10
tue Berge umhüllt, so erschallt das Horn von Neuem mit einem
trauliche»! „gute Nacht!" und in Frieden ziehen sich nun die Hirten
in ihre einsamen Wohnungen zurück, um auszuruhen von den Mühen
des Tages.
29. Wolf, Ziege und Kohl.
Ein Mann sollte in einem Kahn einen Wolf, eine Ziege und
einen Haufen Kohl über einen Fluß bringen. Der Kahn war aber
so klein und enge, daß er nur immer einen von diesen Gegenständen
aufnehmen.konnte. Es entstand nun die Frage, welchen der Mann
zuerst überschiffen sollte, ohne fürchten zu müssen, daß während der
Ueberfahrt der Wolf die Ziege, oder die Ziege den Kohl fresse.
Je nun, versetzte Hermann, ich hätte zuerst deu Wolf übergesetzt.
Der Vater. Aber darin hätte ja unterdeß die Ziege den
Kohl aufgefressen.
Bertha. Nein, ich würde zuerst die Ziege übersetzen, denn
der Wolf kann ja doch den Kohl nicht fressen.
Der Vater. Recht gut! Das würde das erste Mal wohl
gehen; aber was soll er nun zur zweiten Ueberfahrt nehmen? Den
Wolf? — so würde dieser während der dritten Ueberfahrt die Ziege
zerreißen. Den Kohl? dann würde dieser eine Beute der Ziege.
Bertha. Ja, da weiß ich wirklich den» armer» Manne keinen
Rath zu geben.
Hermann. Ich eben so wenig, denn wollte er auch zuerst
den Kohl einschiffen, so würde die arme Ziege von dem grausamem
Wolfe zerrissen werden. — Ist denn aber der Kahn wirklich so
schrnal und klein, daß er den Wolf und den Kohl nicht zugleich auf-
nehmen sonnte ?
Der Vater. Wenn dieß anging, so wäre in der That Alles
gerettet. Aber du hast gehört, daß dieß nicht geschehen kann.
Hermann. Nun, da kann ich weder rathen, noch helfen.
Da muß der Mann eins von den Sachen verlieren.
Bertha. Ich ließ die Ziege immer Etwas an dem Kohl
naschen. In der kurzen Zeit wird sie doch so viel nicht fressen. Wenn
ich dann den Wolf zuerst übergesetzt hätte, so holte ich den Kohl und
zuletzt die Ziege.
Der Vater. Das könnte dem armen Manne aber doch Ver-
druß zuziehen, wenn er seinem Herrn den angenagten Kohl über-
brächte.
Hermann. Ei Vater, nun weiß ich, wie ers machen muß.
Unterdeß er den Wolf übersetzt, muß er die Ziege anbinden, daß
sie den Kohl nicht erreichen kann.
Der Vater. Dein Vorschlag ist nicht übel! Aber es fehlt
sowohl an einem Stricke, als auch an einem Baume.
Hermann. Schlimm, daß auch Alles so unglücklich zusam-
mentreffen muß.
Bertha. Kounte aber airch der Mann nicht vorher daran
denken ur»d sich mit einem Knüppel und Strick versehen.
TM Hauptwörter (50): [T30: [Tier Vogel Mensch Pferd Hund Fisch Thiere Nahrung Eier Wasser], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T33: [Kind Vater Mutter Frau Mann Jahr Sohn Gott Haus Eltern]]
TM Hauptwörter (100): [T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T39: [Kind Vater Mutter Frau Mann Haus Jahr Eltern Sohn Knabe]]
TM Hauptwörter (200): [T195: [Pferd Tier Hund Schaf Löwe Wolf Rind Mensch Schwein Thiere], T116: [Vater Kind Mutter Sohn Bruder Herr Mann Auge Frau Hand], T50: [Haus Pferd Bauer Herr Wagen Mann Tag Kind Weg Leute], T100: [Gott Herr Herz Wort Leben Hand Himmel Vater Kind Mensch], T175: [Mensch Leben Natur Körper Seele Tier Thiere Arbeit Erde Pflanze]]
Extrahierte Personennamen: Hermann Wolf Bertha Bertha Hermann Wolf Hermann Bertha Wolf Hermann Hermann Bertha
34
„Dürft’ ich Sie wohl ersuchen,“ — sagte Columbus zu jenem vor-
nehmen Hofmann — „dieses Ei so auf die Spitze zu stellen, dass
es nicht umfällt?“ — Vergeblich versuchte dieser das Ei zum Stehen
zu bringen. Der Nachbar bat es sich aus; es gelang ihm eben so
wenig. Nun drängten sich die Andern dazu. Ein Jeder wollte den
Preis gewinnen; allein Keinem war es möglich, das Kunststück aus-
zuführen. „Es ist unmöglich!“ rief die vornehme Gesellschaft; „Ihr
verlangt Unausführbares!“ — „Und doch ist es möglich,“ sagte
Columbus. Er nahm das Ei, setzte es mit einem leichten Schlag
auf den Tisch, und fest stand es auf der eingedrückten Schaale. —
„Ja! das kann ein Jeder von uns“ riefen die Hofmänner. — Seit-
dem hört man oft sprichwörtlich anwenden:
„Das Ei des Columbus!“
72. Merkwürdige Lebensrettung.
Ein Buschmanns-Kind, kaum vier Jahre alt, schlief neben sei-
nen Eltern in einer halboffenen Hütte. Gegen Mitternacht wachte es
auf und setzte sich neben das noch brennende Feuer. Der Vater,
welcher ein wenig nachher aufwachte, suchte sein Kind mit den
Augen. Da sah er mit Schrecken einen Löwen in die Hütte treten
und sich dem Feuer nähern. Der arme Kleine kannte weder Gefahr
noch Furcht. Ruhig sprach er mit dem Thiere und warf heisse
Asche nach ihm. Der Löwe brummte und näherte sich mit offenem
Rachen. Da nahm das Kind einen glühenden Feuerbrand und warf
ihn dem Löwen in den Rachen, welcher sogleich davon lief.
73 Claus Horn.
§ 1. Claus Horn war ein Sohn des reichen Johann Horn und
ein Enkel des berühmten Gelehrten Erich Horn. Ich nenne seine
Vorfahren, weil sein eigener Name nicht gar zu bekannt ist. Er
hatte einen natürlichen Abscheu vor aller Arbeit. Seine Tugenden
bestanden in zehntausend Thalern Einkünften. Wenn ihn die Vor-
sehung nicht mit diesem Vorzüge begabt hätte, so würde er seinem
Vaterlande zur Last gefallen sein.
§ 2. Seine Berufsart war die, dass er aus dem Bette auf-
stand und sich wieder niederlegte. Obgleich er neun und fünfzig
Jahre lebte, so hat er sein Alter doch nur auf neunzehn Jahre ge-
bracht. Man muss nämlich diejenige Zeit davon abrechnen, in wel-
cher er schlief.
§ 3. Die Gerechtigkeit muss man ihm wiederfahren lassen,
dass er einsah, wie wenig Antheil er an dem Vermögen hatte,
welches nicht er, sondern seine Voreltern durch Fleiss erworben.
Um desswillen betrachtete er sich nur als einen Verwalter fremder
Güter, von welchen er einmal Rechnung ablegen müsste.
§ 4. Was er zu seiner grössten Nothdurft brauchte, das
nahm er davon; weiter Nichts. Hätte er durch sein Vermögen not-
leidenden Fremden beistehen sollen, so würde er dieses für einen
TM Hauptwörter (50): [T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland], T7: [Erde Luft Sonne Wasser Himmel Berg Tag Licht Wolke Nacht]]
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50
so werden die Hinterbliebenen von Gott und guten Menschen nicht
verlassen werden. Vielen Menschen aber wird die Schreckensgeschichte
eine Warnung sein, beim Gewitter unter Bäumen Schutz zu suchen.
In meinem nächsten Briefe hoffe ich Freudigeres berichten zu
können. Herzlich grüßt Dich
Dein Christian.
M-------, den . . August 18 . .
Geliebte Eltern!
