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nach und nach in den größeren Fürstentümern Deutschlands kleine evangelische
Landeskirchen entstanden; und wer in der Geschichte nur die Erscheinungen
des Tages obenhin betrachtet, mag es leicht eine glückliche Fügung nennen, daß
der durch übermenschliche Arbeit früh Gealterte aus diesem Leben hinweg-
gerufen wurde, unmittelbar bevor die deutschen Protestanten im Schmal-
kaldischen Kriege durch Hader und planlose Schwäche den Massen der Fremd-
herrschaft schimpslich erlagen. Ja während sonst das Bild der geschiedenen
Helden sich im Gedächtnis der Völker zu verklären Pslegt, erschien Luther den
Nachlebenden kleiner als er gewesen. In jenen müden Jahrzehnten der po-
litischen Tatenscheu und des theologischen Gezänks, welche den lichten Tagen
der deutschen Reformation solgten, formte sich ein kleines Geschlecht die Gestalt
des Reformators nach seinem eigenen Bilde, als wäre er auch nur ein bibel-
fester Prediger und ehrsamer Hausvater gewesen, als hätte er wirklich nur
eine Sonderkirche, die sich nach dem Namen eines sündhaften Menschen nannte,
stiften wollen. Erst die historische Wissenschaft unseres Jahrhunderts hat sich
wieder das Herz gefaßt, den ganzen Luther zu verstehen, den zentralen Menschen,
in dessen Seele fast alle die neuen Gedanken eines reichen Jahrhunderts
niächtig wiedertönten; sie steht ihm fern genug, um auch die mittelbaren
Folgen seines zerstörenden und ausbauenden Wirkens zu würdigen, um alle
die Keime einer neuen Kultur, die er ahnungslos, nach der Weise des Genius,
in den deutschen Boden senkte, wahrzunehmen und dankbar zu erkennen, wie
treu er sein Wort erfüllt hat: „für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen
will ich dienen". —
Im deutschen Gemüte lag von jeher dicht neben der hellen Weltlust ein
beschaulicher Ernst, der die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge schmerzlich
empfand, neben der wagenden Tapferkeit eine tiefe Sehnsucht nach Erlösung
von dem Fluche der Sünde. Die Germanen allein unter allen Völkern West-
europas haben schon in den Tagen ihres Heidentums etwas geahnt von dem
dereinstigen Untergange dieses frevelnden Geschlechts, von einer neuen Welt
der Reinheit und der Klarheit, die da kommen solle. In einem solchen Volke
mußte die frohe Botschaft aus Jerusalem berefte Herzen finden, und wie an-
dächtig, wie innig die Deutschen den neuen Glauben aufnahmen, das erzählen
die Wunderbauten unserer alten Dome. Gleichwohl hatte die christliche Lehre,
als sie bei uns eindrang, bereits in Rom eine Gestalt angenommen, welche dem
deutschen Volke niemals ganz vertraut werden konnte. Diesseits und Jenseits,
alle Zeiten und alle Völker erschienen eingeschlossen in der einen großen Ge-
meinschaft der Heiligen, welche die streitende Kirche hienieden mit der leidenden
Kirche der armen Seelen im Fegefeuer und der triumphierenden Kirche der
Seligen droben im Himmel verband. Aus dem Gnadenschatze der guten
Werke der Heiligen spendete die Kirche ihren Gläubigen die Vergebung der
Sünden durch den Mund eines herrschenden Priesterstandes, der durch die
geistige Zeugung der Weihe befähigt war, Brot und Wein in den Leib und
das Blut des Erlösers zu verwandeln. Außer ihr war kein Heil; von der
Lehmann, Teutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, Vii. Teil. 5
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Wiege bis zur Bahre, von der Taufe bis zur letzten Ölung umfing und heiligte
sie das Leben jedes Christen. Es war ein wunderbarer großer Gedankenbau;
lange Jahrhunderte hindurch hatten die Weisheit und die Andacht so vieler
heiliger Männer und eine seltene Kunst der Menschenbeherrschung daran ge-
baut; festgefügt stand Stein aus Stein, die unerbittliche Folgerichtigkeit dieser
Lehre ließ dem Christentum nur die Wahl zwischen der Unterwerfung und der
Ketzerei. Doch die scharfe Logik der Romanen hat dem deutschen Geiste niemals
ganz genügt; nicht so von außen her, nicht allein durch die Gnadenmittel der
Kirche und durch vorgeschriebene gute Werke konnte das rege Gewissen unseres
Volkes seinen Frieden finden. Schon im vierzehnten Jahrhundert erdröhnte
das deutsche Land von den Kyrieleisrusen der Geißler, und immer lauter,
immer verzweifelter, fast so herzzerreißend wie in den Ansängen der christ-
lichen Geschichte, erklang seitdem der Aufschrei der sündigen Kreatur nach Ver-
söhnung mit ihrem Schöpfer.
