augen) jeden Gegenstand zurzeit nur von einer Seite sehen und auch diese eigent- lich nur sukzessive in ihren einzelnen Punkten fixieren, fassen wir eine Kugel, die unsere Finger halten, von zehn verschiedenen Seiten auf einmal; hier sind hinsichtlich der Form zehn Punkte gegeben, und so sicher, daß ich es sehr begreiflich finde, daß man, um eine Wahrheit recht unerschütterlich zu nennen, sie handgreiflich nennt. Was wir sehen, das scheint in unser Auge, was wir betasten, das scheint nicht nur, das ist; und wie darum der Ge- fühlssinn uns davor sichert, unseren Leib mit den übrigen Dingen zu einem großen Chaos zu vermischen, so ist auch er es, der uns versichert, daß wir es nicht mit Phantasmagorien zu tun haben. Lassen Sie mich, ehe ich die Empfindungen verlasse, noch eine Er- scheinung berücksichtigen, die dem Dämmernngsgebiete des menschlichen Lebens angehört. Was ist wohl von jenen Erzählungen zu halten, nach welchen in Krankheiten, namentlich in dem künstlich hervorgebrachten Schlafwachen, Metastasen der Sinnesempsindungen vorkommen sollen, so daß eine Som- nambule mit der Herzgrube sieht oder hört u. dergl.? Es gehören nun kaum anatomische Kenntnisse dazu, sondern bloß gesunder Menschenverstand, um einzusehen, daß es unmöglich ist, daß die Bedeckung der Herzgrube — (ich meine nicht bloß die Haut; denn jene Experimente sind, soviel ich weiß,

9. Abt. 8 = Für Prima - S. 46

1908 - Berlin : Grote
46 Erdmann: Die fünf Sinne. sogar gemacht worden, während die Kranken wenigstens ein Nachtkleid an- hatten) — sich in eine durchsichtige Hornhaut, in eine Linse usw. ver- wandle, daß es unmöglich ist, daß aus den Ganglien der Magengegend ein norvu8 optious werde, kurz, daß ein solches Vikarieren ebenso unmöglich ist, als daß ein Mensch mit der großen Zehe eine Arie singen kann. Wollen wir aber damit die Sache, um die sich's handelt, für abgetan halten, so wäre dies sehr übereilt; sie kann jener unsinnigen Ausdrücke ungeachtet doch etwas von Wahrheit in sich enthalten. Denken Sie an die Beschaffen- heit der niederen Geschöpfe! In ihnen scheint es keine spezifischen Sinnes- empfindungen, sondern nur eine unbestimmte Empfindung überhaupt zu geben, eine Empfindung, in der vielleicht noch nicht einmal eine Scheidung von Gemeingefühl und Sinnesempsindung stattgefunden hat. Gesetzt den Fall, in einer Krankheit hörte die Spezifikation der Sinne auf und es träte an ihre Stelle die unbestimmte Empfindung, fo wäre dies ein Zurück- fallen auf jenen niederen, ich möchte sagen Molluskenzustand. Ich kann mir einen solchen Zustand um so eher vorstellen, als ich in einem sehr heftigen Fieber als Vorläufer von Lachkrämpfen einen Zustand kennen ge- lernt habe, den ich noch jetzt, wenn ich nervös sehr angegriffen bin, manch- mal hervorrufen kann, welchen ich nicht anders beschreiben kann, als indem ich an Empfindungen der verschiedensten Sinne erinnere, indem ich sowohl sagen kann, mir sei so glatt oder kühl, oder auch, mir sei so hell zumute. Dies ist eine krankhafte, unbestimmte Empfindung, die ihren Sitz nicht in einem Sinnes- organe hat, sondern die durch den ganzen Leib hindurchgeht und deren Träger ich den Allsinn nennen möchte. Verbinde ich nun mit dieser eigenen Erfahrung die von anderen gemachten, daß nervös reizbare Personen die Präsenz einer Katze empfinden, wenn sie dieselbe nicht sehen, daß Nachtwandler mit ge- schlossenem Auge einem Hindernis aus dem Wege gehen, daß geblendete Fledermäuse durch einen Saal gezogene feine Drähte vermeiden, selbst wenn man ihnen Nase und Ohren verklebt usw., so sehe ich keine Undenkbarkeit darin, daß im höchsten Grade des Schlafwachens der Allsinn außerordent- lich sich steigert. Und wenn Melloni ein Instrument erfunden hat, welches den Eintritt einer Person in einen großen Saal anzeigt, indem es die dadurch hinzugekommene Wärme sichtbar macht, so ist eine noch größere Empfind- lichkeit der Kranken, vermöge der sie sagen kann, wer ins Zimmer trat, nicht undenkbar. Daß weiter die Kranke, wenn sie diese sehr klare Empfindung beschreiben soll, sich der Ausdrücke bedient, die für den klarsten Sinn die gewöhnlichsten sind, finde ich ebenso erklärlich, wie ich es finde, wenn jemand heute sagt: „Dies sehe ich klar, unsere politische Lage ist diese und diese." Was würden Sie nun wohl von jemand urteilen, der auf einen solchen Ausdruck sich umwenden wollte und sagen: „Unsinn, eine politische Situation

