I. Familie und Elternhaus.
9
blieb zurück. Er hing hoch oben im Mast, schwer und steif infolge
der Kälte, und sie wagten nicht, ihn herabzuholen; denn das Boot
war schon überladen, der Sturm nahm zu, und aller Leben stand
auf dem Spiel.
Als sie ans Land kamen, war Harro da. Er fragte, ob man
sie alle gerettet habe, und so hörte er denn von dem Letzten im
Mast. »Ich werde ihn holen,“ rief er, „geht ihr mit?“ Aber sie
wollten nicht; sie meinten, es sei unmöglich. In diesem Augen-
blick erscheint seine Mutter am Strande. Sie bittet ihn: „Gehe
nicht! Dein Vater blieb draußen — und Uwe.“ Uwe war ihr
jüngster Sohn, von dem sie seit Jahren nichts gehört hatte. „Gehe
nicht, deiner Mutter zuliebe!“ wiederholte sie. — »Und der da
draußen — bist du sicher, daß auch er nicht noch eine Mutter
hat?“ gab der Sohn zur Antwort. Da schwieg die Alte, und vier
Mann sprangen mit Harro in das Boot.
Das Wrack stand schon ganz unter Wasser, als sie hinkamen,
und es hielt schwer, sich ihm zu nähern. Endlich gelang es. Harro
selbst klettert hinauf in die Wanten, um den fast erfrorenen
Burschen herunterzuholen. Bald liegt er im Boote, und landein-
wärts geht’s. Als man aber dem Strande so nahe ist, daß Harros
kräftige Stimme durch Sturm und Brandung dringen kann, da
winkt und ruft er: „Sagt’s der Mutter, es ist Uwe!“
G. Schillmann.
14. Jas Erkennen.
Ein Wanderbursch mit dem Stab in der Hand
Kommt wieder heim aus dem fremden Land.
Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt;
Von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?
So tritt er ins Städtchen durchs alte Tor,
Am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.
Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund,
Oft saßen die beiden früher vereint.
Doch siehe, Freund Zollmann erkennt ihn nicht;
Zu sehr hat die Sonn' ihm verbrannt das Gesicht.
Und weiter wandert nach kurzem Gruß
Der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.
Da tut seine Schwester ihr Fenster auf,
Und er winkt mit dem herzlichsten Gruß hinauf.
Doch sieh — auch die Schwester erkennt ihn nicht;
Die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.
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I. Familie und Elternhaus.
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seit unser Vater starb, durch Fleiß erwarb, durch Glück gewann, zu dem
ererbten Dritteil legen. Ihr beide solltet elend sein? Ihr, meine Brüder?
ich allein der Glückliche? Verarmte Brüder, kommt, teilt von neuem!"
— Und sie teilten wieder.
Joh. Nikol. Götz.
18. Eine gute Schwester.
Bei der Stadt Elberfeld hat sich im Jahre 1834 folgende
Begebenheit zugetragen. An einem Bache, welcher zur Wupper
fließt, wohnte ein Fischer. Der hatte drei Kinder: Marie,sieben Jahre
alt, Hänschen und Liese. Die waren über den Steg gegangen, um
auf der Wiese zu spielen. Als der Abend kam, dachte Marie an
den Heimweg. Sie sagte: „Komm, Liese, ich trage dich über den
Steg. Hänschen, du bleibst hier, bis ich dich hole; aber geh mir
ja nicht ans Wasser!“ So trug sie die kleinste hinüber und setzte
sie in das Gras. Aber wie erschrak sie, als sie sich umwandte! Der
kleine Hans, welcher vor kurzem erst laufen gelernt hatte, stand
mitten auf dem Stege.
Sie läuft, ihn zu halten; aber ehe sie ihn erreicht, wanken
die kleinen Füße, und der Knabe stürzt ins Wasser, das ihn mit
sich fortreißt. Ohne Besinnen springt die mutige Schwester ihm
nach. Aber was kann das Kind dem Kinde helfen! Der reißende
Bach treibt sie beide fort. Doch gelang es ihr, den herabhängenden
Zweig einer Weide zu fassen, die am Wasser stand. Laut rief
sie um Hilfe, mehr um das Brüderchen, als um sich selbst be-
sorgt, und auch das Schwesterchen im Grase erhob ängstlich seine
Stimme.
