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1. Teil 4 - S. 11

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
11 die Häuser heran, um der vorüberfahrenden Artillerie Platz zu bieten. Die Pferde mutzten ausgespannt werden, während wir auf den Leiterwagen sitzen blieben. Inzwischen war es Mitternacht geworden; es wurde General- marsch geschlagen,' Prinz Friedrich Karl rückte mit seinen in der Stadt befindlichen Truppen aus — dann aber wurde es etwas freier auf den Straßen, und wir konnten ans helfen denken. Das Seminar lag voll von verwundeten, und Massen von Wagen mit Unglücklichen, die nicht untergebracht werden konnten, standen noch auf den Straßen herum, wir besannen uns nicht, brachen die Kirche auf, da man sie uns nicht gutwillig öffnete, und suchten nun hier die Urmen unterzubringen. Zunächst sahen wir uns nach Stroh und sonstigem Material um, worauf wir sie betten konnten. In dem Seminar lagen mehr als tausend verwundete, und eine ebenso große Unzahl mußte die Nacht noch untergebracht werden. Die Kaiserswerther Diakonissen waren bereits im Seminar in Tätigkeit' meine Ulbertinerinnen aber übernahmen in Gemeinschaft mit den Wiesbadener Diakonen die pflege der verwundeten in der Kirche,' es war hier kein Plätzchen leer, alle Gänge waren belegt. Wir suchten ein Faß Wein zu bekommen, und das war das einzige, was wir, mit Wasser vermischt, den armen, erschöpften Menschen geben konnten. T§ war eine schreckliche Nacht,' in dieser einen Nacht habe ich mehr als fünfzig Jahre gelebt und gelitten,' ich hatte nur eine Bitte zu Gott: um Kraft zum Ausdauern; mir ahnte, es käme noch Schlimmeres. Meine armen Pflegerinnen waren sehr erschöpft,' ich konnte ihnen nicht einmal etwas bieten, um ihre Kräfte aufzufrischen,' denn der letzte Nest von den Mundvorräten, die ich für unsern eigenen Bedarf mit- genommen hatte, war in der Nacht aus den Straßen verteilt worden. Ohne irgend etwas genossen zu haben, mußten sie mit mir vom verbinden fort und auf unseren mit Kisten bepackten Leiterwagen weiter nach Metz vor. Wir fuhren gegen zwölf Uhr mittags ab. Die Hitze war grenzenlos. Die Kolonnen wirbelten einen Staub auf, daß wir kaum die Augen öffnen konnten. Alle Ortschaften, durch die wir kamen, waren in größter Aufregung; wir hörten Kanonendonner und sahen Feuerschein, der von brennenden Dörfern herrührte. Um acht Uhr abends erreichten wir eine Unhöhe, wo wir in gerader Linie kaum eine Stunde vom Schlachtfelde entfernt waren, wir vernahmen ganz deutlich das Kleingewehrfeuer und sahen das Uufblitzen der einzelnen Schüsse,' der Himmel war rot vom Feuerschein. Unsere wagen wurden auf ein Feld gefahren, und wir mußten dort eine feuchte, kalte Nacht zubringen. Unser aller hatte sich eine große Verzweiflung bemächtigt, daß wir hier still liegen bleiben mußten, anstatt Hilfe bringen zu können,' auch war es sehr beängstigend, nichts über den Uusgang der Schlacht zu wissen. Einzelne Soldaten, die sich im Getümmel der Schlacht von ihren Truppenteilen getrennt hatten, gesellten sich zu uns, viele darunter leicht verwundet' — sie brachten keine guten Nachrichten. Da endlich hörten wir Hurra rufen, und nun wußten wir, daß der Sieg für uns entschieden war.