Zugleich ward auch der kampfmutige Weltsinn der Deutschen an den
Lehren der alten Kirche irr. So viele Kränze des Ruhmes, so viele edle
Freuden bot diese schöne Erde dem tatkräftigen Manne; und das alles sollte
nichts gelten neben der höheren Heiligkeit der begebenen Menschen, der Priester
und der Mönche, die auf alles verzichteten, was Menschen menschlich aneinander
bindet, die mit dem holden Glücke auch die heiligen Pflichten des ehelichen
Lebens verschmähten! Kummervoll sann der größte Dichter unseres Mittel-
alters, Walther von der Vogelweide, diesem dunklen Rätsel nach und klagte:
Ach leider kann es nimmer sein.
Daß Gottes Gnade kehre
Mit Reichtum und mit Ehre
Je wieder in dasselbe Herz.
Und dieser Priesterstand, der sich unnahbar hoch über die gehorchende Ge-
meinde erhob, der alle weltliche Arbeit so tief verachtete, war selber längst
einer schamlosen Weltlust verfallen, die ihn den Weltlichen als ein Heuchler-
gezücht erscheinen ließ. Er besaß das reichste Drittel Deutschlands, gab auf
den Reichstagen durch seine Überzahl den Ausschlag, und seine politische Macht
ward von den Deutschen als Fremdherrschaft empfunden; denn in der Kirche
regierte der Papst mit seinen italienischen Prälaten, und alle die Fülle von
Geist, Witz und Bildung, die sich in dem Lügenstübchen des Vatikans gesellig
zusammenfand, alle die Meisterwerke des Meißels und des Pinsels, die in der
Sonne päpstlicher Gnade reiften, konnten unser Volk doch nicht darüber
trösten, daß die Herrscherin der Christenheit die ruchloseste Stadt der Erde
war. Vergeblich hatten die Deutschen, allen anderen Nationen voran, auf den
Konzilien des fünfzehnten Jahrhunderts die Schäden der Kirche zu bessern
versucht. Als Luther auftrat, war die Nation in unheimlicher Gärung, von
widersprechenden Gefühlen stürmisch bewegt: hier die-Gewissensangst der
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Frommen, die über ihre Sünden und guten Werke peinlich Buch führten und
mit heiligem Schauer die volkstümlichen Bilder des Totentanzes betrachteten;
dort der kecke Übermut eines sinnenkräftigen, lebenslustigen Geschlechts, das
der derben Schwänke nicht satt ward und sich dreist spottend an dem Zerrbild
der verkehrten Welt erfreute; dazu allen Deutschen gemein der Haß gegen das
welsche Wesen.
Die Tat der Befreiung ging aus den Kämpfen des ehrlichen deutschen Ge-
wissens hervor; aus seiner Demut schöpfte Luther die Kraft der höchsten Ver-
wegenheit. Getrieben von einer leidenschaftlichen Angst um seine und seiner Brüder
Seligkeit hatte er einst Vater und Muüer verlassen und in seiner Klosterzelle
durch alle Qualen mönchischer Buße den Himmel stürmen wollen, doch immer
wieder klang es in seiner Seele: „o meine Sünde, Sünde, Sünde!" — bis dann
endlich das Wort des Apostels von der Rechtfertigung durch den Glauben
zündend in sein Herz schlug. Und nun kam sie über ihn, die Wandlung des
inneren Menschen, die Wiedergeburt des Paulus; in demütiger Erkenntnis
der Unzulänglichkeit alles menschlichen Verdienstes ergab er sich gläubig der
Gnade des lebendigen Gottes, und er wagte dieses seines Glaubens zu leben.