Ein Wanderer, der den Unfall von weitem bemerkt
hatte, eilte zur Hilfe herbei. Da er den Knaben nicht sogleich
sah, so wollte er sie erretten. Aber sie winkte und rief, er sollte
zuerst dem Brüderchen helfen. Der Mann sprang ins Wasser und
brachte den Knaben glücklich ans Land. Da brach der Zweig, an
welchem das wackere Mädchen sich festhielt, und sie versank im
Wasser. Mit großer Mühe rettete der Mann auch sie; denn der
liebe Gott wollte es nicht zulassen, daß eine so liebevolle Schwester
einen so frühen Tod fände, weil sie eher an das Brüderchen als
an sich selbst gedacht hatte.
Nach R. Reinick.
19. Kans Lustig.
Hans Lustig war das Kind armer Leute; sein Vater war ein
Schuhflicker und seine Mutter eine Wäscherin. Jeder, der ihn ansah,
hatte seine Freude an dem muntern Jungen. Als er größer wurde, gab
es immer zu tun für ihn. Bald trug er für den Vater die Stiefel und
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Extrahierte Personennamen: Nikol Götz Marie Liese Liese Hans_Lustig
I. Familie und Elternhaus.
17
24. Das fremde Kind.
Durch den Schnee und durch die Tannen des Schwarzwaldes
kommt abends am 5. Dezember 1807 ein achtjähriges Mägdlein halb
barfuß, halb nackt, vor das Häuslein eines armen Taglöhners im Ge-
birge und gesellt sich mir nichts dir nichts zu den Kindern des armen
Mannes, die vor dem Hause waren, und gaukelt mit ihnen, geht mit
ihnen mir nichts dir nichts in die Stube und denkt nimmer ans Fort-
gehen. Nicht anders als ein Schäflein, das sich von der Herde ver-
laufen hat und in der Wildnis umherirrt: wenn es wieder zu seines-
gleichen kommt, so hat es keinen Kummer mehr.
Der Taglöhner fragt das Kind, wo es herkomme. — „Oben
herab vom Gutenberg." — „Wie heißt dein Vater?" — „Ich habe
keinen Vater." — „Wie heißt deine Mutter?" — „Ich habe keine
Mutter." — „Wem gehörst du denn sonst an?" — „Ich gehöre nie-
mand sonst an."
Aus allem, was er fragte, war nur soviel herauszubringen, daß
das Kind von Bettelleuten sei aufgelesen worden, daß es mehrere Jahre
mit Bettlern und Gaunern umhergezogen sei, daß sie es zuletzt in St.
Peter hätten sitzen lassen und daß es allein über St. Märgen gekommen
und jetzt da sei. Als der Tagelöhner mit den Deinigen zu Nacht aß,
setzte sich das fremde Kind auch an den Tisch. Als es Zeit war zu
schlafen, legte es sich auf die Ofenbank und schlief auch; so den andern
Tag, so den dritten. Denn der Mann dachte: Ich kann das arme Kind
nicht wieder in sein Elend hinausjagen, so schwer es mich ankommt,
eins mehr zu ernähren. Aber am dritten Tage sagte er zu seiner Frau:
„Frau, ich will's doch auch dem Herrn Pfarrer anzeigen."
Der Psarrherr lobte die gute Denkungsart des armen Mannes.
„Aber das Mägdlein," sagte er, „soll nicht das Brot mit Euern Kin-
dern teilen, sonst werden die Stücklein zu klein. Ich will ihm einen
Vater und eine Mutter suchen."
Also ging der Psarrherr zu einem wohlhabenden und gutdenkenden
Manne in seinem Kirchspiele, der selber wenig Kinder hatte. „Peter,"
sagte er, „wollt Ihr ein Geschenk annehmen?" — „Nach dem's ist,"
sagte der Mann. — „Es kommt von unserm lieben Herrgott." —
"Wenn's von dem kommt, so ist's kein Fehler." — Also bot chm der
Psarrherr das verlassene Mägdlein an und erzählte ihm die Geschichte
dazu, so und so. Der Mann sagte: „Ich will mit meiner Frau reden.
Es wird nicht fehlen." Der Mann und die Frau nahmen das Kind
mit Freuden auf.. „Wenn's gut tut," sagte der Mann, „so will ich's
erziehen, bis es sein Stücklein Brot selber verdienen kann. Wenn's nicht
N. Gottesleben. Deutsches Lesebuch, l. ~
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Ii. Aus dem Menschenleben.