2. Teil 4 - S. 13

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
13 um dieselbe Riesenarbeit hier von neuem zu beginnen. Ruch hier gab es kein Wasser, Eis noch viel weniger, und die Hitze war groß. Dazu überstieg der Krankenbestand an diesem kleinen Ort anfänglich 6000 Mann,- die Kirche war mit verwundeten überfüllt, Frau Simon schreibt darüber: „Ls ist rührend, wie die Rrzte und das ganze Sanitätspersonal es sich angelegen sein lassen, die Leidenden aus der Kirche herauszutragen auf den Friedhof in die frische, milde Luft, an ein sonniges Plätzchen — und sie sorgsam in ihre Decken hüllen oder letztere neben ihnen aufhängen, damit sie vor jedem Zug geschützt sind. Manchem haben sie das Lager auf einem Leichensteine zurechtgemacht. Da liegen nun Deutsche und Franzosen, die sich eben noch wütend bekämpft haben, friedlich nebeneinander aus einem Friedhofe, sie, die Lebenden, die erst ihr Leben so freudig eingesetzt und es jetzt doch nicht lassen mächten, unter den Toten, vorüber ist alle irdische Leidenschaft,- hier herrscht Friede und Versöhnung." So setzte die mutvolle Frau während des ganzen Krieges ihre opfer- willige Tätigkeit fort, vor Sedan wie vor Paris, überall zur rechten Zeit eingreifend, überall mit klarem Blick die nächsten Bedürfnisse erkennend, für deren Befriedigung ihr praktischer Zinn und ihre rasche Entschlossenheit auch stets Mittel und Wege zu finden wußte. Den größten Gefahren trotzte sie mit unerschrockenem Mut. von dem Umfange ihrer Rrbeiten und psiichten kann man sich kaum eine Vorstellung machen. In der Nähe von Paris hatte sie eine Verpflegungsstation errichtet und versah hier in der Zeit vom 10. Oktober bis zum 25. November mehr als 63000 Mann mit Suppe und Fleisch und 17500 Mann mit Kaffee. Rußerdem aber errichtete sie noch Passantenlazarette, in denen während derselben Zeit 4941 Kranke und verwundete aufgenommen und verpflegt wurden. Rls endlich der Friede geschloffen wurde und auch Frau Simon, begleitet von den heißen Segenswünschen Tausender, in die Heimat zurückkehrte, da ging sie sogleich an die Rusführung des planes, den ihre edle Seele inmitten aller Schrecken des Krieges gefaßt hatte: sie gründete eine Heilstätte für deutsche Invaliden und alleinstehende Kranke, zugleich eine Lehranstalt für Krankenpflegerinnen. Das dankbare Vaterland unterstützte fteudig das Werk. Mein nur kurze Zeit war es ihr vergönnt, ihre Schöpfung emporblühen zu sehen. Rm 20. Februar 1877 entriß der Tod sie ihrem schönen Wirkungskreise. Noch am Tage vor ihrem Tode hatte die edle Königin Tarola von Sachsen an ihrem Krankenlager gestanden, und die Träne im Rüge der hohen Frau bezeugte, wieviel sie in der Sterbenden verlor. „Nicht müde werden!" — hatte diese so oft auf den Schlachtfeldern wie an den Krankenbetten des Lazaretts ihren braven Mertinerinnen zugerufen, und nun war für sie selbst die Nacht gekommen, da sie müde das Haupt neigte. Ihr Rndenken aber bleibt in Segen, denn an ihr erfüllte sich das Wort der Schrift, daß die Edlen „rubeu von ihrer Rrbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach". Rudolf Bunge.

