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die Häuser heran, um der vorüberfahrenden Artillerie Platz zu bieten.
Die Pferde mutzten ausgespannt werden, während wir auf den Leiterwagen
sitzen blieben. Inzwischen war es Mitternacht geworden; es wurde General-
marsch geschlagen,' Prinz Friedrich Karl rückte mit seinen in der Stadt
befindlichen Truppen aus — dann aber wurde es etwas freier auf den
Straßen, und wir konnten ans helfen denken. Das Seminar lag voll
von verwundeten, und Massen von Wagen mit Unglücklichen, die nicht
untergebracht werden konnten, standen noch auf den Straßen herum,
wir besannen uns nicht, brachen die Kirche auf, da man sie uns nicht
gutwillig öffnete, und suchten nun hier die Urmen unterzubringen. Zunächst
sahen wir uns nach Stroh und sonstigem Material um, worauf wir sie
betten konnten. In dem Seminar lagen mehr als tausend verwundete,
und eine ebenso große Unzahl mußte die Nacht noch untergebracht werden.
Die Kaiserswerther Diakonissen waren bereits im Seminar in Tätigkeit'
meine Ulbertinerinnen aber übernahmen in Gemeinschaft mit den
Wiesbadener Diakonen die pflege der verwundeten in der Kirche,' es war
hier kein Plätzchen leer, alle Gänge waren belegt. Wir suchten ein Faß
Wein zu bekommen, und das war das einzige, was wir, mit Wasser
vermischt, den armen, erschöpften Menschen geben konnten. T§ war eine
schreckliche Nacht,' in dieser einen Nacht habe ich mehr als fünfzig Jahre
gelebt und gelitten,' ich hatte nur eine Bitte zu Gott: um Kraft zum
Ausdauern; mir ahnte, es käme noch Schlimmeres.
Meine armen Pflegerinnen waren sehr erschöpft,' ich konnte ihnen
nicht einmal etwas bieten, um ihre Kräfte aufzufrischen,' denn der letzte
Nest von den Mundvorräten, die ich für unsern eigenen Bedarf mit-
genommen hatte, war in der Nacht aus den Straßen verteilt worden. Ohne
irgend etwas genossen zu haben, mußten sie mit mir vom verbinden fort
und auf unseren mit Kisten bepackten Leiterwagen weiter nach Metz vor.
Wir fuhren gegen zwölf Uhr mittags ab. Die Hitze war grenzenlos.
Die Kolonnen wirbelten einen Staub auf, daß wir kaum die Augen
öffnen konnten. Alle Ortschaften, durch die wir kamen, waren in größter
Aufregung; wir hörten Kanonendonner und sahen Feuerschein, der von
brennenden Dörfern herrührte. Um acht Uhr abends erreichten wir eine
Unhöhe, wo wir in gerader Linie kaum eine Stunde vom Schlachtfelde
entfernt waren, wir vernahmen ganz deutlich das Kleingewehrfeuer
und sahen das Uufblitzen der einzelnen Schüsse,' der Himmel war rot
vom Feuerschein. Unsere wagen wurden auf ein Feld gefahren, und
wir mußten dort eine feuchte, kalte Nacht zubringen. Unser aller hatte
sich eine große Verzweiflung bemächtigt, daß wir hier still liegen bleiben
mußten, anstatt Hilfe bringen zu können,' auch war es sehr beängstigend,
nichts über den Uusgang der Schlacht zu wissen. Einzelne Soldaten,
die sich im Getümmel der Schlacht von ihren Truppenteilen getrennt
hatten, gesellten sich zu uns, viele darunter leicht verwundet' — sie brachten
keine guten Nachrichten. Da endlich hörten wir Hurra rufen, und nun
wußten wir, daß der Sieg für uns entschieden war.