Mit gerührtem Herzen erinnere ich mich an dem heutigen Tage
an die vielen und großen Wohlthaten, die Ihr mir von meiner Ge-
burt an bis jetzt erzeugt habet. Auch in dem verflossenen Jahr nahmt
Ihr Euch meiner mit treuer Vater- und Mutterliebe an und sorgtet
für mein Wohlsein. Euch verdanke ich nächst Gott Alles, was ich
bin und habe, meine Erziehung und Bildung. — Möge Euch der
liebe Gott vergelten, was Ihr an mir thut und Euch jede Freude
des Lebens schenken, die Ihr wünschet und die Euch wahrhaft heil-
sam ist. Mir soll es heilige Pflicht sein, auch in dem neuangetrete-
nen Jahre Euch durch Folgsamkeit und Fleiß viel' Freude zu machen.
Dann darf ich auch hoffen,' daß Ihr fortfahren werdet, mich zu liebeu
und für mich zu sorgen.
Ewig werde ich sein
Euer
dankbarer Sohn
Ernst.
Reinheim, den 10. Januar 18 . .
89.
Meine liebe, gute Mutter!
O, könnte ich doch heute in Ihr liebes, freundliches Auge
schauen, um Ihnen sagen zu können, mit welcher Freude ich den Tag
begrüße, der mir eine so zärtliche Mutter gegeben hat und mich ganz
besonders daran erinert, wie viel Liebe 'und wie vielen Dank ich
Ihnen schuldig bin. Sie waren so liebevoll für mich besorgt, haben
so manche Entbehrungen erduldet, um nur mein Wohlergehen zu be-
gründen. Es ist mir nicht möglich, die Gefühle meiner Liebe und
meines Dankes in ihrer ganzen Größe durch Worte auszudrücken.
Nur wünschen kann ich und meine Gebete für Sie, geliebte Mutter,
zum lieben Gott emporsteigen lassen. Möge der Allgütige Sie mir
noch recht viele Jahre in ungestörtem Wohlsein erhalten; möge er in
dem neuangetretenen Lebensjahre und Ihr ganzes Leben hindurch sei-
nen Segen im reichsten Maße über Sie ausschütten!
Mein eifriges Bestreben wird immer dahin gerichtet sein, ihnen
durch Fleiß, Gehorsam und ein sittsames Betragen reckt viele Freude
zu machen und mich Ihrer zärtlichen Liebe immer würdiger zu er-
weisen.
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TM Hauptwörter (100): [T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T39: [Kind Vater Mutter Frau Mann Haus Jahr Eltern Sohn Knabe], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele]]
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Extrahierte Personennamen: Gott Christian August Ernst
52
auf Dich herabblicken. Bestrebe Dich, unter der freundlichen Leitung
Deiner Mutter das zu werden, wozu Dich der Hingeschiedene erziehen
wollte. Werde ein tüchtiger und braver Mann. Dadurch wirst Du
das Andenken Deines seligen Vaters mehr ehren, als durch übermäßige
Betrübniß.
Stehe also fest im Glauben; sei männlich und sei stark. Dieß
ruft Dir zu
Dein Christoph.
92.
M . . . . den .... 18 . .
Mein lieber Sohn!
Ich habe recht lange nicht an Dich geschrieben, und nach so langem
Stillschweigen muß mein erster Brief eine Trauernachricht sein. — Als
Du von uns Abschied nahmst, war Deine Schwester, unsere gute
Christine, so gesund und froh und blühte, wie eine Rose. Wer hätte
denken sollen, daß Ihr Euch nicht wieder sehen würdet? Und doch ist
es leider nicht anders. Vorgestern Abend um 11 Uhr starb sie in den
Armen ihrer Mutter und vor meinen Augen. Ein hitziges Fieber,
wobei alle menschliche Hülfe fruchtlos blieb, war die Ursache ihres
frühen Todes. — Ihr Leichnam wurde heute zur Erde bestattet. —
Mehr kann ich für dießmal nicht schreiben, mein lieber Sohn, da der
Brief mit der heutigen Post abgehen soll. Gott begleite Dich auf
Deiner Reise und bringe Dich gesund wieder zu uns, damit Deine von
Gram gebeugten Eltern sich wenigstens Einer Stütze erfreuen!
Deine Mutter grüßt Dich unter tausend Thränen, und ich bin
von Herzen
Dein
treuer Vater
O. R.
93.
Mein theurer Freund!