3. Teil 4 - S. 47

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
47 19. Der Zeuerreiter. Sehet ihr am Fensterlein dort die rote Mütze wieder? Nicht geheuer muß es sein, denn er geht schon auf und nieder. Und auf einmal, welch Gewühle bei der Brücke, nach dem Feld! horch! das Feuerglöcklein gellt: hinterm Berg, hinterm Berg' brennt es in der Mühle! Schaut! da sprengt er wütend schier durch das Tor, der Feuerreiter, auf dem rippendürren Tier als auf einer Feuerleiter! Querfeldein! Durch Hualm und Schwüle rennt er schon und ist am Grt! Drüben schallt es fort und fort: hinterm Berg, hinterm Berg brennt es in der Mühle! Der so oft den roten Hahn meilenweit von fern gerochen, mit des heil'gen Kreuzes Span freventlich die Glut besprochen — weh! dir grinst am Dachgestühle dort der Feind im Höllenschein. Gnade Gott der Seele dein! hinterm Berg, hinterm Berg rast er in die Mühle! Keine Stunde hielt es an, bis die Mühle barst in Trümmer; doch den kecken Keitersmann sah man von der Stunde nimmer. Dolk und Magen im Gewühle kehren heim von all dem Graus; auch das Glöcklein klinget aus: hinterm Berg, hinterm Berg brennt's! —

4. Teil 4 - S. 101

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
101 Munter fördert seine Schritte 275 fern im wilden Forst der Wandrer nach der lieben Heimathütte. Blökend ziehen heim die Schafe, und der Binder breitgestirnte, glatte Scharen 280 kommen brüllend, die gewohnten Ställe füllend. Schwer herein schwankt der wagen, kornbeladen,' 285 bunt von Farben, auf den Garben liegt der Kranz, und das junge Volk der Schnitter stiegt zum Tanz. 290 Markt und Straße werden stiller, um des Lichts gesellige Flamme sammeln sich die Hausbewohner, und das Stadttor schließt sich knarrend. Schwarz bedecket 295 sich die Erde,' doch den sichern Burger schrecket nicht die Nacht, die den Bösen gräßlich wecket' denn das Buge des Gesetzes wacht. 300 heil'ge Ordnung, segensreiche Himmelstochter, die das Gleiche stei und leicht und freudig bindet, die der Städte Bau gegründet, die herein von den Gefilden 305 rief den ungeselligen wilden, eintrat in der Menschen Hütten, sie gewöhnt zu sanften Sitten und das teuerste der Bande wob, den Trieb zum vaterlande! 310 Tausend steiß'ge Hände regen, helfen sich in munterm Bund, und in feurigem Bewegen werden alle Kräfte kund. Meister rührt sich und Geselle 315 in der Freiheit heiligem Schutz. Jeder freut sich seiner Stelle, bietet dem Verächter Trutz.