Ter ganze Gegensatz romanischer und germanischer Empfindung tritt uns
vor die Augen, wenn wir diese Seelenkümpfe Luthers vergleichen mit den
inneren Anfechtungen, welche späterhin der Rittersmann der wiederhergestellten
alten Kirche, Ignatius von Loyola, zu überwinden hatte. Der Spanier entledigt
sich seiner Pein durch den Entschluß, diese Wunden seiner Seele nie mehr zu
berühren; der Deutsche beruhigt sich erst, sobald sein Gemüt überzeugt ist und
alle Zweifel vor der Gewißheit einer innerlich erlebten Wahrheit schwinden.
Ohne jede Ahnung von der unermeßlichen Wirkung seiner Tat beginnt er
nun den Kamps gegen den häßlichsten Mißbrauch der verweltlichten Kirche, und
dann führt ihn Gott weiter wie einen Gaul, dem die Augen geblendet sind. Aus
jenem entscheidenden Gedanken ergibt sich ihm die Erkenntnis, daß Gott keinen
erzwungenen Dienst will und über die Gewissen niemand richten kann denn
Gott allein. Kaum drei Jahre nach dem Beginne des Ablaßstreites sagt er
sich schon los von der gebundenen Sittlichkeit des Mittelalters durch jenen
mächtigen Hymnus der evangelischen Freiheit, das Buch von der Freiheit des
Christenmenschen: der Christ ist niemand untertan in seinem Glauben und
eben darum jedermanns Knecht, dem Geringsten seiner Brüder zum Dienste
der Liebe verpflichtet, gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann,
sondern ein guter Mann machet gute Werke. Eine zugleich freiere und strengere
Auffassung des sittlichen Lebens, die wieder anknüpft an die Kämpfe Jesu
wider die starre Gesetzlichkeit der Pharisäer und den Schwerpunkt der sittlichen
Welt im Gewissen der Menschen findet. An diese Erkenntnis wieder schließt
sich die Forderung des Priestertums der Laien und der Gedanke der freien
Gemeindekirche, die sich bescheidet, die äußeren Formen der Kirchengemeinschaft
wie alles Menschliche in den Fluß der Zeit zu stellen, und dem mißdeuteten
Worte „auf diesen Felsen will ich meme Kirche bauen" das lebendig ver-
5*
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Also wirkten gebend und empfangend alle Stämme der Nation zu den
Taten der Reformation zusammen. Im Norden fand der Protestantismus
feinen festen politischen Rückhalt; die mächtige Sprache aber, welche fortan
das evangelische Deutschland geistig beherrschte, kam aus dem Oberlande, aus
jenen Gauen Süd- und Mitteldeutschlands, die zu allen Zeiten das warme
Nest unserer Dichtung und also auch der Sprachbildung geblieben sind. Und
dies Hochdeutsch war die Sprache von Luthers Heimat; seine Laute klangen
ihm vertraut von Kindesbeinen an; so hatte er schon das Volk in den Mans-
selder Bergwerken, seines lieben Vaters Schlägelgesellen, reden hören. Sprach-
gewaltig wie seitdem nur einer noch, Goethe, ward er der volkstümlichste aller
unserer Schriftsteller. In seinen Schriften vereinigt sich, was sonst unvereinbar
scheint, der Tiefsinn, die gedrängte Gedankenfülle des Buches und die fort-
reißende Macht, der sprudelnde Wörterreichtum der Rede, so daß der Leser
immer die herzbewegende Stimme des Predigers zu hören meint; dem Ein-
fältigen geben sie genug, und der Denkende findet des Nachsinnens kein Ende.
In Kämpfen geboren, kann diese Sprache des Freimuts und der Wahrhaftigkeit
bis zum heutigen Tage die Zeichen ihres Ursprungs nicht verleugnen. Gewaltig
vermag sie zu zürnen, übermütig zu spielen in toller Laune, zu den Höhen des
Gedankens steigt sie kühn empor, für jedes holde Geheimnis des Herzens findet
sie ein liebliches Wort; doch wer sie zwingen will, ihre Meinung zu bemänteln
oder tückisch unterm Zaun hervor zu beißen oder gar den überbildeten Ge-
schmack durch das Pikante und Charmante zu reizen, dem schenkt sie wenig,
den läßt sie betteln gehen an den Tischen der Fremden.