Mit wahrhaft freudigen Gefühlen habe ich jederzeit die Feder er-
griffen, um mich mit Dir zu unterhalten. Doch heute zittert mir die
Hand, indem ich diesen Brief beginne, weil ich befürchten muß, von
Dir verkannt zu werden, oder — was der Himmel verhüten wolle —
vielleicht gar Deine Freundschaft zu verlieren. Doch — Du bist ja
kein gewöhnlicher Mensch, und daher sei es gewagt, Dir eine Bitte vor-
zutragen, durch deren Gewährung wahrlich eine schwere Sorgenlast von
meinem Herzen genommen würde.
Du kennst meine äußerst beschränkten, ökonomischen Verhältnisse
und weißt, daß früheres, unverschuldetes Unglück dieselben herbeige-
führt hat. Doch, an Entbehrungen aewöhnt, habe ich mich bis jetzt
immer, ohne Schulden zu machen, ourchzubringen gesucht und selbst
Nachtwachen nicht gescheut, um durch regen Fleiß die nothdürftigsten
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53
Mittel zu meinem und meiner zahlreichen Familie Unterhalt zu er-
schwingen. In diesem Augenblicke aber stürmt das Schicksal zu heftig
auf nnch ein. Meine vier' Kinder liegen sämmtlich am Scharlachfieber
gefährlich krank darnieder, und ich selbst bin von Nachtwachen so er-
schöpft, daß ich mich ganz unfähig fühle, das nöthige Geld zu ihrer
Pflege durch meiner Hände Arbeit herbeizuschaffen.
'Sieh' denn in Deinem Feunde einen hart bedrängten Familien-
vater, der ein Raub der Verzweiflung werden müßte, würde er nicht
durch die Trostgründe der Religion noch aufrecht erhalten. Lange
habe ich mit mir gekämpft, ob ich es wagen soll, mein theurer Freund,
Deinen Beistand in Anspruch zu nehmen. Aber — Gott weiß es —
ich kann nicht anders; Du tust meine einzige, hetzte Zuflucht. Ver-
nimm denn meine Bitte, mir mit einem beltebigen Darlehen aus die-
ser meiner augenblicklichen, doch wahrhaft großen Noth zu helfen.
Gvtt wird Dich dafür segnen. — Wann ich es Dir wieder erstatten
kann, vermag ich heute noch nicht zu bestimmen, doch darfst Du über-
zeugt sein, daß ich nach Wiedergenesung meiner Kinder — was ich zu
Gott hoffe — redlich für die Rückzahlung sorgen werde. Ich vertraue
Deinem Herzen. Lebe wohl und hilf mir, theurer Freund, sobald Du
kannst!
Mit herzlicher Liebe
der Deinige
N. N.
Gr., den .... 18 . '
94.
Brief von Schiller an seinen Vater.
Herzlichen Dank für die fröhlichen Nachrichten, die Sie mir von
der zunehmenden Gesundheit unserer lieben Mutter geben und von
Ihrem allseitigen Wohlbefinden. Den 28sten, heute, ist Ihr Geburts-
tag, liebster Vater, den wir beide mit innigster Freude feiern, daß
uns der Himmel Sie gesund und glücklich bis hieher erhalten hat.
Möge er ferner über Ihr theures Leben uni) Ihre Gesundheit wachen,
und Ihre Tage bis in das späteste Alter verlängern, daß Ihr dank-
barer Sohn es ausführen könne, Freude und Zufriedenheit über den
Abend Ihres Lebens zu verbreiten, und die (Sd;uit)en der kindlichen
Pflicht an Sie abzutragen.
Schiller.
Jena, am 28. October 1791.
95.
Jena, den 25. April 1796.
Schiller an seine Schwester, die Frau Hofrath
Reinwald.
. Du wirst nun auch erfahren haben, liebste Schwester, daß die
Louise ernstlich krank geworden und unsere arme, liebe Mutter alles
Trostes beraubt ist. Verschlimmerte es sich mit der Louise, oder gar
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TM Hauptwörter (100): [T39: [Kind Vater Mutter Frau Mann Haus Jahr Eltern Sohn Knabe], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele]]
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72
den Namen ihres Kindes rufend. Vergebens. Doch, horch! — es
sträubt sich ihr das Haar; Entsetzen ergreift das Herz — horch! war
das nicht ihres Kindes Stimme, welche das Knistern dsr Flamme
und das Gekrache der Balken durchdrang? „Mutter! Mutter! rette
dein Kind!" so rufen in ihr taufcnb Stammen, und wie besinnungs-
los stürzt sie zurück in die flammenspeiende Rauchhöhle. Einer Mutter
muß es ja gelingen, ihr Kind zu retten und wird's nicht, so will sie
sterben mit ihm! — Gute Mutter! die Flammen werden dein Grab!