5. Teil 4 - S. 120

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
120 erfordert wurde, alle Arbeit war Sache der Subalternen, der Kammer- herr galt mehr als der verdiente General und Minister; in Preußen war auch der Vornehmste gering geachtet, wenn er dem Staate nichts nützte, und der König selbst war der allergenaueste Beamte, der über jedes Tausend Taler, das erspart oder verausgabt wurde, sorgte oder schalt. Wer in Österreich vom katholischen Glauben ab- fiel, wurde mit Konfiskation und Verweisung bestraft, bei den Preußen konnte sich jeder frei für ein Glaubensbekenntnis entscheiden. Bei den Kaiserlichen war die Regierung im ganzen lässig gewesen, wenn sie sich um etwas hatte bekümmern müssen, die preußischen Beamten hatten ihre Nase und ihre Hände überall. Trotz der drei Schlesischen Kriege wurde die Provinz weit blühender als zur Kaiserzeit. Einst hatten hundert Jahre nicht ausgereicht, die handgreiflichen Spuren des Dreißigjährigen Krieges zu verwischen, die Leute erinnerten sich wohl, wie überall in den Städten die Schutthaufen aus der Schwedenzeit gelegen hatten, überall neben den gebauten Häusern die wüsten Brandstellen. Viele kleine Städte hatten noch Blockhäuser nach alter slawischer Art mit Stroh- und Schindeldach, seit langem dürftig ausgeflickt. Durch die Preußen waren die Spuren nicht nur alter Verwüstung, auch der neuen des Siebenjährigen Krieges nach wenigen Jahrzehnten getilgt. Friedrich hatte einige hundert neue Dörfer angelegt, hatte fünfzehn ansehnliche Städte zum großen Teil auf königliche Kosten wieder in regelmäßigen Straßen aus- mauern lassen, er hatte den Gutsherren den harten Zwang aufgelegt, einige tausend eingezogene Bauernhöfe wieder aufzubauen und mit erblichen Eigentümern zu besetzen. Zur Kaiserzeit waren die Abgaben weit geringer gewesen; aber sie waren ungleich verteilt und lasteten zumeist auf dem Armen, der Adel war zum größten Teile von ihnen befreit, die Erhebung war ungeschickt, viel wurde ver- untreut und schlecht verwendet, es floß verhältnismäßig wenig in die kaiserlichen Kassen. Die Preußen dagegen hatten das Land in kleine Kreise geteilt, den Wert des gesamten Bodens abgeschätzt, in wenig Jahren fast alle Steuerbefreiung aufgehoben, das flache Land zahlte jetzt seine Grundsteuer, die Städte ihre Akzise. So trug die Provinz die doppelten Lasten mit größerer Leichtigkeit, nur die Privilegierten murrten, und dabei konnte sie noch 40 000 Soldaten unterhalten, während sonst etwa 2000 im Lande gewesen waren. Vor 1740 hatten die Edelleute die großen Herren gespielt, wer katholisch und reich war, lebte in Wien, wer sonst das Geld aufbringen konnte, zog sich nach Breslau, jetzt saß die Mehrzahl der Gutsherren auf ihren Gütern, die Krippenreiterei hatte auf- gehört, der Adel wußte, daß es ihm beim König für eine Ehre galt, wenn er für die Kultur des Bodens sorgte, und daß der neue Herr solchen kalte Verachtung zeigte, die nicht Landwirte, Beamte oder Offiziere waren. Früher waren die Prozesse unabsehbar und kostspielig gewesen, ohne Bestechung und Geldopfer kaum durch-

6. Teil 4 - S. 73

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
73 Bewußtsein ihres Unrechts und — begeht es dennoch. Das Mitleid, diese, wie in neuester Zeit festgestellt worden, verwerflichste Form des Egoismus, ist zu mächtig in ihr,' es überwältigt sie immer wieder von neuem. Mit dem unvernünftigen Ulmosenspenden ist es aber auch eine so eigene Sache! Unendlich schwer wird diese üble Gewohnheit ablegen, der einmal ihre ganze Süßigkeit gekostet hat. Du gehst durch die Straßen der großen Stadt, und wenn deine Uugen nur offen sind, siehst du in kurzer Zeit das Elend in jeder denkbaren Gestalt,- von dem geistigen und moralischen Elend an, das hinter äußerem Glanz verborgen vor- beistolziert, bis herab zu dem Elend des hungernden, vom Tode schon gezeichneten Lasters. Und wenn es dich nun da plötzlich mitten heraus aus der rettungslosen Verkommenheit ansieht mit Bugen, die von einer noch unschuldigen Seele erzählen oder von einer im schwersten Kampf geläuterten oder von einer noch hoffenden, noch ringenden, und du ant- wortest ihrer scheuen Bitte und greifst in deinen Säckel, greifst ziemlich tief und reichst eine Gabe dar, die den Brmen auf das äußerste über- rascht — o des wunderbaren Eindrucks! o der stummen seligen Frage: ,,Das schenkst du mir? Du ganz fremder Mensch schenkst mir so viel?" und ein unvergeßlicher Blick trifft den Wundertäter, der dem Kinde der Not für ganze Tage die Zorge aus dem Leben nimmt. Nun, dieses Staunen mit anzusehen, die Freude aufblitzen zu sehen auf dem Bntlitz des Kummers, das ist Glück,' und wer es einigemal ge- nossen hat und auf den Geschmack gekommen ist und sich's trotzdem aus Überzeugung und aus Tugend versagt, den nenn' ich — so schloß die Generalin ihre Betrachtungen — einen Tato vom Standpunkt der Nationalökonomie! Sie selbst hat nicht das Zeug zu solcher Größe, überhaupt nicht, am wenigsten aber dann, wenn sie sich durch und durch zufrieden fühlt und im Grunde jeden anderen bemitleidet, weil er schwerlich so gut dran sein kann wie sie, der arme andere. widerstandslos läßt sie ihrer Torheit den Zügel schießen, bis ihr eine natürliche Grenze gesetzt wird und das Portemonnaie nichts mehr enthält als eine Visitenkarte. Nachgerade ist es auch Zeit geworden, einen rascheren Schritt ein- zuschlagen, denn plötzlich hat der wind sich scharf erhoben und jagt große Schneeflocken durch die Luft. Die gelblichen Flämmchen, die man in den Straßenlaternen wahrzunehmen beginnt, machen darauf aufmerksam, daß die Dunkelheit demnächst einbrechen wird, und daß es ihnen nicht einfällt, sie daran zu hindern. Unter solchen Umständen hat die Nebenstraße des wiener Grabens, in welche die Generalin eben einlenkt, etwas entschieden Unheimliches, und die Dame wäre gar nicht böse gewesen, wieder draußen zu sein. So eilte sie denn, ohne sich aufzuhalten, an einer Bettlerin vorüber, die auf der steinernen Stufe vor einem geschlossenen Kaufladen saß und sich frierend in den Winkel der Mauer drückte. Der Schnee umwirbelte