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Extrahierte Personennamen: Friedrich_Karl Friedrich Karl
13
um dieselbe Riesenarbeit hier von neuem zu beginnen. Ruch hier gab es
kein Wasser, Eis noch viel weniger, und die Hitze war groß. Dazu überstieg
der Krankenbestand an diesem kleinen Ort anfänglich 6000 Mann,- die
Kirche war mit verwundeten überfüllt, Frau Simon schreibt darüber:
„Ls ist rührend, wie die Rrzte und das ganze Sanitätspersonal es
sich angelegen sein lassen, die Leidenden aus der Kirche herauszutragen
auf den Friedhof in die frische, milde Luft, an ein sonniges Plätzchen —
und sie sorgsam in ihre Decken hüllen oder letztere neben ihnen aufhängen,
damit sie vor jedem Zug geschützt sind. Manchem haben sie das Lager auf
einem Leichensteine zurechtgemacht. Da liegen nun Deutsche und Franzosen,
die sich eben noch wütend bekämpft haben, friedlich nebeneinander aus
einem Friedhofe, sie, die Lebenden, die erst ihr Leben so freudig eingesetzt
und es jetzt doch nicht lassen mächten, unter den Toten, vorüber ist
alle irdische Leidenschaft,- hier herrscht Friede und Versöhnung."
So setzte die mutvolle Frau während des ganzen Krieges ihre opfer-
willige Tätigkeit fort, vor Sedan wie vor Paris, überall zur rechten Zeit
eingreifend, überall mit klarem Blick die nächsten Bedürfnisse erkennend,
für deren Befriedigung ihr praktischer Zinn und ihre rasche Entschlossenheit
auch stets Mittel und Wege zu finden wußte. Den größten Gefahren
trotzte sie mit unerschrockenem Mut. von dem Umfange ihrer Rrbeiten
und psiichten kann man sich kaum eine Vorstellung machen. In der Nähe
von Paris hatte sie eine Verpflegungsstation errichtet und versah hier
in der Zeit vom 10. Oktober bis zum 25. November mehr als 63000 Mann
mit Suppe und Fleisch und 17500 Mann mit Kaffee. Rußerdem aber
errichtete sie noch Passantenlazarette, in denen während derselben Zeit
4941 Kranke und verwundete aufgenommen und verpflegt wurden.
Rls endlich der Friede geschloffen wurde und auch Frau Simon, begleitet
von den heißen Segenswünschen Tausender, in die Heimat zurückkehrte,
da ging sie sogleich an die Rusführung des planes, den ihre edle Seele
inmitten aller Schrecken des Krieges gefaßt hatte: sie gründete eine
Heilstätte für deutsche Invaliden und alleinstehende Kranke, zugleich eine
Lehranstalt für Krankenpflegerinnen. Das dankbare Vaterland unterstützte
fteudig das Werk. Mein nur kurze Zeit war es ihr vergönnt, ihre
Schöpfung emporblühen zu sehen. Rm 20. Februar 1877 entriß der
Tod sie ihrem schönen Wirkungskreise. Noch am Tage vor ihrem Tode
hatte die edle Königin Tarola von Sachsen an ihrem Krankenlager
gestanden, und die Träne im Rüge der hohen Frau bezeugte, wieviel sie
in der Sterbenden verlor. „Nicht müde werden!" — hatte diese so oft
auf den Schlachtfeldern wie an den Krankenbetten des Lazaretts ihren
braven Mertinerinnen zugerufen, und nun war für sie selbst die Nacht
gekommen, da sie müde das Haupt neigte. Ihr Rndenken aber bleibt in
Segen, denn an ihr erfüllte sich das Wort der Schrift, daß die Edlen „rubeu
von ihrer Rrbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach".
Rudolf Bunge.
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Extrahierte Personennamen: Simon Simon Rudolf_Bunge Rudolf
47
19. Der Zeuerreiter.
Sehet ihr am Fensterlein
dort die rote Mütze wieder?
Nicht geheuer muß es sein,
denn er geht schon auf und nieder.
Und auf einmal, welch Gewühle
bei der Brücke, nach dem Feld!
horch! das Feuerglöcklein gellt:
hinterm Berg,
hinterm Berg'
brennt es in der Mühle!
Schaut! da sprengt er wütend schier
durch das Tor, der Feuerreiter,
auf dem rippendürren Tier
als auf einer Feuerleiter!
Querfeldein! Durch Hualm und Schwüle
rennt er schon und ist am Grt!
Drüben schallt es fort und fort:
hinterm Berg,
hinterm Berg
brennt es in der Mühle!