53
69. Oie wandernde Traube.
1. Makarius, ein frommer Abt, erkrankte,
Daß er nur schattengleich durchs Kloster wankte.
Da sandt’ ein ferner Freund, daß er sich labe,
Ihm eine Traube einst als Liebesgabe.
2. Makarius dankte Gott und trug zur Stelle
Mit schwankem Schritte nach der nächsten Zelle
Die Traube, die zur Labung ihm beschieden,
Um einem krankem Bruder sie zu bieten.
3. Auch der behielt sie nicht und ließ sie wandern
Mit frommem Liebesgruß zu einem andern,
Von dem er glaubte, daß er nöt’ger habe
Als er der würz’gen Traube seltne Labe.
4. Der Kranke maß die Traube mit Entzücken,
Verschlang sie fast mit seinen heißen Blicken;
Dann aber plötzlich wie nach innerem Streite
Rief er der Pfleger einen sich zur Seite
5. Und sprach zu ihm mit sichtlichem Behagen:
„Nimm diese Traube, geh, um sie zu tragen
Zu unserm kranken Abt als Liebesgabe,
Damit er an dem würz’gen Saft sich labe!“
6. So kam sie wieder zu Makarius’ Zelle.
Da leuchtete sein Auge selig helle,
Und fromm begeistert schaute er nach oben,
Um für die Gnade seinen Herrn zu loben,
Der, welchen Liebesschatz sein Plans bewahrte,
Ihm durch der Traube Wand’rung offenbarte.
Jul. Sturm.
70. ßhrisioph Kollheim.
Wie mancher hat schon gesagt: „Was mich nicht brennt, das
blas' ich nicht!" und ist vorüber gegangen, wo er hätte helfen sollen.
Dachte auch der brave Christoph Kollheim in einem Dörslein bei
Duderstadt so? Der war ein blutarmer Schelm und ein Witwer dazu
und hatte drei Kinder, die gar oft sagten: „Vater, wir sind so hungrig!"
Das hört ein Vaterherz gern, wenn er Brot genug hat und noch etwas
dazu; aber wie schneidet das ins Herz, wenn keins da ist! Und just so
ging's dem armen Kollheim oft genug. Das Betteln verstand er nicht;
aber er verstand Schuhe zu flicken, Kochlöffel zu schnitzen und Besen
zu binden und solcher kleinen Künste mehr, was er auch so fleißig tat,
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56
Ii. Aus dem Menschenleben.
zusammengefaltet dalag und gab es dem Boten zu lesen: Es war eine
Schenkungsurkunde über ein prächtiges Schloß mit allem Zubehör. Das
hätte der Täufling haben sollen; aber nun zerriß der Bischof den
Schenkungsbrief und aus dem Schlosse machte er ein Krankenhaus. Da
hatte man sich wünschen mögen, krank zu werden, um auch in die hohen,
schönen Zimmer zu kommen und in eins von den breiten Himmelbetten
drin. Und er nannte das Schloß das Juliusspital: so heißt es noch
heute und besteht schon mehr als dreihundert Jahre. Wie viel tausend
arme Kranke es in all dieser Zeit beherbergt hat, das weiß niemand
zu sagen; des Bischofs Name aber ist im Segen geblieben.
Karl Hessel. Musterproben.)
73. Die Wüöe.
Es waren einmal zwei Brüder, die dienten beide als Soldaten;
der eine war reich, der andere arm. Da wollte der arme sich aus der
Not helfen, zog den Soldatenrock aus und ward ein Bauer. Also grub
und hackte er sein Stückchen Acker und säte Rübsamen. Der Same ging aus,
und es wuchs da eine Rübe, die ward groß und stark und zusehends dicker
und wollte gar nicht aufhören zu wachsen, so daß sie eine Fürstin aller
Rüben heißen konnte; denn nimmer war so eine gesehen worden und
wird auch nimmer wieder so eine gesehen werden. Zuletzt war sie so
groß, daß sie allein einen ganzen Wagen anfüllte und zwei Ochsen daran
ziehen mußten, und der Bauer wußte nicht, was er damit ansangen
sollte, und ob's sein Glück oder sein Unglück wäre. Endlich dachte er:
Verkaufst du sie, was wirst du Großes dafür bekommen? Und willst du
sie selber essen, so tun die kleinen Rüben denselben Dienst; am besten
ist, du bringst sie dem König und machst ihm eine Verehrung damit.