Mehr denn hundert Jahre hat es noch gewährt, bis dies neue Deutsch,
das in der Predigt und dem Gemeindegesange der evangelischen Kirche kräftig
erklang, zum Gemeingut unseres Volkes wurde, bis auch die Wissenschaft volks-
tümlich und weltlich ward und das Wort sich ganz erfüllte, das Ulrich von
Hutten schon in den ersten Tagen überschwänglicher Hoffnung zuversichtlich in
die Welt hinausgerusen hatte: „Sonst waren nur die Pfaffen gelehrt, jetzt hat
uns Gott auch Kunst beschert, daß wir die Bücher auch verstahn." Um die
Mitte des sechzehnten Jahrhunderts kam über den lutherischen Zweig des
deutschen Protestantismus eine lange Zeit unheilvoller Erstarrung, da fast
allein die weihevollen Klänge des evangelischen Kirchenliedes noch Kunde gaben
von dem ursprünglichen Geiste der Reformation und in der neuen wie in der
alten Kirche herrschsüchtige Theologen der weltlichen Wissenschaft Richtung
und Grenze vorschrieben. Nur der Heldenmut seiner tatkräftigeren Schwester-
kirche, nur der Kampf der Kalvinisten Niederlands wider die spanische Krane
bewahrte damals das verkommene Luthertum vor dem sicheren Untergange.
Erst der Jammer des Dreißigjährigen Krieges brachte auch uns die Selbst-
besinnung. Die Pietisten von Halle erweckten unserem Volke wieder den leben-
digen evangelischen Geist, den Geist der brüderlichen Liebe, der das Evan-
gelium leben wollte und über dem öden Vuchstabengezänk der letzten Jahr-
zehnte ganz vergessen schien; Pusendorf vertrieb die Theologen aus den poli-
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Charakter der heutigen Zeit mit gleich gebieterischer Deutlichkeit hinweisen.
Wir wollen eine Jugend, die dem Kampfe ums Dasein gewachsen ist, die aber
unter dem Ziele dieses Kampfes mehr begreift als das bloße physische Dasein
und unter dem Siege mehr als Erfolge, die sich messen und wägen lassen. Wir
wollen Männer und Frauen, die sich als Glieder einer großen Gemeinschaft
fühlen und sich ihr einzuordnen bereit sind, die aber auch ein jeder etwas für
sich sind, die ihren persönlichen Wert empfinden und ihn zu verteidigen den
Mut und die Kraft haben. Den deutschen Idealismus, der einst unseren Ruhm
gebildet hat, wollen wir nicht absterben lassen, sondern ihn aufs neue zu Kräften
und zu Ehren bringen, aber es soll kein weltslüchtiger, kein bloß beschaulicher
Geist sein, kein Gott, der nur im Busen thront, aber nach außen nichts bewegen
kann: sondern ein tatenfroher und kraftvoller Antrieb zum Handeln und Ge-
stalten. Unsere Jugend soll offene Augen und kräftige Arme haben, sie soll die
Welt um sich her sehen und doch das Ideal hoch halten; sie soll wissen, daß
es niemals erreicht wird, und doch eine Annäherung nicht wertlos wähnen.
Auch den individualistischen Trieb, aus dem das deutsche Geistesleben einst
seine Kraft gezogen hat, wollen wir nicht absterben lassen. Wir wollen freie
und kraftvolle Persönlichkeiten erziehen, die ihr eigenes Leben leben, — aber
doch fühlen und wissen, was sie der Gemeinschaft, was sie dem Vaterlande
schuldig find und die, wo es die Pflicht gebietet, ihr eigenes Selbst unter-
zuordnen, ja zu opferu bereit find. Wir wollen sie zu einer Wissenschaft erziehen,
die auf das Leben zu wirken nicht verschmäht, und zu einer Kunst, die im
inneren Bedürfnis des einzelnen wie des Volkes ihren Ursprung hat, die in
Wahrheit erhebt und befreit.
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164
Ii.
Ach, liebster Freund, es ist leider wahr. Er ist tot. Wir haben ihn gehabt.
Er ist in dem Hause und in den Armen des Professor Nicolai gestorben. Er
ist beständig, auch unter den größten Schmerzen, gelassen und heiter gewesen.