Der so oft den roten Hahn
meilenweit von fern gerochen,
mit des heil'gen Kreuzes Span
freventlich die Glut besprochen —
weh! dir grinst am Dachgestühle
dort der Feind im Höllenschein.
Gnade Gott der Seele dein!
hinterm Berg,
hinterm Berg
rast er in die Mühle!
Keine Stunde hielt es an,
bis die Mühle barst in Trümmer;
doch den kecken Keitersmann
sah man von der Stunde nimmer.
Dolk und Magen im Gewühle
kehren heim von all dem Graus;
auch das Glöcklein klinget aus:
hinterm Berg,
hinterm Berg
brennt's! —
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101
Munter fördert seine Schritte
275 fern im wilden Forst der Wandrer
nach der lieben Heimathütte.
Blökend ziehen heim die Schafe,
und der Binder
breitgestirnte, glatte Scharen
280 kommen brüllend,
die gewohnten Ställe füllend.
Schwer herein
schwankt der wagen,
kornbeladen,'
285 bunt von Farben,
auf den Garben
liegt der Kranz,
und das junge Volk der Schnitter
stiegt zum Tanz.
290 Markt und Straße werden stiller,
um des Lichts gesellige Flamme
sammeln sich die Hausbewohner,
und das Stadttor schließt sich knarrend.
Schwarz bedecket
295 sich die Erde,'
doch den sichern Burger schrecket
nicht die Nacht,
die den Bösen gräßlich wecket'
denn das Buge des Gesetzes wacht.
300 heil'ge Ordnung, segensreiche
Himmelstochter, die das Gleiche
stei und leicht und freudig bindet,
die der Städte Bau gegründet,
die herein von den Gefilden
305 rief den ungeselligen wilden,
eintrat in der Menschen Hütten,
sie gewöhnt zu sanften Sitten
und das teuerste der Bande
wob, den Trieb zum vaterlande!
310 Tausend steiß'ge Hände regen,
helfen sich in munterm Bund,
und in feurigem Bewegen
werden alle Kräfte kund.
Meister rührt sich und Geselle
315 in der Freiheit heiligem Schutz.
Jeder freut sich seiner Stelle,
bietet dem Verächter Trutz.
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T7: [Erde Luft Sonne Wasser Himmel Berg Tag Licht Wolke Nacht]]
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120
erfordert wurde, alle Arbeit war Sache der Subalternen, der Kammer-
herr galt mehr als der verdiente General und Minister; in Preußen
war auch der Vornehmste gering geachtet, wenn er dem Staate
nichts nützte, und der König selbst war der allergenaueste Beamte,
der über jedes Tausend Taler, das erspart oder verausgabt wurde,
sorgte oder schalt. Wer in Österreich vom katholischen Glauben ab-
fiel, wurde mit Konfiskation und Verweisung bestraft, bei den Preußen
konnte sich jeder frei für ein Glaubensbekenntnis entscheiden. Bei
den Kaiserlichen war die Regierung im ganzen lässig gewesen, wenn
sie sich um etwas hatte bekümmern müssen, die preußischen Beamten
hatten ihre Nase und ihre Hände überall. Trotz der drei Schlesischen
Kriege wurde die Provinz weit blühender als zur Kaiserzeit. Einst
hatten hundert Jahre nicht ausgereicht, die handgreiflichen Spuren
des Dreißigjährigen Krieges zu verwischen, die Leute erinnerten
sich wohl, wie überall in den Städten die Schutthaufen aus der
Schwedenzeit gelegen hatten, überall neben den gebauten Häusern
die wüsten Brandstellen. Viele kleine Städte hatten noch Blockhäuser
nach alter slawischer Art mit Stroh- und Schindeldach, seit langem
dürftig ausgeflickt. Durch die Preußen waren die Spuren nicht
nur alter Verwüstung, auch der neuen des Siebenjährigen Krieges
nach wenigen Jahrzehnten getilgt. Friedrich hatte einige hundert
neue Dörfer angelegt, hatte fünfzehn ansehnliche Städte zum großen
Teil auf königliche Kosten wieder in regelmäßigen Straßen aus-