Also lud er die Rübe auf den Wagen, spannte zwei Ochsen vor, brachte
sie an den Hof und schenkte sie dem Könige. „Was ist das für ein seltsam
Ding?" sagte der König; mir ist viel Wunderliches vor die Augen ge-
kommen, aber so ein Ungetüm noch nicht; aus was für Samen mag
die gewachsen sein? Oder dir gerät's allein, und du bist ein Glückskind."
„Ach, nein," sagte der Bauer, „ein Glückskind bin ich nicht; ich bin
ein armer Soldat, der, weil er sich nicht mehr nähren konnte, den Soldaten-
rock an den Nagel hängte und das Land baute. Ich habe noch einen
Bruder, der ist reich und Euch, Herr König, auch wohlbekannt; ich aber,
weil ich nichts habe, bin von aller Welt vergessen." Da empfand der
König Mitleid mit ihm und sprach: „Deiner Armut sollst du überhoben
und so von mir beschenkt werden, daß du wohl deinem reichen Bruder
gleichkommst." Da schenkte er ihm eine Menge Gold, Äcker, Wiesen
und Herden und machte ihn steinreich, so daß des andern Bruders
Reichtum gar nicht damit verglichen werden konnte.
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Ii. Aus dem Menschenleben.
hastig, du dauerst mich," versetzte der Wolf; „und ich finde mich in
meinem Gewissen verbunden, dich von diesen Schmerzen zu befreien."
Kaum ward das Wort gesagt, so ward der Esel zerrissen.
G. E. Lessing.
17. Per Zrverg und die Gerstenähre.
Ein wohlhabender Bauer stand in seiner Scheune und schaute be-
haglich den mächtigen Segen an, den ihm ein günstiger Sommer ge-
bracht hatte. Bis an den Giebel hinan war die Schelme gefüllt mit
goldenen Garben, und das nicht allein — ans dem Felde standen auch
noch einige stattliche Schober, die keine Unterkunft mehr hatten finden
können; so reich war die Ernte gewesen. Dabei war das Stroh so
lang und die Ähren waren so voll wie lange nicht.
Als er nun so stand und an die Wagen dachte, die er mit vollen
Kornsäcken beladen an den Müller liefern würde, und im Geiste schon die
vielen blanken Taler in seinem Kasten klingen hörte, da raschelte es
ganz leise in einem Hansen Stroh, der auf der Tenne lag. Der Bauer
glaubte, es sei eine Maus, und packte seinen Stock schon fester, um ihr
den Garaus zu machen; allein er verwunderte sich fast, da statt eines
solcherl Tierchens ein Etwas, so leuchtend rot wie Klatschmohn, aus dem
Stroh hervorkam. Nun arbeitete es sich ganz zum Vorschein iiub stand
da, nicht größer als eine Maus, die ans zwei Beinen geht. Es war ein
Zwerg in grauer Kleidung, mit einem roten Käppchen ans dem Haupte.
Dieses lüftete der kleine Wicht gar höflich und sprach mit einem winzigen
Stimmlein: „Herr Bauer, ich habe ein großes Anliegen an Euch."
„Nun, was willst du denn, kleiner Mann?" fragte dieser. Das
Zwerglein sprach: „Reichtum und Fülle ist bei Euch eingekehrt. Wolltet
Ihr nun die große Güte haben, alltäglich um diese Zeit mir von Eurem
Überfluß eine Gerstenähre zu schenken, so soll dies nicht zu Eurem
Schaden sein." Der Bauer, der wohl wußte, daß man gut daran tut,
das kleine Volk sich freundlich zu-erhalten, sprach: „Gewiß, das soll
geschehen; kommt nur allezeit um die Mittagstnnde, so soll Euch werden,
was Ihr begehret."
Dann trat er zu einem Bund Getreide, zog eine schöne Gersten-
ähre hervor und reichte sie dem Männlein hin. Dieses wendete sich
aber mit trübseliger Gebärde gegen das Häuflein Stroh, aus dem es
hervorgekommen war, und sprach: „Ihr habt diesen großen Berg vor
unsere Höhle getürmt. So er dort liegen bleibt, vermag ich nicht mit
Eurer freundlichen Gabe unsere Wohnung zu gewinnen!"