Er hat sehr verlangt, seine Freunde noch zu sehen. Wäre es doch möglich ge-
wesen! Meine Traurigkeit über diesen Fall ist eine sehr wilde Traurigkeit. Ich
verlange zwar nicht, daß die Kugeln einen andern Weg nehmen sollen, weil
ein ehrlicher Mann da stehet. Aber ich verlange, daß der ehrliche Mann —
sehen Sie: manchmal verleitet mich mein Schmerz, auf den Mann selbst zu
zürnen, den er angehet. Er hatte drei, vier Wunden schon: warum ging er
nicht? Es haben sich Generals mit wenigern und kleineren Wunden un-
schimpflich beiseite gemacht. Er hat sterben wollen. Vergeben Sie mir, wenn
ich ihm zu viel tue. Er wäre auch an der letzten Wunde nicht gestorben, sagt
man: aber er ist versäumt worden. Versäumt worden! Ich weiß nicht, gegen
wen ich rasen soll. Die Elenden, die ihn versäumt haben! —
Ha, ich muß abbrechen. Der Professor wird Ihnen ohne Zweifel ge-
schrieben haben. Er hat ihm eine Standrede gehalten. Ein andrer, ich weiß nicht
wer, hat auch ein Trauergedicht auf ihn gemacht. Sie müssen nicht viel an
K l e i st e n verloren haben, die das itzt imstande waren! Der Professor will
seine Rede drucken lassen, und sie ist so elend! Ich weiß gewiß, Kleist hätte
lieber eine Wunde mehr mit ins Grab genommen, als sich solch Zeug nach-
schwatzen lassen. Hat ein Professor wohl ein Herz? Er verlangt itzt auch von
mir und R a m l e r n Verse, die er mit seiner Rede zugleich will drucken lassen.
Wenn er eben das auch von Ihnen verlangt hat, und Sie erfüllen sein Ver-
langen — Liebster Gleim, das müssen Sie nicht tun! Das werden Sie nicht
tun. Sie empfinden itzt mehr, als daß Sie, was Sie empfinden, sagen könnten.
Ihnen ist es auch nicht, wie einem Professor, gleich viel, was Sie sagen, und wie
Sie es sagen. — Leben Sie wohl. Ich werde Ihnen mehr schreiben, wenn ich
werde ruhiger sein.
Berlin, den 6. September 1769.
Ihr
ergebenster Freund
Lessing.
20. Lrffmgs Bedeutung für das deutsche Drama.
Von Hermann H c t t n e r. Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert.
Ii. Buch. 2. Aufl. Braunschtveig, 1872.
Dem Deutschen geht das Herz auf, wenn er von Lessing redet. Lessing
ist der mannhafteste Charakter der deutschen Literaturgeschichte. Sein Leben und
Streben war ein unablässiges Kriegen und Siegen.
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123
Wilhelms I. nur halb gelungen war. Das alte Geschlecht, das die Federfuchser
verhöhnte, starb hinweg, der junge Nachwuchs kannte und achtete die Macht
des Wissens.
Allen diesen Reformen lag der Gedanke zu Grunde, daß die Armee fortan
das Volk in Waffen sein solle, ein nationales Heer, dem jeder Wehrfähige an-
gehöre. Die Werbung wurde abgeschafft, die Aufnahme von Ausländern ver-
boten, nur einzelne Freiwillige von deutschem Blute ließ man zu. Die neuen
Kriegsartikel und die Verordnung über die Militärstrafen hoben sogleich mit
der Verheißung an, künftig würden alle Untertanen, auch junge Leute von
guter Erziehung, als gemeine Soldaten dienen, und begründeten damit die
Notwendigkeit einer milderen Behandlung der Mannschaft. Über die Ver-
werflichkeit der alten Befreiungen vom Waffendienste waren alle denkenden
Offiziere einig. Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war schon vor dem
Kriege von Boyen, Lofsau und anderen Offizieren verteidigt, von dem Könige
selbst reiflich erwogen worden; während des unglücklichen Feldzuges hatte
er dann in der Stille feinen Weg gemacht, und jetzt war jedem einsichtigen
Soldaten klar, daß der ungleiche Kampf nur mit dem Aufgebote der gesamten
Volkskraft wieder aufgenommen werden konnte. Gleich nach dem Frieden
bat Blücher seinen lieben Scharnhorst „vor einer National-Armee zu sorgen,
niemand auf der Welt muß eximiert fein, es muß zur Schande gereichen,
wer nicht gedient hat". Prinz August sendete noch aus der Kriegsgefangenschaft
einen Plan für die Neubildung des Heeres, worin die allgemeine Wehrpflicht
als leitender Gedanke obenan stand. Scharnhorst aber wußte, was die meisten
der Zeitgenossen ganz vergessen hatten, daß damit nur ein altpreußifcher Grund-
satz erneuert wurde. Er erinnerte den König daran, sein Ahnherr Friedrich
Wilhelm I. habe zuerst unter allen Fürsten Europas die allgemeine Kon-
skription eingeführt; dieser Grundsatz habe Preußen einst groß gemacht und
sei in Österreich und Frankreich nur nachgeahmt worden; jetzt erscheine es ge-
boten, zu dem altpreußischen Systeme zurückzukehren und den Mißbrauch der
Exemtionen kurzerhand hinwegzufegen; nur so bilde sich eine wahre stehende
Armee, eine solche, die man jederzeit in gleicher Größe erhalten könne. Fast
genau mit den Worten des alten Soldatenkönigs begann Scharnhorst seinen
Entwurf für die Bildung einer Reservearmee also: § 1. Alle Bewohner des
Staates sind geborene Verteidiger desselben.