mauern lassen, er hatte den Gutsherren den harten Zwang aufgelegt,
einige tausend eingezogene Bauernhöfe wieder aufzubauen und mit
erblichen Eigentümern zu besetzen. Zur Kaiserzeit waren die Abgaben
weit geringer gewesen; aber sie waren ungleich verteilt und lasteten
zumeist auf dem Armen, der Adel war zum größten Teile von
ihnen befreit, die Erhebung war ungeschickt, viel wurde ver-
untreut und schlecht verwendet, es floß verhältnismäßig wenig in
die kaiserlichen Kassen. Die Preußen dagegen hatten das Land
in kleine Kreise geteilt, den Wert des gesamten Bodens abgeschätzt,
in wenig Jahren fast alle Steuerbefreiung aufgehoben, das flache
Land zahlte jetzt seine Grundsteuer, die Städte ihre Akzise. So
trug die Provinz die doppelten Lasten mit größerer Leichtigkeit,
nur die Privilegierten murrten, und dabei konnte sie noch 40 000
Soldaten unterhalten, während sonst etwa 2000 im Lande gewesen
waren. Vor 1740 hatten die Edelleute die großen Herren gespielt,
wer katholisch und reich war, lebte in Wien, wer sonst das Geld
aufbringen konnte, zog sich nach Breslau, jetzt saß die Mehrzahl
der Gutsherren auf ihren Gütern, die Krippenreiterei hatte auf-
gehört, der Adel wußte, daß es ihm beim König für eine Ehre
galt, wenn er für die Kultur des Bodens sorgte, und daß der neue
Herr solchen kalte Verachtung zeigte, die nicht Landwirte, Beamte
oder Offiziere waren. Früher waren die Prozesse unabsehbar und
kostspielig gewesen, ohne Bestechung und Geldopfer kaum durch-
TM Hauptwörter (50): [T26: [Recht König Stadt Staat Bauer Gesetz Beamter Adel Land Bürger], T39: [Jahr Million Geld Mark Arbeiter Arbeit Zeit Summe Staat Thaler], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
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TM Hauptwörter (200): [T145: [Bauer Adel Land Stadt Bürger Herr Stand Recht Gut König], T65: [König Herr Soldat Offizier Vater Prinz Friedrich Majestät General Brief], T125: [Haus Stein Fenster Dach Holz Stroh Winter Erde Wand Wohnung], T39: [Million Mark Geld Jahr Summe Steuer Thaler Staat Ausgabe Einnahme], T142: [Stadt Dorf Mauer Haus Burg Straße Kirche Schloß Graben Zeit]]
73
Bewußtsein ihres Unrechts und — begeht es dennoch. Das Mitleid,
diese, wie in neuester Zeit festgestellt worden, verwerflichste Form des
Egoismus, ist zu mächtig in ihr,' es überwältigt sie immer wieder von
neuem.
Mit dem unvernünftigen Ulmosenspenden ist es aber auch eine
so eigene Sache! Unendlich schwer wird diese üble Gewohnheit ablegen,
der einmal ihre ganze Süßigkeit gekostet hat. Du gehst durch die
Straßen der großen Stadt, und wenn deine Uugen nur offen sind, siehst
du in kurzer Zeit das Elend in jeder denkbaren Gestalt,- von dem geistigen
und moralischen Elend an, das hinter äußerem Glanz verborgen vor-
beistolziert, bis herab zu dem Elend des hungernden, vom Tode schon
gezeichneten Lasters. Und wenn es dich nun da plötzlich mitten heraus
aus der rettungslosen Verkommenheit ansieht mit Bugen, die von einer
noch unschuldigen Seele erzählen oder von einer im schwersten Kampf
geläuterten oder von einer noch hoffenden, noch ringenden, und du ant-
wortest ihrer scheuen Bitte und greifst in deinen Säckel, greifst ziemlich
tief und reichst eine Gabe dar, die den Brmen auf das äußerste über-
rascht — o des wunderbaren Eindrucks! o der stummen seligen Frage:
,,Das schenkst du mir? Du ganz fremder Mensch schenkst mir so viel?"
und ein unvergeßlicher Blick trifft den Wundertäter, der dem Kinde der
Not für ganze Tage die Zorge aus dem Leben nimmt.