10. Abt. 8 = Für Prima - S. 47

1908 - Berlin : Grote
Erdmann: Tie fünf Sinne. 47 sieht man nicht." Ich denke, Sie würden ihn nicht loben. Um aber dem Gegner nicht den Ausweg zu lassen, daß hier „sehen" nur ein bildlicher Ausdruck sei, hören wir es nicht täglich, daß jemand sagt: „Ich fühle die Röte meiner Wangen?" Daß dies, wörtlich genommen, Unsinn ist, das ist klar, denn Röte fühlt man nicht, sondern Hitze. Und dennoch hätte der- jenige unrecht, welcher sagen wollte: „Da man Röte nicht fühlen kann, so ist auf den Wangen dessen, der sie zu fühlen vorgibt, nichts vorgegangen." Analog aber, wenn auch nicht ganz so, urteilen die Ärzte und Physiologen, welche, indem sie mit Recht festhalten, daß man mit geschlossenen Augen nicht sehen kann, wenn eine Somnambule sagt: „Ich sehe diesen oder jenen weinend im Nebenzimmer stehen," nur weil man nicht durch die Wand sehen kann, augenblicklich von Betrug sprechen. Sehen gewiß nicht, ob aber nicht empsinden, das ist eine andere Frage, die nur durch die Erfahrung beantwortet werden kann. Wie lange ist es noch her, daß jeder Physiker es für unmöglich erklärte, ein Spiegelbild zu fixieren? Gewiß ist es auch jetzt noch ein Unsinn, daß man es tun könne, indem man den Spiegel mit Honig bestreicht, damit das Bild anklebe, wie unsere Ammen uns erzählten, aber Daguerreotype gibt es doch, ja sogar Lichtbilder, die man vermöge des Kollodiums von der Metallplatte abnehmen kann. Auf jene Frage also zurückzukommen, so sage ich mit allen Physiologen: Mit der Herzgrube kann man unter keiner Bedingung sehen und hören. Dagegen aber kommen geringere Grade eines Aufhörens der Spezifikation der Sinnesempfindungen so häufig vor, daß man nicht ohne weiteres die höheren für unmöglich er- klären darf, bei welchen sich der Allsinn, der beim Gesunden gar nicht existiert, wieder zeigen, ja sogar so vordrängen könnte, daß er eine Genauig- keit zeigte, wie sie sonst nur den höheren Sinnen zukommt. Nur einen Punkt noch, und dann verlasse ich dies Gebiet. Ich halte die Ansicht für unrichtig, welche glaubt, daß jener von mir so genannte Allsinn im ge- steigerten Gemeingefühl bestehe. Das Gemeingefühl betrifft, wie ich gesagt habe, gar nicht das Affiziertwerden durch die Außenwelt. Höchstens könnte ich zugeben, daß, wo der Allsinn sehr hervortritt, selbst der Unterschied von Gemeingefühl, Lebensgefühl und Sinn aufhört. Ebensowenig kann ich mich mit denen einverstanden erklären, welche diese Erscheinungen aus einer Steigerung des fünften Sinnes erklären wollen. Dieser ist, wenn auch der wichtigste von allen, doch immer ein spezisischer Sinn wie die vier anderen, er kann daher, wenn er noch so gesteigert ist, nur Kohäsionsver- änderungen angeben, und ebensowenig, wie es möglich war, daß ein Nacht- kleid zur sehenden Netzhaut wurde, ebensowenig die Fingerspitzen. Das Wesentliche jener Erscheinungen ist eben, daß, während im' gesunden Zu- stande die Empfindung in den fünf Sinnen existiert, jetzt an ihre Stelle
   bis 10 von 409 weiter»  »»
409 Seiten  
CSV-Datei Exportieren: von 409 Ergebnissen - Start bei:
Normalisierte Texte aller aktuellen Treffer
Auswahl:
Filter:

TM Hauptwörter (50)50

# Name Treffer  
0 1
1 23
2 0
3 2
4 77
5 4
6 1
7 35
8 0
9 52
10 62
11 0
12 1
13 0
14 4
15 2
16 18
17 0
18 0
19 20
20 1
21 13
22 7
23 1
24 5
25 4
26 8
27 1
28 1
29 6
30 0
31 0
32 0
33 6
34 7
35 0
36 2
37 123
38 2
39 24
40 0
41 0
42 1
43 8
44 1
45 340
46 0
47 0
48 4
49 6

TM Hauptwörter (100)100

# Name Treffer  
0 1
1 21
2 5
3 46
4 23
5 0
6 2
7 0
8 2
9 13
10 0
11 0
12 20
13 65
14 2
15 4
16 44
17 141
18 0
19 0
20 0
21 7
22 25
23 5
24 2
25 37
26 11
27 4
28 5
29 0
30 12
31 5
32 1
33 2
34 0
35 49
36 11
37 0
38 0
39 14
40 6
41 26
42 31
43 120
44 0
45 95
46 6
47 1
48 1
49 3
50 1
51 0
52 131
53 0
54 5
55 2
56 0
57 0
58 1
59 5
60 13
61 5
62 0
63 2
64 1
65 6
66 5
67 0
68 16
69 2
70 6
71 16
72 9
73 0
74 1
75 8
76 4
77 41
78 0
79 2
80 0
81 9
82 8
83 4
84 2
85 0
86 0
87 7
88 3
89 1
90 0
91 26
92 374
93 2
94 16
95 8
96 0
97 0
98 31
99 0

TM Hauptwörter (200)200

# Name Treffer  
0 34
1 2
2 2
3 7
4 0
5 6
6 3
7 3
8 5
9 1
10 0
11 2
12 5
13 0
14 0
15 2
16 0
17 0
18 0
19 6
20 0
21 0
22 2
23 0
24 19
25 1
26 0
27 0
28 1
29 6
30 0
31 0
32 1
33 70
34 6
35 4
36 0
37 0
38 0
39 5
40 0
41 0
42 1
43 9
44 0
45 1
46 12
47 13
48 0
49 0
50 2
51 9
52 41
53 0
54 59
55 0
56 3
57 0
58 1
59 47
60 2
61 0
62 11
63 0
64 0
65 2
66 0
67 3
68 0
69 0
70 0
71 10
72 1
73 0
74 56
75 18
76 0
77 0
78 2
79 0
80 0
81 79
82 5
83 3
84 3
85 0
86 0
87 0
88 1
89 2
90 2
91 14
92 0
93 0
94 1
95 3
96 0
97 0
98 0
99 2
100 29
101 0
102 4
103 0
104 0
105 13
106 2
107 0
108 3
109 3
110 3
111 3
112 1
113 0
114 3
115 36
116 6
117 0
118 1
119 0
120 15
121 1
122 1
123 2
124 16
125 2
126 5
127 66
128 0
129 2
130 0
131 43
132 2
133 0
134 0
135 0
136 317
137 0
138 1
139 1
140 1
141 0
142 4
143 6
144 0
145 12
146 2
147 0
148 4
149 1
150 0
151 1
152 28
153 0
154 1
155 5
156 0
157 0
158 0
159 3
160 1
161 0
162 0
163 0
164 10
165 9
166 12
167 8
168 1
169 3
170 0
171 0
172 35
173 81
174 0
175 109
176 2
177 23
178 0
179 43
180 3
181 2
182 20
183 158
184 1
185 0
186 0
187 13
188 1
189 1
190 3
191 0
192 3
193 2
194 4
195 0
196 4
197 1
198 0
199 4