7. Teil 4 - S. 125

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
125 Hornvieh und seine fluchenden Führer Schritt um Schritt Platz erbitten. Buch die Katterngasse, in die wir bogen, war schon zum Teil besetzt. Die Ochsen folgten uns. Vas Tor, als wir hielten, war bereits vor uns be- lagert. Die Unteroffiziere, welche den Viehtransport gebracht, hämmerten und schlugen daran und fluchten, daß die krachenden Geschütze gegen das Toben matt erschienen, preußische Unteroffiziere aus der alten Zeit hatten eine Macht im Fluche, die man heut nur noch traditionell kennt, und hier hatten sie dazu einen Grund. Sie sollten oder wollten die Ochsen in den Vorhof des Klosters bringen zum Übernachten, und die Nonnen, welche diese Einquartierung nicht wollten, hatten den Torweg fest verrammelt. Dem wortreichen Geschütz der Belagerer setzen sie ein viel wirkungs- reicheres entgegen, ein tiefes Schweigen. Das Tor ließ sich nicht erbrechen, die Mauer nicht überklettern, sie waren im Vorteil gegen die Belagerer, und nur wir im äußersten Nachteil. U)as vermochten schwache Frauen- stimmen, die unter dem Gießen des Negens, dem Heulen des Windes, dem Krachen des Geschützes, dem Donnern der Soldateska und dem Brüllen einer Herde scheuer Ochsen um Einlaß baten? Zum Übermaß des Unglücks wurde der Fuhrknecht durch das immer stärker werdende Schießen selbst so einge- schüchtert, daß er auch fluchte: auf uns, das Unglück und die Nacht, und keine Minute länger warten wollte. Mitten unter den wütenden Unter- offizieren und dem unruhigen Hornvieh mußten wir die Betten, Geschirre, Butterfässer, die Säcke mit Nei§, Mehl, Grütze und was auf dem Magen war, auspacken und wo es Platz fand, im Kot hinstellen,- denn der Kutscher hatte mit dem durch die Schüsse immer scheuer werdenden Pferde zu schaf- fen und erklärte, daß ihm sein Leben lieber sei als Geld. Er fuhr fort, und der Himmel goß immer stärker. Da endlich, als wir schon ganz durchnäßt waren — man denke sich eine Mutter mit zwei kleinen Kindern in dieser Lage — öffnete sich im Turme ein kleines Fenster, und man winkte uns seitwärts. Ein Uebenpförtchen tat sich leise auf, und — wir sind selbst, und unsere Effekten auch, ins Kloster gekommen. Die Ochsen konnten nach Naturgesetzen nicht durch dieselbe Öffnung,- wie es aber kam, daß die Unteroffiziere nicht auch den Weg fanden, weiß ich heut nicht mehr zu erklären. Nuch im Kloster waren wir noch nicht sogleich geborgen. Es dauerte eine Weile, ehe die Jungfer Pförtnerin kam, und uns schweigend durch Gänge und Hallen, noch dunkler durch das wenige Licht, das ihre Laterne auf die hohen Kreuzgewölbe warf, und unheimlich durch die vielen Nischen und Pfeiler mit buntgemalten, ungestalteten Märtprerfiguren, treppauf, treppab führte. Mit unheimlichem Klange fielen die Niegel und Schlösser hinter uns zu. Niemand begegnete uns, denn die Nonnen sangen die Hora im Thor,- und der Gesang hinter den hallenden Mauern klang wie ein Grabeslied. 'Endlich langten wir in der hohen, dunkeln, kalten und leeren Zelle, die man uns eingeräumt, erschöpft an, um uns auf eine Nacht vor- zubereiten, die das preußische Geschütz, das von allen Wällen donnern sollte, um dem Feinde unsere Wachsamkeit zu beweisen, schlaslos zu machen drohte. Über die Erschöpfung war zu groß, wir schliefen vortrefflich.