Nun, dieses Staunen mit anzusehen, die Freude aufblitzen zu sehen
auf dem Bntlitz des Kummers, das ist Glück,' und wer es einigemal ge-
nossen hat und auf den Geschmack gekommen ist und sich's trotzdem aus
Überzeugung und aus Tugend versagt, den nenn' ich — so schloß
die Generalin ihre Betrachtungen — einen Tato vom Standpunkt der
Nationalökonomie!
Sie selbst hat nicht das Zeug zu solcher Größe, überhaupt nicht,
am wenigsten aber dann, wenn sie sich durch und durch zufrieden fühlt
und im Grunde jeden anderen bemitleidet, weil er schwerlich so gut
dran sein kann wie sie, der arme andere.
widerstandslos läßt sie ihrer Torheit den Zügel schießen, bis ihr
eine natürliche Grenze gesetzt wird und das Portemonnaie nichts mehr
enthält als eine Visitenkarte.
Nachgerade ist es auch Zeit geworden, einen rascheren Schritt ein-
zuschlagen, denn plötzlich hat der wind sich scharf erhoben und jagt
große Schneeflocken durch die Luft. Die gelblichen Flämmchen, die
man in den Straßenlaternen wahrzunehmen beginnt, machen darauf
aufmerksam, daß die Dunkelheit demnächst einbrechen wird, und daß
es ihnen nicht einfällt, sie daran zu hindern. Unter solchen Umständen
hat die Nebenstraße des wiener Grabens, in welche die Generalin eben
einlenkt, etwas entschieden Unheimliches, und die Dame wäre gar nicht
böse gewesen, wieder draußen zu sein.
So eilte sie denn, ohne sich aufzuhalten, an einer Bettlerin vorüber,
die auf der steinernen Stufe vor einem geschlossenen Kaufladen saß und
sich frierend in den Winkel der Mauer drückte. Der Schnee umwirbelte
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125
Hornvieh und seine fluchenden Führer Schritt um Schritt Platz erbitten.
Buch die Katterngasse, in die wir bogen, war schon zum Teil besetzt. Die
Ochsen folgten uns. Vas Tor, als wir hielten, war bereits vor uns be-
lagert. Die Unteroffiziere, welche den Viehtransport gebracht, hämmerten
und schlugen daran und fluchten, daß die krachenden Geschütze gegen das
Toben matt erschienen, preußische Unteroffiziere aus der alten Zeit hatten
eine Macht im Fluche, die man heut nur noch traditionell kennt, und hier
hatten sie dazu einen Grund. Sie sollten oder wollten die Ochsen in den
Vorhof des Klosters bringen zum Übernachten, und die Nonnen, welche
diese Einquartierung nicht wollten, hatten den Torweg fest verrammelt.
Dem wortreichen Geschütz der Belagerer setzen sie ein viel wirkungs-
reicheres entgegen, ein tiefes Schweigen. Das Tor ließ sich nicht erbrechen,
die Mauer nicht überklettern, sie waren im Vorteil gegen die Belagerer,
und nur wir im äußersten Nachteil. U)as vermochten schwache Frauen-
stimmen, die unter dem Gießen des Negens, dem Heulen des Windes, dem
Krachen des Geschützes, dem Donnern der Soldateska und dem Brüllen einer
Herde scheuer Ochsen um Einlaß baten? Zum Übermaß des Unglücks wurde
der Fuhrknecht durch das immer stärker werdende Schießen selbst so einge-
schüchtert, daß er auch fluchte: auf uns, das Unglück und die Nacht, und
keine Minute länger warten wollte. Mitten unter den wütenden Unter-
offizieren und dem unruhigen Hornvieh mußten wir die Betten, Geschirre,
Butterfässer, die Säcke mit Nei§, Mehl, Grütze und was auf dem Magen
war, auspacken und wo es Platz fand, im Kot hinstellen,- denn der Kutscher
hatte mit dem durch die Schüsse immer scheuer werdenden Pferde zu schaf-
fen und erklärte, daß ihm sein Leben lieber sei als Geld. Er fuhr fort, und
der Himmel goß immer stärker. Da endlich, als wir schon ganz durchnäßt
waren — man denke sich eine Mutter mit zwei kleinen Kindern in dieser
Lage — öffnete sich im Turme ein kleines Fenster, und man winkte uns
seitwärts. Ein Uebenpförtchen tat sich leise auf, und — wir sind selbst,
und unsere Effekten auch, ins Kloster gekommen. Die Ochsen konnten nach
Naturgesetzen nicht durch dieselbe Öffnung,- wie es aber kam, daß die
Unteroffiziere nicht auch den Weg fanden, weiß ich heut nicht mehr zu
erklären.