und dein Kind — ist gerettet. Ein Mann hatte es beim Hinabstürzen
ergriffen und glücklich aus dem Feuer gebracht. Mit Anbruch des
Tages fand man den entstellten Leichnam der edlen Fürstin, nur noch
an dem Schmuck erkennbar. Acht Kinder weinten um das Mutterherz,
das hienieden nicht mehr schlug. Haupt.
125. Das chinesische Mädchen.
In dem Kaiserthum China besteht ein Gesetz, nach welchem den-
jenigen Beamten, die herrschaftliche Gelder veruntreuen, beide Hände
abgehauen werden. Einst hatte ein Beamter sich dieses Verbrechens
schuldig gemacht und war also der grausamen Strafe verfallen. Seine
Tochter wagte es aber, zu dem Kaiser zu gehen und für ihren Vater
zu bitten. Demüthig fiel sie vor ihm nieder und sprach:
„Ich läugne nicht, großer Kaiser, daß mein unglücklicher Vater
die. Strafe verdient hat, und er muß den Gesetzen gemäß seine beiden
Hände verlieren. Hier sind sie!"
Bei diesen Worten zog sie ihre Handschuhe aus, reichte dem Kai-
ser ihre eigenen Hände dar und fuhr fort:
„Ja, großer Kaiser, hier diese Hände gehören meinem unglück-
lichen Vater. Sie sind zum Unterhalt seiner Haushaltung unnütz;
nimm sie hin und laß nur meinem Vater diejenigen, womit er meinen
Großvater, meine Brüder, meine Schwestern und mich ernährt."
Der Kaiser wurde durch die kindliche Liebe dieses guten Mädchens
gerührt. Er lobte sie, ließ sie in Frieden nach Hause ziehen und be-
gnadigte den Vater um seiner Tochter willen.
Röm. 2, 14. Die Heiden, die das Gesetz nicht haben und von
Natur thun des Gesetzes Werke, sind ihnen selbst ein Gesetz.
126. Kindliche Liebe.
Ein berühmter, preußischer General war in seiner Jugend Edel-
knabe an dem Hofe Friedrichs des Großen. Er hatte keinen Vater
mehr und seine Mutter nährte sich in ihrem Wittwenstande kümmerlich.
Als guter Sohn wünschte er, sie unterstützen zu können; aber von sei-
nem Gehalte ließ sich Nichts entbehren.
Doch fand er ein Mittel, Etwas für sie zu erwerben. Jede
Nacht mußte einer von den Edelknaben in dem Zimmer vor dem
Schlafgemache des Königs wachen, um diesem aufzuwarten, wenn er
Etwas verlangte. Manchem war dieses zu beschwerlich und sie über-
trugen daher, wenn die Reihe sie traf, ihre Wachen gern andern.
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75
vorstellte. „Weißt du was, Bruder," sagte er zu ihm, „ich biu jung
und stark. Ich kaun dieß Leben noch eine Weile aushalten. Gebe
du für mich und laß mich au deiner Stelle hier. Ich biu sicher, daß
du mich loskaufen wirst, sobald dir Gott das Vermögen dazu gibt!"
Der Kranke weigerte sich lange; aber endlich gab er den Bitten feines
Bruders nach.
129. Der alte Großvater und der Enkel.
Es war einmal ein alter Mann, der konnte kaum gehen, seine
Kniee zitterten, er hörte und sah nicht viel und hatte auch keine Zähne
mehr. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten
konnte, schüttete er Suppe aus das Tischtuch, und es floß ihm auch
wieder Etwas aus dem Munde. Sein Sohn und dessen Frau ekelten
sich davor, und deßwegen mußte sich der alte Großvater endlich hinter
den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein
irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt. Da sah er be-
trübt nach dem Tische, und die Augen wurden ihm naß. Einmal auch
konnten seine zitternden Hände das Schüsselchen nicht fest halten; es
fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt; er aber sagte
Nichts und seufzte nur. Da kauften sie ihm ein hölzernes für ein
paar Heller; daraus mußte er nun essen. Wie sie nun da so sitzen,
so trägt der kleine Enkel von 4 Jahren auf der Erde kleine Brett-
lein zusammen. „Was machst du?" fragte der Vater. „Ei," ant-
wortete das Kind, ich mach' ein Trögleiu; daraus sollen Vater und
Mutter essen, wenn ich groß bin. Da sahen sich Mann und Frau
eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten den alten Groß-
vater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten
auch Nichts, wenn er ein wenig verschüttete. Gebr. Grimm.