8. Teil 4 - S. 134

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
134 Krieges ist so, daß im Verlaufe dieses Feldzugs uns sowohl die Überlegenheit als der Sieg nicht entgehen kann." Schon der Aufruf vom 3. Februar hatte Erfolge, die niemand außer Scharnhorst für möglich gehalten. Es war der stolzeste Augenblick in Scharnhorsts' Leben, als er den König einst in Breslau ans Fenster führte und ihm die jubelnden Scharen der Freiwilligen zeigte, wie sie in malerischem Gewimmel, zu Fuß, zu Roß, zu Wagen, ein endloser Zug, sich an den alten Giebelhäusern des Ringes vorüberdrängten. Dem Könige stürzten die Tränen aus den Augen. Treu und gewissen- haft hatte er seines schweren Amtes gewaltet in dieser langen Zeit der Leiden und oftmals richtiger gerechnet als die Kriegspartei; was ihm fehlte, war der frohe Glaube an die Hingebung seiner Preußen, jetzt fand er ihn wieder. Seit dem 17. März traten auch die breiten Massen des Volkes in das Heer ein. Durch den Wetteifer aller Stände wurde die größte kriegerische Leistung möglich, welche die Geschichte von gesitteten Nationen kennt. Dies verarmte kleine Volk verstärkte die 46 000 Mann der alten Linienarmee durch 95 000 Rekruten und stellte außerdem über 10 000 freiwillige Jäger sowie 120 000 Mann Landwehr, zusammen 271000 Mann, einen Soldaten auf siebzehn Einwohner, unvergleichlich mehr, als Frankreich einst unter dem Drucke der Schreckensherrschaft aufgeboten hatte — das alles noch im Verlaufe des Sommers, ungerechnet die starken Nachschübe, die späterhin zum Heere abgingen. Natürlich, daß die ent- lassenen Offiziere sich sofort herbeidrängten, um die Ehre ihrer alten Fahnen wiederherzustellen. Sobald General Oppen auf seinem märkischen Landgute von dem Anrücken des vaterländischen Heeres hörte, nahm er seinen alten Säbel von der Wand und ritt, wie ein Rittersmann in den Tagen der Wendenkriege, mit einem Knechte spornstreichs hinüber zu seinem alten Waffengefährten Bülow. Der stellt den herkulischen Mann mit den blitzenden Augen lachend seinen Offizieren vor: „Das ist einer, der das Einhauen versteht" — überträgt ihm den Befehl über die Reiterei, und einmal bei der Arbeit bleibt der Wildfang fröhlich dabei, ein unersättlicher Streiter, bis zum Einzuge in Paris. Neben den alten Soldaten empfand die gebildete Jugend den Ernst der Zeiten am lebhaftesten; in ihr glühte die schwärmerische Sehnsucht nach dem freien und einigen deutschen Vaterlande. Kein Student, der irgend die Waffen schwingen konnte, blieb daheim; vom Katheder hinweg führte Professor Steffens nach herzlicher Ansprache seine gesamte Hörerschaft zum Werbeplatze der frei- willigen Jäger. Der König rief auch seine verlorenen alten Provinzen zu den Fahnen: „Auch ihr seid von dem Augenblicke, wo mein treues Volk die Waffen ergriff, nicht mehr an den erzwungenen Eid gebunden." Da aber eine Massenerhebung in den unglücklichen Landen vorerst noch ganz unmöglich war, so eilten mindestens