Nuch im Kloster waren wir noch nicht sogleich geborgen. Es dauerte
eine Weile, ehe die Jungfer Pförtnerin kam, und uns schweigend durch
Gänge und Hallen, noch dunkler durch das wenige Licht, das ihre Laterne
auf die hohen Kreuzgewölbe warf, und unheimlich durch die vielen Nischen
und Pfeiler mit buntgemalten, ungestalteten Märtprerfiguren, treppauf,
treppab führte. Mit unheimlichem Klange fielen die Niegel und Schlösser
hinter uns zu. Niemand begegnete uns, denn die Nonnen sangen die Hora
im Thor,- und der Gesang hinter den hallenden Mauern klang wie ein
Grabeslied. 'Endlich langten wir in der hohen, dunkeln, kalten und leeren
Zelle, die man uns eingeräumt, erschöpft an, um uns auf eine Nacht vor-
zubereiten, die das preußische Geschütz, das von allen Wällen donnern
sollte, um dem Feinde unsere Wachsamkeit zu beweisen, schlaslos zu machen
drohte. Über die Erschöpfung war zu groß, wir schliefen vortrefflich.
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134
Krieges ist so, daß im Verlaufe dieses Feldzugs uns sowohl die
Überlegenheit als der Sieg nicht entgehen kann." Schon der Aufruf
vom 3. Februar hatte Erfolge, die niemand außer Scharnhorst für
möglich gehalten. Es war der stolzeste Augenblick in Scharnhorsts'
Leben, als er den König einst in Breslau ans Fenster führte und
ihm die jubelnden Scharen der Freiwilligen zeigte, wie sie in
malerischem Gewimmel, zu Fuß, zu Roß, zu Wagen, ein endloser
Zug, sich an den alten Giebelhäusern des Ringes vorüberdrängten.
Dem Könige stürzten die Tränen aus den Augen. Treu und gewissen-
haft hatte er seines schweren Amtes gewaltet in dieser langen
Zeit der Leiden und oftmals richtiger gerechnet als die Kriegspartei;
was ihm fehlte, war der frohe Glaube an die Hingebung seiner
Preußen, jetzt fand er ihn wieder.
Seit dem 17. März traten auch die breiten Massen des Volkes
in das Heer ein. Durch den Wetteifer aller Stände wurde die
größte kriegerische Leistung möglich, welche die Geschichte von
gesitteten Nationen kennt. Dies verarmte kleine Volk verstärkte
die 46 000 Mann der alten Linienarmee durch 95 000 Rekruten und
stellte außerdem über 10 000 freiwillige Jäger sowie 120 000 Mann
Landwehr, zusammen 271000 Mann, einen Soldaten auf siebzehn
Einwohner, unvergleichlich mehr, als Frankreich einst unter dem
Drucke der Schreckensherrschaft aufgeboten hatte — das alles noch
im Verlaufe des Sommers, ungerechnet die starken Nachschübe,
die späterhin zum Heere abgingen. Natürlich, daß die ent-
lassenen Offiziere sich sofort herbeidrängten, um die Ehre ihrer
alten Fahnen wiederherzustellen. Sobald General Oppen auf seinem
märkischen Landgute von dem Anrücken des vaterländischen Heeres
hörte, nahm er seinen alten Säbel von der Wand und ritt, wie
ein Rittersmann in den Tagen der Wendenkriege, mit einem Knechte
spornstreichs hinüber zu seinem alten Waffengefährten Bülow. Der
stellt den herkulischen Mann mit den blitzenden Augen lachend
seinen Offizieren vor: „Das ist einer, der das Einhauen versteht"
— überträgt ihm den Befehl über die Reiterei, und einmal bei der
Arbeit bleibt der Wildfang fröhlich dabei, ein unersättlicher Streiter,
bis zum Einzuge in Paris.