Die preußischen Offiziere faßten den Gedanken der allgemeinen Dienst-
pflicht von Haus aus in einem freieren und gerechteren Sinne auf als vormals
die Bourgeois der französischen Direktorialregierung. Die Besiegten dachten zu
stolz, um die Institutionen des Siegers einfach nachzuahmen. Man hatte es
ertragen, daß der Befehl des Königs einzelne Volksklassen kraft ihrer Standes-
privilegien oder aus volkswirtschaftlichen Rücksichten von der Kantonspflrcht
befreite. Aber die Vorstellung, daß der Bemittelte sich von der Dienstpflicht
loskaufen, ein Untertan für den anderen seine Haut zu Markte tragen solle,
war ganz und gar unpreußisch, widersprach allen Traditionen der Armee. Das
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Extrahierte Personennamen: Wilhelms_I. August Friedrich Wilhelm_I.
199
28. Drei Briefe von Fr. Schiller.
1. An Gottfried Körner.
Gohlis, am 3. Juli 1785.
Ich habe Lust, Dir heute recht viel zu schreiben, denn mein Herz ist voll.
Ohnedem wirst Du mich vielleicht diesen Nachmittag unterwegs erwarten, und
weil ich diese Hoffnung nicht erfüllen kann, so soll wenigstens meine Seele Dich
begleiten. Die Zeit war vorgestern für meine Wünsche zu kurz, und ich hätte
eine Jniuria gegen meine Kameraden begangen, wenn ich Dich als mein Eigen-
tum hätte behandeln wollen. Also mag dieser Brief hereinbringen, was neulich
verloren ging.
Bester Freund, der gestrige Tag, der zweite des Julius, wird mir un-
vergeßlich bleiben, solang ich lebe. Gäbe es Geister, die uns dienstbar sind und
unsere Gefühle und Stimmungen durch eine sympathetische Magie fortpflanzen
und übertragen, Du hättest die Stunde zwischen halb acht und halb neun vor-
mittags in der süßesten Ahnung empfinden müssen. Ich weiß nicht mehr, wie
wir eigentlich daraus kamen, von Entwürfen für die Zukunft zu reden. Mein
Herz wurde warm. Es war nicht Schwärmerei, philosophisch feste Gewißheit
war's, was ich in der herrlichen Perspektive der Zeit vor mir liegen sah. Mit
weicher Beschämung, die nicht niederdrückt, sondern männlich emporrafft, sah
ich rückwärts in die Vergangenheit, die ich durch die unglücklichste Ver-
schwendung mißbrauchte. Ich fühlte die kühne Anlage meiner Kräfte, das
mißlungene (vielleicht große) Vorhaben der Natur mit mir. Eine Hälfte
wurde durch die wahnsinnige Methode meiner Erziehung und die Mißlaune
meines Schicksals, die zweite und größere aber durch mich selber zernichtet.