9. Teil 4 - S. 87

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
87 abgeschnitten und so ferne liegend, als ob sie Tausende von Meilen weit weg läge. Die letzte Zeitungsnummer, die auf dem Tisch liegt, ist mehr als drei Wochen alt. Der Förster zündet die Lampe an, tiefe Stille herrscht in der Stube, die Kinder beginnen schläfrig zu werden, und draußen schlägt das Flockengewirbel an die Scheiben. Wenn der Schneehimmel gegen Rbend sich lichtet, brechen vereinzelt die flimmernden Sterne durch und funkeln über der eisigen Todesruhe,' zwischen den Zinken des Sonnenwendjoches steigt die kalte, glänzende Sichel des Mondes empor. Dann tönt es, als ob man in der Ferne den verlorenen Klang des Rbendläutens vernähme; ist's nur der Wind, der mit dem klingenden Demantgeschmeide des Waldes spielt? Der Förster streift mit der Hand über die Scheiben und lugt empor, aber die funkelnden Sterne sind stumm. Und doch sind es dieselben Sterne, die über dem Jubel der nordischen Hauptstadt glänzten, über der Ver- zweiflung von Paris, über der Krone des neuen Reiches; die Sterne, die unveränderlich und geheimnisvoll über dem Wandel der Weltgeschichte stehen. „T§ wird heute eine eisige Nacht!" sagt der Förster gedankenvoll. „Wenn es so weitergeht, erstarrt der Schnee so hart, daß er wohl die Last eines Menschen trägt. Dann mag es einer von den Burschen wagen und nach Schliersee hinuntergehen, damit wir hören, wie es draußen steht,' die lange Einsamkeit ist entsetzlich." So sprach der Förster. Der gewaltige Bart fiel ihm über die Brust hinab, und in geduldiger Langmut sah er zu, wie die Minuten verstrichen, wie ihm der Hund die breiten Tatzen aufs Knie legte, wie nach und nach die Kinder in Schlummer fielen. Noch ehe es neun Uhr schlug, ward die Lampe gelöscht, und toten- still war es im stillen Haus. Es mochte drei Uhr nach Mitternacht sein, ein stechender Frost zog den Schnee zusammen; da tönte mit einmal in der Nähe des Hauses ein Schuß. Der Förster fuhr empor. Wie wäre es möglich, daß ein Menschenkind des Nachts durch diese Wüste zöge! Er horchte auf, er blickte durch das mondhelle Fenster, und siehe da, es war in der Tat eine schlanke Gestalt, die vorsichtig über den Schnee hintastete, die Füße mit hölzernen Reifen gesichert, wie man sie im Gebirge zur Winters- zeit trägt, um sich vor der Gefahr des versinken? zu schützen. Bald pochte es sachte unten ans Tor, und als der Förster hinabstieg, stand ein Jägerbursch von Schliersee vor ihm, der den Hut lüftete und ihm lachend entgegenrief: „Paris hat kapituliert!" Gegen Nachmittag war die Nachricht ins Dorf gelangt, und sein Herr in Schliersee wollte sich's nicht versagen, seinem eingemauerten Kollegen die kostbare Botschaft zuzustellen. Er fragte, wer den Mut hätte, über den Spitzing emporzu- steigen, und siehe da, der jüngste und leichteste war bereit, das Wagestück