ñ. Das Berufsleben
130. Die Engel am Scheideweg.
An dem Ziele, wo das Kindesalter in das Jugendalter übergeht
und das Mädchen zur Jungfrau heranreift, theilt sich der Weg des
Lebens zur Rechten und zur linken. Zu beiden Seiten stehen drei
Engel, welche die nahende Jungfrau empfangen und sie einladen, mit
ihnen zu gehen. Frei und lockend sind die Mienen, reizend und ver-
führerisch die Gewänder, süß und überredend die Worte der zur Lin-
ken. Sie heißen Weltsinn, Eitelkeit und Hochmuth. Aber
sanft und bescheiden blicken die zur Rechten, sittsam umschmiegt das
Gewand die zarten Glieder, freundlicher Ernst schwebt um die reinen
Lippen, Friede des Himmels leuchtet von der edelgewölbten Stirne.
Sie nennen sich Unschuld, Einfalt und Demuth. Nahet sich
eme Jungfrau dem Scheidewege, dann eilen die zur Linken ihr ent-
gegen. Geh' mit uns; sprechen sie, unser Weg ist der Weg der
Freude. Wir lehren dich zu gefallen und zu genießen. —
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Extrahierte Personennamen: Grimm Hochmuth Ernst Demuth
110
Zinsen bezahlt werden. Denn wissen sollt ihr: unser Herrgott lebt
noch, und das Haus Hermann Gruit van Steen steht noch — und
nun erst seid freudig gegrüßt in der Heimath, mein Herr Hermann
und Frau Elisabeth von eurem alten Jansen!"
Ps. 37, 5. Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe aus ihn;
er wirds wohl machen. K. Barth.
156. Die Wege der göttlichen Vorsehung.
Ich dachte, erzählt uns ein frommer Mann Hans Sachs,
abends vor'm Einschlafen über die Wege der Vorsehung nach und
sahe darauf in der Nacht folgenden Traum: Ich hatte nuch in einem
dunklen Walde verirrt und fand keinen Ausweg. Ich rief um Hilfe.
Da bot sich mir ein Begleiter dar, der sich für einen Engel Gottes
ausgab, gesandt, mir die Wege der Vorsehung zu zeigen. Er brachte
mich bald aus dem Walde in ein Wirthshaus, wo der Wlrth uns
sehr gut aufnahm. Er sagte, er habe heute einen frohen Tag. Sein
. Feind habe sich mit ihn: versöhnt und chm zum Unterpfande der Ver-
söhnung einen silbernen, inwendig vergoldeten Becher geschenkt. Wir
gingen fort, und mein Engel — stahl ihm den Becher. Ich zürnte;
aber er sprach: Schweig, und verehre die Wege der Vorsehung. Ich
schwieg, und wir kamen an ein Haus, dessen grundböser Wirth uns
Alles zu leide that. Wir machten uns bald fort, und beim Abschiede
— schenkte der Engel dem schändlichen Manne den herrlichen Becher.