Ties, bester Freund, habe ich das empfunden, und in der allgemeinen feurigen
Gärung meiner Gefühle haben sich Kopf und Herz zu einem herkulischen Ge-
lübde vereinigt, — die Vergangenheit nachzuholen, und den edlen Wettlaus
zum höchsten Ziele von vorn anzufangen. Mein Gefühl war beredt und teilte
sich den anderen elektrisch mit. O, wie schön und wie göttlich ist die Berührung
zweier Seelen, die sich auf dem Wege zur Gottheit begegnen. Du warst bis
jetzt noch mit keiner Silbe genannt worden, und doch las ich in Hubers Augen
Deinen Namen, und unwillkürlich trat er auf meinen Mund. Unsere Augen
begegneten sich und unser heiliger Vorsatz zerschmolz in unsere heilige Freund-
schaft. Es war ein stummer Handschlag, getreu zu bleiben, dem Entschlüsse dieses
Augenblicks, sich wechselweise fortzureißen zum Ziele, sich zu mahnen und
aufzuraffen einer den anderen, und nicht stille zu halten bis an die Grenze,
wo die menschlichen Größen enden. O, mein Freund! nur unserer innigen
Verkettung, ich muß sie noch einmal so nennen, unserer heiligen Freundschaft
allein war es vorbehalten, uns groß und gut und glücklich zu machen. Die
gütige Vorsehung, die meine leisesten Wünsche hörte, hat mich Dir in die Arme
geführt und ich hoffe auch Dich mir. Ohne mich sollst Du ebensowenig Deine
Glückseligkeit vollendet sehen können als ich die meinige ohne Dich. Unsere-
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231
uns die ganze furchtbare Gefahr des Lebens, die unerbittliche Notwendigkeit,
das unentrinnbare Verhängnis, zeige uns das Leben als die furchtbare und
in ihrer Furchtbarkeit erhabene Sache, die es ist; dann gibt sie uns in der
tragifchen Erschütterung das Gefühl von der Größe des Menschseins, da wir
eines solchen Riefenkanrpfes mit einem unendlich überlegenen Gegner ge-
würdigt sind, und führt uns durch den Anblick der unablässigen Zerstörung
auf die unzerstörbare Freiheit, das Beharrliche in unserem Busen, zurück. Zu
der Bekanntschaft mit den uns umlagernden Gefahren „verhilft uns das furcht-
bar herrliche Schauspiel der alles zerstörenden und wieder erschaffenden und
wieder zerstörenden Veränderung — des bald langsam untergrabenden, bald
schnell überfallenden Verderbens, verhelfen uns die pathetischen Gemälde der
mit dem Schicksal ringenden Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des
Glücks, der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und
der unterliegenden Unschuld, welche die Geschichte in reichem Maße aufstellt
und die tragische Kunst nachahmend vor unsere Augen bringt". Wenn Schiller
nlso zum Trauerspiel zurückkehrt, wird er der Dichter vom Leben in seinen
tragischen Schicksalsgedanken sein und wird das Bild davon herauszubringen
suchen in seiner furchtbaren Wahrheit. Keine Kunstübung hat er ingrimmiger
— so ingrimmig wie die Lüge — gehaßt als die, die man ihm selber gelegenr-
lich schuld gibt, welche Menschen und Leben in dem abgegriffenen Sinne des
Worts „idealisiert" und „verschönt" und uns durch glänzende Gaukelbilder über
den Ernst der Dinge hinwegtäuscht. „Hinweg mit der falsch verstandenen
Schonung und dem schlaffen verzärtelten Geschmack, der über das ernste An-
gesicht der Notwendigkeit einen Schleier wirft und, um sich bei den Sinnen in
Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlsein und Wohlverhalten
lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen. Stirn gegen
Stirn zeige sich uns das böse Verhängnis." Schiller selber war es, der ver-
langte, man solle in der Kunst das irreführende Wort der Schönheit ersetzen
durch die Wahrheit im vollen Sinne. Unter dem „Idealisieren" versteht er
nichts anderes, als daß man dem Gegenstände den Charakter der inneren
Notwendigkeit gibt. Die unentrinnbare Notwendigkeit der Schicksalsentwicklung
soll uns aus der Tragödie mit furchtbarer Wahrheit ansprechen. In
künstlerischen Dingen läßt er überhaupt keine anderen Gesetze gelten als die
der Wahrheit, Notwendigkeit und Stetigkeit. So ist denn auch für ihn die
innere Wahrheit des Lebensbildes alles. Indem wir des Lebens inne werden
als des furchtbaren großen Kampfes, in den wir gestellt sind, werden wir auf-
gerufen zu dem Gefühl der machtvoll ernsten Sache des Menschseins; alle ener-
gischen Kräfte unseres Wesens, d. h. eigentlich unser wahres Wesen wird wach.