10. Teil 4 - S. 148

1912 - Hannover : Norddt. Verl.-Anst. Goedel
148 in den Sattel, schwenkte seine hohe Mütze gegen seine Mörder mb jagte dann zurück zu seinen Kameraden. Dies Stückchen gefiel uns dermaßen wohl, daß wir es nachher, um es unserer Schwester Margarete und anderen anschaulich zu machen, des öfteren wie eine Komödie aufgeführt haben. Sch kam auf einer Fußbank angesprengt, mein Bruder feuerte hinter dem Holzkorb vor, und dann geschah alles so wie dort. Kn demselben Morgen sahen wir aus unseren Fenstern, wie zwei schlanke, hechtblaue Sachsenleutnants einen kleinen stämmigen Kosaken- ofsizier mit verbundenen Bugen vorüberführten. „Sie haben ihm ins Gesicht geschossen," sagte mein Bruder ruhig, „und ihn dann gefangen." Nber der Vater belehrte uns, daß das ein Parlamentär sei, den man zum Kommandanten führe. Sch sah den kleinen, straffen Parla- mentär mit so lebhaftem Interesse an, daß er mir mit seinen festen, kurzen Schritten, seinem breiten Kacken und der stolzen Haltung seines ver- bundenen Kopfes noch heute ganz lebendig vor den Bugen steht. Nach einigen Stunden verbreitete sich die sehr willkommene Nachricht, daß die Neustadt am folgenden Morgen übergeben werden sollte. Nächsten Tages in aller Frühe zog denn auch die sächsische Be- satzung ab, während sich unsere Neustädter Honoratioren am Schwarzen Tor versammelten, um die Kosaken zu empfangen. Diese, geführt vom Gbristen Brendel, etwa 800 Mann stark, zogen in guter Ordnung ein und machten unweit des Tores, auf dem damals noch freien Platze zwischen Kirche und Kaserne, halt. Buch mein Vater war mit uns Knaben hingegangen. „Das sind deine Landsleute,"*) sagte er mir, in welcher Bezeichnung für mich eine Beförderung zu ungemessener Zärtlichkeit lag. Gern hätte ich wenigstens einigen die Hand gedrückt, da ich's nicht allen konnte, wenn mein Vater mich nicht an der [einigen festgehalten und die strenge Haltung dieser wilden Krieger mir nicht einiges Bedenken eingeflößt hätte. Inzwischen dauerte die anfängliche militärische Erstarrung des heiteren Kosakenvölkchens nicht allzu lange. Mas irgend Beine hatte in der Neustadt, war nach dem Tore geeilt, und von allen Seiten drängten die Bürger mit freudigem Zuruf auf ihre Befleier ein. Diese Nüssen waren als Feinde der Franzosen teure Freunde und Gesinnungs- genossen,' sie wurden wie Brüder empfangen, und begeistertes Jauchzen erfüllte den Platz. Der Branntwein strömte,' jeder hatte ihn mitgebracht, und jeder wollte der erste sein, den langersehnten Barbaren den Mund damit zu füllen, halb zog man sie, halb sanken sie im Freudentaumel aus den Sätteln. Man umarmte, man küßte sich und sprach in allen Zungen, bis die Ouartierbilletts verteilt waren und die glücklichen Wirte mit ihren Mannschaften abzogen. Es war ein Funke der weltgeschicht- lichen Begeisterung einer großen Zeit, der in die herzen de^ Dresdner Volkes gefallen war. *) Die Mutter stammt aus Reval.
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