Neben den alten Soldaten empfand die gebildete Jugend den
Ernst der Zeiten am lebhaftesten; in ihr glühte die schwärmerische
Sehnsucht nach dem freien und einigen deutschen Vaterlande. Kein
Student, der irgend die Waffen schwingen konnte, blieb daheim;
vom Katheder hinweg führte Professor Steffens nach herzlicher
Ansprache seine gesamte Hörerschaft zum Werbeplatze der frei-
willigen Jäger. Der König rief auch seine verlorenen alten Provinzen
zu den Fahnen: „Auch ihr seid von dem Augenblicke, wo mein
treues Volk die Waffen ergriff, nicht mehr an den erzwungenen
Eid gebunden." Da aber eine Massenerhebung in den unglücklichen
Landen vorerst noch ganz unmöglich war, so eilten mindestens
TM Hauptwörter (50): [T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland], T28: [Schlacht Heer Feind Mann Armee Napoleon Franzose General Truppe Preußen], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
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abgeschnitten und so ferne liegend, als ob sie Tausende von Meilen
weit weg läge.
Die letzte Zeitungsnummer, die auf dem Tisch liegt, ist mehr als
drei Wochen alt.
Der Förster zündet die Lampe an, tiefe Stille herrscht in der Stube,
die Kinder beginnen schläfrig zu werden, und draußen schlägt das
Flockengewirbel an die Scheiben.
Wenn der Schneehimmel gegen Rbend sich lichtet, brechen vereinzelt
die flimmernden Sterne durch und funkeln über der eisigen Todesruhe,'
zwischen den Zinken des Sonnenwendjoches steigt die kalte, glänzende Sichel
des Mondes empor.
Dann tönt es, als ob man in der Ferne den verlorenen Klang des
Rbendläutens vernähme; ist's nur der Wind, der mit dem klingenden
Demantgeschmeide des Waldes spielt?
Der Förster streift mit der Hand über die Scheiben und lugt empor,
aber die funkelnden Sterne sind stumm. Und doch sind es dieselben Sterne,
die über dem Jubel der nordischen Hauptstadt glänzten, über der Ver-
zweiflung von Paris, über der Krone des neuen Reiches; die Sterne,
die unveränderlich und geheimnisvoll über dem Wandel der Weltgeschichte
stehen.
„T§ wird heute eine eisige Nacht!" sagt der Förster gedankenvoll.
„Wenn es so weitergeht, erstarrt der Schnee so hart, daß er wohl die
Last eines Menschen trägt. Dann mag es einer von den Burschen wagen
und nach Schliersee hinuntergehen, damit wir hören, wie es draußen
steht,' die lange Einsamkeit ist entsetzlich."
So sprach der Förster. Der gewaltige Bart fiel ihm über die Brust
hinab, und in geduldiger Langmut sah er zu, wie die Minuten verstrichen,
wie ihm der Hund die breiten Tatzen aufs Knie legte, wie nach und
nach die Kinder in Schlummer fielen.
Noch ehe es neun Uhr schlug, ward die Lampe gelöscht, und toten-
still war es im stillen Haus.
Es mochte drei Uhr nach Mitternacht sein, ein stechender Frost zog
den Schnee zusammen; da tönte mit einmal in der Nähe des Hauses
ein Schuß. Der Förster fuhr empor. Wie wäre es möglich, daß ein
Menschenkind des Nachts durch diese Wüste zöge! Er horchte auf, er
blickte durch das mondhelle Fenster, und siehe da, es war in der Tat
eine schlanke Gestalt, die vorsichtig über den Schnee hintastete, die Füße
mit hölzernen Reifen gesichert, wie man sie im Gebirge zur Winters-
zeit trägt, um sich vor der Gefahr des versinken? zu schützen.