Ich tadelte; ich zürnte. Aber er sprach: Schweig und ehre die Wege
der Vorsehung. Wir kamen zu einem Wirth, in dessen Hanse Ar-
muth und Noth herrschte. Es war ein guter Mann, aber durch Un-
fälle um das Seintge gekommen. In acht Tagen sollte ihm das Haus
genommen werden. ' Beim Weggehen ■— brannte ihm der Engel das
Haus über dem Kopfe an. Ich zürnte. Aber der Engel sprach zum
drittenmale: Schweig und ehre die Wege der Vorsehung. Endlich
kamen wir zu einem Wirthe, der seine Freude an seinem einzigen
Sohne, einem aufblühenden Knaben, hatte. Der Engel sagte, er
wisse den Weg nicht. Der Wirth gab ihm den Sohn als Wegweiser
mit, und der Engel — ersäufte ihn im vorbeifließenden Strome. Nein,
fchrie ich, keinen Schritt mehr mit dir! Ein Teufel magst du sein,
aber kein Engel. Da umstrahlte ihn himmlischer Glanz, und er rief:
Thoren nur tadeln den Allweisen. Der Becher war vergiftet. Darum
ward er dem Guten genommen zu seinem Heile, dem Bösen gegeben
zu seinem Verderben. Unter der Asche seines Hauses findet der Ver-
unglückte einen Schatz, und der Brand verhilft ihm zu Wohlstand und
Segen. Vater und Mutter würde der verzogene Knabe bei längerem
Leben gemordet haben. Er mußte sterben zum Heill seiner Eltern und
der Menschheit. Schweigend, Sterbliche, und anbetend ehrt die Wege
der Vorsehung.
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
TM Hauptwörter (100): [T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T39: [Kind Vater Mutter Frau Mann Haus Jahr Eltern Sohn Knabe]]
TM Hauptwörter (200): [T100: [Gott Herr Herz Wort Leben Hand Himmel Vater Kind Mensch], T33: [Gott Liebe Mensch Herz Leben Volk Ehre Vaterland gute Zeit], T116: [Vater Kind Mutter Sohn Bruder Herr Mann Auge Frau Hand], T51: [Kind Himmel Nacht Sonne Tag Gott Wald Baum Blume Feld], T196: [Tisch Tag König Hand Wein Herr Haus Gast Abend Frau]]
Extrahierte Personennamen: Hermann_Gruit Hermann Elisabeth K._Barth Hans_Sachs Wirth Wirth
112
Land voll Licht, in die Heimath der Engel bringt, und welcher links
sich in die Maulwurfsgänge des Lasters hinabzieht, in eine schwarze
Höhle voll heruntertropfenden Giftes, ^voll zischender Schlangen und
finsterer, schwüler Dünste.
Ach, die Schlangen hingen um seine Brust und die Gifttropfen
auf seiner Zunge, und er wußte nun, wo er war. —
Sinnlos und mit unaussprechlichem Gram rief er zum Himmel
hinaus: Gib mir meine Jugend wieder! O Vater! stelle mich wieder
auf den Scheideweg, damit ich anders wähle!
Aber sein Vater und seine Jugend waren längst dahin. Er sah
Irrlichter auf Sümpfen tanzen und auf dem Gottesacker erlöschen, und
er sagte: Es sind meine thörichten Tage. — Er sah einen Stern aus
dem Himmel fliehen und im Falle schimmern und aus der Erde zer-
rinnen: Das bin ich! sagte sein blutendes Herz, und die Schlangen-
zähne der Reue gruben tiefer ein in seine Wunden.
Die Einaildungskraft zeigte ihm schleichende Nachtwandler auf
den Dächern und die Windmühle hob ihre Arme drohend zum Zer-
schlagen auf und im leeren Todtenhause nahm eine zurückgebliebene
Larve allmälig seine Züge an.
Mitten in seiner Äugst floß plötzlich die Musik für das Neujahr
vom Thurme hernieder, wie ferner Kirchengesang. Er wurde sanft
bewegt: er schaute nach dem Himmel und über die weite Erde und
dachte an feine Jugendfreunde, die nun, besser und glücklicher als er,
Lehrer der Erde, Väter glücklicher Kinder und gesegnete Menschen
waren, und er sagte: O, ich könnte auch, wie ihr, diese erste Nacht
des Jahrs mit trocknen Augen verschlummern, wenn ich gewollt hätte!
Ach, ich hätte glücklich sein können, ihr theuren Eltern, wenn ich eure
Neujahrswünsche uad gute Lehren erfüllt hätte!
In seinem reuevollen Andenken an seine Jünglingszeit kam es
ihm vor, als richte sich die Larve mit seinen Zügen im Todtenhause
auf, — endlich wurde sie in seiner Einbildung zu einem lebendigen
Jüngling, und seine vorige blühende Gestalt wurde ihm bitter vorge-
gaukelt.