„Denn der Mensch ist das Wesen, welches will." In diesem Sinne durchdringt
die mächtige Willensenergie auch die Schillersche Tragödie, aber nur als der
Gefühlston der rein künstlerischen Anschauung.
Mit der gleichen Größe tiefdringender Erkenntnis hat Schiller die eigene
Stellung in der Geschichte der Dichtung und den eigenen dichterischen Cha-
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selber recht zu wissen, wie Veilchen und Erdbeere und die Tierchen des Gartens
ihr Glück sahen und ausplauderten; aber der wunderliche Hyazinth hing selt-
samen Dingen nach, und als einst aus fremden Landen ein Mann kam, seinen
langen weißen Bart auseinandertat und bis tief in die Nacht erzählte, da war
alle Ruhe vorbei und Hyazinth machte sich auf, im Tempel der Isis das Antlitz
der Natur selber zu schauen. Nach langen Wanderungen kam er an; er stand
vor der himmlischen Jungfrau; da hob er den Schleier — und Rosenblütchen
sank in seine Arme. Im lieblichsten parodischen Scherz ist hier der Gehalt der
Dichtung ausgesprochen. Ihr Hintergrund ist der Tempel von Sais und das
verschleierte Bild, ihre Helden die Lehrlinge der Tempelschule. In dem Lehrer
ist Werner gefeiert, die anschauende Kraft in ihm, die Schärfe und Übung seiner
Sinne, die Rastlosigkeit seiner Empirie, sein umfassender klassifikatorischer Geist.
Unter den Schülern erhebt sich nun der Kampf der Naturansichten. Was ist die
Natur? Mannigfache Antworten kreuzen sich: ein wundersames Gemüt, das
sich nur dem Dichter ausschließt — ein der Ordnung entgegenschreitendes Ganze
— eine furchtbare verschlingende Macht, gewissermaßen ein entsetzliches Tier —
aufblühende Vernunft. Und unter den Streitenden steht in sich gekehrt der
Held des Romans, der Lehrling, welcher bestimmt ist, nach dem Tode des
Lehrers das große Wunder zu entschleiern. Es ist Novalis selber. „So wie dem
Lehrer ist mir nie gewesen. Mich führt alles auf mich selbst zurück. Mich freuen
die wunderlichen Haufen und Figuren in den Sälen, allein mir ist, als wären
sie nur Bilder, Hüllen, Zierden, versammelt um ein göttlich Wunderbild und
dieses liegt mir immer in Gedanken. Sie such ich nicht, in ihnen such ich oft. Es
ist als sollten sie den Weg mir zeigen, wo in tiefem Schlaf die Jungfrau steht,
nach der mein Geist sich sehnt. Und wenn kein Sterblicher nach jener Inschrift
dort den Schleier hebt, so müssen wir Unsterbliche zu werden suchen; wer ihn
nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais." Hier bietet sich die Lösung
dar. Dem Schüler Fichtes erscheint das Ich als die entschleierte Natur, das
Ich in seinem unsterblichen Charakter, das heißt als vernünftiger Wille. Ein
Distichon Hardenbergs spricht deutlich: „Einem gelang es, er hob den Schleier
der Göttin von Sais. Aber was sah er? Er sah, Wunder des Wunders, sich
selbst." —
In der Mitte des März 1801 ward Friedrich Schlegel nach Weißenfels
zu Hardenberg gerufen, welchen auf der Schwelle des Glücks der Tod über-
fiel. „Gestern", berichtet Friedrich an seinen Bruder den 27. März 1801, „kam
ich von Weißenfels zurück, wo ich vorgestern mittag, den 25., Hardenberg sterben
sah. Es ist gewiß, daß er keine Ahnung von seinem Tode hatte und überhaupt
sollte man kaum möglich glauben, so sanft und schön zu sterben. Er war, so
lange ich ihn sah, von einer unbeschreiblichen Heiterkeit." So ging er hinweg in
der Götterdämmerung der Jugend, die Seele erfüllt von Plänen des Glücks
und der Poesie, als ob er, gleich seinem Helden, nur einen größeren Schauplatz
betrete. Wer kann sagen, was ihm noch geglückt wäre?
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Extrahierte Personennamen: Werner Novalis Sais Friedrich_Schlegel Friedrich Hardenberg Friedrich Friedrich