„Nun wenn's weiter nichts ist!" sagte der Bauer und schob mit
dem Fuße das Stroh beiseite. Es zeigte sich nun an der Wand eine
Öffnung wie ein großes Mauseloch. Das Wichtlein lüftete wieder sein
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Ii. Aus dem Menschenleben.
59
Mützchen und sprach in wohlgesetzten Worten seinen Dank ans. Sodann
wuchtete es unter großem Schnaufen die Gerstenähre aus seine Schulter
und schleppte seine Last unter ziemlichem Gestöhne von dannen. Den
sperrigen Halm in das Loch hineinzubringen, ward ihm auch nicht leicht;
man sah an dem Zappeln der Ähre, wie das Männlein inwendig zerrte,
und wohl eine halbe Minute dauerte es, bis der letzte Zipfel in der
Öffnung verschwunden war.
Der Bauer ging von nun an alle Mittage in die Scheune und
gab dem Männlein seine Gerstenähre, und von dieser Zeit ab gedieh
sein Vieh auf eine wunderbare Art, obwohl es weniger Pflege und
Futter verlangte als sonst. So blanke Kühe wie auf diesem Hofe fanden
sich bald weit und breit nicht. Sie gaben ohne Ende fette, sahnige Milch
und um die Butter, die die Bäuerin in die Stadt schickte, rissen sich die
Leute; denn sie war frisch wie Morgentau und süß wie Nußkern. Ob-
wohl die Pferde des Bauern nur einige Hände voll Hafer und en-
wenig Heu alltäglich verzehrten, waren sie doch glänzend und schön,
fromm und feurig zugleich, und beschafften vor dem Pfluge oder dem
Wagen doppelt so viel als früher. Auch mit den Hühnern war es ein
seltsames Ding. Sie legten und legten fast das ganze Jahr hindurch,
jegliches alltäglich ein großes, rundes Staatsei, zuweilen gar mit zwei
Dottern, Hub niemals geschah es, wenn eine Glucke gesetzt wurde, daß
auch nur eines von den untergelegten Eiern sich faul erwies.
Dies alles gefiel dem Bauern und der Bäuerin gar wohl, und
da sie recht gut wußten, wem sie diesen Segen zu verdanken hatten,
so priesen sie das kleine Männchen alle Tage, und niemals ward die
herkömmliche Weise versäumt. Eines Tages im Winter aber, als es bei
hellem Sonnenschein so recht Stein und Bein fror und die Eiszapfen
wie gläserne Keulen von den Dächern hingen, saß der Bauer recht be-
haglich in seinem Sorgenstuhl am warmen Ofen und wartete auf sein
Mittagessen. Es gab sein Lieblingsgericht, Schweinsrippenbraten mit
Pflaumen und Äpfeln gefüllt, und süße Düfte dieses köstlichen Gerichtes
wehten jedesmal, wenn die Tür geöffnet wurde, verheißungsvoll aus der
Küche hervor. Da er nun in der Erwartung des Guten so behaglich in
der Wärme saß, empfand er eine Abneigung, hinauszugehen in den eisigen
Wintertag und die kalte Scheune nur um der einen kleinen Gerften-
ähre willen. Er rief deshalb seinen Knecht und sagte ihm, was er tun
sollte. Der Knecht, ein vorwitziger Gesell, hatte schon lange Begehren
getragen, das sonderbare Männlein, darüber man im Dorfe die wunder-
lichsten Dinge erzählte, zu sehen, und ging eilfertig in die Scheune, wo
er das Wichtlein schon wartend antraf. Als er ihm den Halm nun dar-
reichte, konnte er sich nicht enthalten, das kleine Geschöpf wie zufällig mit
den spitzen Grannen der Ähren ins Gesicht zu kitzeln, also daß er sehr
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Ii. Aus dem Menschenleben.
Der Affe trieb bloß seine Possen bis zur Nacht;
Vor ihm braucht' er nichts zu verhehlen;
Er konnt' im Gelde wühlen und Dukaten zählen,
Der schwatzte nicht, und kurz, er war nach seinem Sinn.
Einst rief der Glockenschlag ihn nach der Kirche hin;
Denn hier dacht' er durch Beten und durch Singen
Dem Himmel neuen Segen abzndringen.
Er ließ aus großer Eil' das Schreibpult offen stehn.
Petz, der den Haufen Gold erblickte
Und den die Langeweile drückte,
Sinnt sich zum Zeitvertreib ein kleines Spielwerk aus.