Er konnte es nicht mehr sehen; er verhüllte das Auge; tausend
heiße Thränen strömten versiegend in den Schnee — er seufzte nur
noch leise, trostlos und sinnlos: Komm nur wieder, Jugend, komme
wieder!
— Und sie kam wieder; denn er hatte nur in der Neujahrs-
nacht so fürchterlich geträumt. Er war noch ein Jüngling. Nur
seine Verirrungen waren kein Traum gewesen. Aber er dankte Gott,
daß er, noch jung, in den schmutzigen Gängen des Lasters umkehren
und sich auf der Sonnenbahn der Tugend zurück begeben konnte, die
in's reiche Land der Ernten leitet.
Kehre mit ihm um, junger Leser, wenn du auf seinen Irrwegen
stehst! Dieser schreckende Traum wird künftig dein Richter werden!
Aber wenn du einst jammervoll rufen würdest: Komm wieder, schöne
Jugend! — so würde sie nicht wiederkommen. Jean Paul.
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Mills. Ei, das wäre! Die hieß?
Witt. Wenn man ihn manchmal fragte: „Wie steht's, Herr
Grell? Was haben Sie bei dem Handel gewonnen?" — „Eine
Kleinigkeit," fing er an. „Ein fünfzig Thälerchen etwa. Was will
das machen?" — Oder wenn man ihn anredete: „Nun, Herr Grell?
Sie haben ja auch bei dem Bankrott verloren?" — „Ach was?"
sagte er wieder. „Es ist der Rede nicht werth. Eine Kleinigkeit von
ein hunderter fünfe." Er saß in schönen Umständen, der Mann; aber,
wie gesagt, die einzige verdammte Redensart hob ihn glatt ans dem
Sattel. Er mußte zum Thor damit hinaus. — Wie viel war es doch,
Herr Mills, das Er wollte?
Mills. Ich? ■— ich bat um hundert Reichsthaler, lieber
Herr Witt.
Witt. Ja recht! Mein Gedächtniß verläßt mich. — Aber ich
hatte da noch einen andern Nachbar; das war der Kornhändler Herr
Tomm. Der baute von einer andern Redensart das ganze, große Haus
aus mit Hintergebäude und Waarenlager. — Was dünkt Ihm dazu?
Wills. Ei ums Himmels willen! Die möcht' ich wissen. —
Die hieß? —
Witt. Wenn man ihn manchmal fragte: „Wie steht's, Herr
Tomm? Was haben sie bei dem Handel verdient? — „Ach, viel
Geld!" — fing er an — „viel Geld!" — Und da sah man, wie ihm
das Herz im Leibe lachte; — „ganzer hundert Reichsthaler!"— Oder,
wenn man ihn anredete: „Was' ist Ihnen? warum so mürrisch, Herr
Tomm?— „Ach,, — sagte er wieder — „ich habe viel Geld verloren,
viel Geld! Ganzer fünfzig Reichsthaler! — Er hatte klein angefangen,
der Mann; aber, wie gesagt, das ganze, große Haus baute er hier
auf, mit Hintergebäude und Waarenlager.— Nun, Herr Wills, welche
Redensart gefällt Ihm besser?
Wills. Ei, versteht sich. Die letztere!
Witt. Aber — so ganz war er mir doch nicht recht, der Herr
Tomm. Denn er sagte auch: Viel Geld! wenn er den Armen, oder
der Obrigkeit gab; und da hätt' er nur immer sprechen mögen, wie
der Herr Grell, mein anderer Nachbar. — Ich, Herr Wills, der ich
zwischen der doppelten Redensart mitten inne wohnte; ich habe mir
beide gemerkt. Und da sprech' ich nun nach Zeit und Gelegenheit, bald
wie der Herr Grell und bald wie der Herr Tomm.
Wills. Ich halt's mit Herrn Tomm! Das Haus und das
Waarenlager gefällt mir.
Witt. Er wollte also?
Wills. Viel Geld! Viel Geld, lieber Herr Witt! Ganzer hun-
dert Reichsthaler! —
Witt. Sieht Er, Herr Wills! Es wird schon werden. Das
war ganz recht. — Wenn man von einem Freunde borgt, so muß mail
sprechen, wie der Herr Tomm. Und wenn man einem Freunde aus
der Noth hilft, so muß man sprechen, wie der Herr Grell.
Engel.
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