Bald pochte es sachte unten ans Tor, und als der Förster hinabstieg,
stand ein Jägerbursch von Schliersee vor ihm, der den Hut lüftete und
ihm lachend entgegenrief: „Paris hat kapituliert!" Gegen Nachmittag
war die Nachricht ins Dorf gelangt, und sein Herr in Schliersee wollte
sich's nicht versagen, seinem eingemauerten Kollegen die kostbare Botschaft
zuzustellen. Er fragte, wer den Mut hätte, über den Spitzing emporzu-
steigen, und siehe da, der jüngste und leichteste war bereit, das Wagestück
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TM Hauptwörter (100): [T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T21: [Schnee Winter Wasser Sommer Berg Regen Luft Boden Land Erde], T81: [Sonne Erde Tag Mond Himmel Nacht Stern Zeit Licht Stunde], T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T23: [Stadt Feind Tag Heer Mauer Mann Lager Nacht Kampf Soldat]]
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in den Sattel, schwenkte seine hohe Mütze gegen seine Mörder mb
jagte dann zurück zu seinen Kameraden. Dies Stückchen gefiel uns
dermaßen wohl, daß wir es nachher, um es unserer Schwester Margarete
und anderen anschaulich zu machen, des öfteren wie eine Komödie
aufgeführt haben. Sch kam auf einer Fußbank angesprengt, mein Bruder
feuerte hinter dem Holzkorb vor, und dann geschah alles so wie dort.
Kn demselben Morgen sahen wir aus unseren Fenstern, wie zwei
schlanke, hechtblaue Sachsenleutnants einen kleinen stämmigen Kosaken-
ofsizier mit verbundenen Bugen vorüberführten.
„Sie haben ihm ins Gesicht geschossen," sagte mein Bruder ruhig,
„und ihn dann gefangen."
Nber der Vater belehrte uns, daß das ein Parlamentär sei, den
man zum Kommandanten führe. Sch sah den kleinen, straffen Parla-
mentär mit so lebhaftem Interesse an, daß er mir mit seinen festen, kurzen
Schritten, seinem breiten Kacken und der stolzen Haltung seines ver-
bundenen Kopfes noch heute ganz lebendig vor den Bugen steht. Nach
einigen Stunden verbreitete sich die sehr willkommene Nachricht, daß
die Neustadt am folgenden Morgen übergeben werden sollte.
Nächsten Tages in aller Frühe zog denn auch die sächsische Be-
satzung ab, während sich unsere Neustädter Honoratioren am Schwarzen
Tor versammelten, um die Kosaken zu empfangen. Diese, geführt vom
Gbristen Brendel, etwa 800 Mann stark, zogen in guter Ordnung ein
und machten unweit des Tores, auf dem damals noch freien Platze
zwischen Kirche und Kaserne, halt. Buch mein Vater war mit uns
Knaben hingegangen.
„Das sind deine Landsleute,"*) sagte er mir, in welcher Bezeichnung
für mich eine Beförderung zu ungemessener Zärtlichkeit lag. Gern hätte
ich wenigstens einigen die Hand gedrückt, da ich's nicht allen konnte,
wenn mein Vater mich nicht an der [einigen festgehalten und die strenge
Haltung dieser wilden Krieger mir nicht einiges Bedenken eingeflößt hätte.
Inzwischen dauerte die anfängliche militärische Erstarrung des
heiteren Kosakenvölkchens nicht allzu lange. Mas irgend Beine hatte
in der Neustadt, war nach dem Tore geeilt, und von allen Seiten
drängten die Bürger mit freudigem Zuruf auf ihre Befleier ein. Diese
Nüssen waren als Feinde der Franzosen teure Freunde und Gesinnungs-
genossen,' sie wurden wie Brüder empfangen, und begeistertes Jauchzen
erfüllte den Platz. Der Branntwein strömte,' jeder hatte ihn mitgebracht,
und jeder wollte der erste sein, den langersehnten Barbaren den Mund
damit zu füllen, halb zog man sie, halb sanken sie im Freudentaumel
aus den Sätteln. Man umarmte, man küßte sich und sprach in allen
Zungen, bis die Ouartierbilletts verteilt waren und die glücklichen Wirte
mit ihren Mannschaften abzogen. Es war ein Funke der weltgeschicht-
lichen Begeisterung einer großen Zeit, der in die herzen de^ Dresdner
Volkes gefallen war.
*) Die Mutter stammt aus Reval.
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