Er holt ein Goldstück nach dem andern
Und läßt zum Fenster frisch hinaus
Die Louisdor und die Dukaten wandern.
Das war ein Lärmen um das Haus!
Wer laufen konnte, lief, und bald ward vom Gedränge,
So breit die Straße war, der Platz doch viel zu enge.
Ein jeder schrie: „Herr Petz, mir auch ein Stück!"
Man haschte, sprang und fiel, und wem zum guten Glück
Eins in die Hände fiel, dem kam es hoch zu stehen;
Ein Jubel war's, dies Schauspiel anzusehen.
Indessen kam der Geizige zurück.
Er sah den Drang und rief: „Was gibt's für Unglück hier?
Mein Geld! Mein Geld! — O weh! Es büße mir,
Komm' ich hinauf, verruchter Dieb, dein Blut!"
Hier schwieg er; denn ihm schloß die Lippen seine Wut.
„Herr," sprach ein alter Mann, „Herr, mäßigt Eure Hitze!
Das Geld ist Euch wie ihm und ihm wie Euch nichts nütze.
Der Affe wirft es weg, und Ihr? Ihr sperrt es ein!
Wer mag von euch der Klügre sein?"
Friedr. von Hagedorn.
80. Der Krmd.
1. Phylax, der so manche Nacht
Haus und Hof getreu bewacht
Und oft ganzen Diebesbanden
Durch sein Bellen widerstanden,
Phylax, dem Lips Tullian,
Der doch gut zu stehlen wußte,
Selber zweimal weichen mußte;
Diesen siel ein Fieber an.
2. Alle Nachbarn gaben Rat.
Krummholzöl und Mithridat
Mußte sich der Hund bequemen
Wider Willen einzunehmen.
Selbst des Nachbar Gastwirts Müh',
Der vordem in fremden Landen
Als ein Doktor aufgestanden,
War vergebens bei dem Vieh.
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Ii. Aus dem Menschenleben.
63
3. Kaum erscholl die schlimme Post !
Als von ihrer Mittagskost
Alle Brüder und Bekannten,
Phylax zu besuchen, rannten.
Pantalon, sein bester Freund,
Leckt ihn an dem heißen Munde.
„0," erseufzt er, „bittre Stunde!
O, wer hätte das gemeint?"
4. „Ach!" ries Phylax, „Pantalon,
Jst's nicht wahr, ich sterbe schon?
Hätt' ich nur nicht eingenommen,
Wär' ich wohl davongekommen.
Sterb' ich Ärmster so geschwind,
O, so kannst du sicher schreien,
Daß die vielen Arzeneien
Meines Todes Quelle sind.
5. Wie zusrieden schlief ich ein,
Sollt' ich nur so manches Bein,
Das ich mir verscharren müssen,
Vor dem Tode noch genießen!
Dieses macht mich kummervoll,
Daß ich diesen Schatz vergessen,
Nicht vor meinem Ende fressen,
Auch nicht mit mir nehmen soll.
6. Liebst du mich und bist du treu,
O, so hole stc herbei;
Eines wirst du bei den Linden
An dem Gartentore finden;
Eines, lieber Pantalon,
Hab' ich nur noch gestern Morgen
In dem Winterreis verborgen;
Aber friß mir nichts davon!"
7. Pantalon war fortgerannt,
Brachte treulich, was er fand;
Phylax roch bei schwachem Mute
Noch den Dunst von seinem Gute.
Endlich, da sein Auge bricht,
Spricht er: „Laß mir alles liegen;
Sterb' ich, so sollst du es kriegen,
Aber, Bruder, eher nicht.
8. Sollt' ich nur so glücklich sein
Und das schöne Schinkenbein,
Das ich — doch ich mag's nicht sagen,
Wo ich dieses hingetragen.
Werd' ich wiederum gesund,
Will ich dir, bei meinem Leben,
Auch die beste Hälfte geben;
Ja, du sollst —" Hier starb der Hund.
* *
*
Der Geizhals bleibt im Tode karg,
Zween Blicke wirft er aus den Sarg,
Und tausend wirft er mit Entsetzen
Nach den mit,Angst verwahrten Schätzen.
O schwere Last der Eitelkeit!
Um schlecht zu leben, schwer zu sterben,
Sucht man sich Güter zu erwerben.
Verdient ein solches Glück wohl Neid?
Chr. F. Geliert.
81. Zeus und das Schaf.
Das Schaf mußte von allen Tieren vieles leiden. Da trat
es vor den Zeus und bat, sein Elend zu mindern. Zeus schien
willig und sprach zu dem Schafe: „Ich sehe wohl, mein frommes
Geschöpf, ich habe dich allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie
ich diesem Fehler am besten abhelfen soll. Soll ich deinen Mund
mit schrecklichen Zähnen und deine Füße mit Krallen rüsten?“
„0 nein,“ sagte das Schaf; „ich will nichts mit den reißenden
Tieren gemein haben.“ „Oder,“ fuhr Zeus fort, „soll ich Gift in
deinen Speichel legen?“ „Ach,“ versetzte das Schaf, „die giftigen
Schlangen werden ja so sehr gehasset.“ „Nun, was soll ich denn?
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Ii. Aus dem Menschenleben.
Ich will Hörner auf deine Stirne pflanzen und Stärke deinem
Nacken geben.“ „Auch nicht, gütiger Vater, ich könnte leicht so
stößig werden als der Bock.“ „Und gleichwohl“, sprach Zeus,
„mußt du selbst schaden können, wenn sich andere dir zu schaden
hüten sollen.“ „Müßt5 ich das?“ seufzte das Schaf. „0 so laß
mich, gütiger Vater, wie ich bin! Denn das Vermögen, schaden
zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust, schaden zu wollen; und
es ist besser unrecht leiden als unrecht tun.“ Zeus segnete das
fromme Schaf, und es vergaß von Stund an, zu klagen.
Gotth. Ephr. Lessing.
82. Der arme Heinrich.
Im Mittelalter, als in Europa die Seuche des Aussatzes in furcht-
barer Allgemeinheit herrschte, wurde einst auch ein stolzer Herr, der des
Glückes reiche Fülle besaß, vom Aussatze befallen und, wie der fromme
Hiob im alten Testament, jammervoll geplagt und versucht. Aber er
trug sein Unglück nicht wie Hiob mit Geduld, sondern, statt wie jener
Gott zu loben, ergrimmte er ob seines schmählichen Leidens und ver-
wünschte Tag und Stunde, da er geboren war. Kein Arzt vermochte
ihm zu helfen, und selbst die berühmtesten Ärzte zu Salerno in Italien,
wohin er Hilfe suchend gezogen war, hatten keine Arznei für ihn; bloß
das eine wußten sie ihm nach dem damaligen Aberglauben zu sagen,
daß der Altssatz nur durch Menschenblut geheilt werden könne, und zwar
durch das Blut einer sich freiwillig opfernden Jungfrau. So war der
reiche Herr, mit Namen Heinrich, zwar heilbar, aber doch konnte er
nimmermehr geheilt werden; denn wo fände sich eine Jnttgsrau, die ihr
Leben für einen Aussätzigen opfern wollte?
Also wanderte der arme Heinrich traurig wieder in die Heimat
nach Schwaben, gab alle seine Besitzungen bis auf einen einsamen
Meierhof auf und zog sich auf diesen zurück. Da jammerte des Elenden
das zwölfjährige Töchterlein des Meiers, und es pflegte sein treulich und
kindlich, gleich als sei der Herr nicht unrein und ein Scheusal vor aller
Welt. Nach einiger Zeit erfuhr das Mägdlein auch, wodurch der
Kranke zu heilen wäre, und es ging ihr durch das Herz, sie sei es, die
den Herrn heilen könnte. In nächtlicher Stille Pflegte sie unter Tränen
dieser Gedanken, und immer kräftiger wurde ihr Wille, ihr junges
Leben zu opfern, und immer inttiger die Sehnsucht, dem Kranken zu
helfen. So zog sie denn mit ihrem kranken Herrn nach Salerno.
Hier stellte ihr der Arzt vor, welchen qualvollen Tod sie zu leiden
habe, und forschte sie noch besonders aus, ob auch nicht Drohungen
ihres Herrn oder sonstige Gründe, ob vielmehr ganz reiner, freier Wille
sie zur Selbstopferung bestimme. Das Mädchen blieb unerschütterlich;
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Extrahierte Personennamen: Zeus Zeus Gotth Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich
Extrahierte Ortsnamen: Europa Salerno Italien Schwaben Salerno