11
Ein einsamer Mann schritt eilig auf dem schmalen, grasbewachsenen
Fußpfade vorwärts. Er war noch jung. Ein leichter Flaum sproßte
über den frischen Lippen, und die hellgrauen Augen blitzten unternehmend
und sorglos in die Welt.
Ein lustiges Lied vor sich hinträllernd, achtete er wenig auf seine
Umgebung; er sah weder rechts noch links; er bemerkte es auch nicht,
daß die zuerst vereinzelt stehenden Sträucher und Bäume einander immer
näher rückten.
Plötzlich blieb er stehen. Die Pfade kreuzten sich nach verschiedenen
Richtungen, und gerade vor ihm erhob sich ein dichter Wald. Überlegend
sah er um sich. Weißer Nebel stieg aus den Wiesen hinter ihm; der
Mond war aufgegangen und goß sein bleiches Silberlicht über die Berge;
schwarz und schweigend stand der Wald da.
Sollte er eintreten? Einen Augenblick besann er sich. Dann warf
er trotzig seinen Kopf zurück und schritt vorwärts, zuerst vorsichtig, dann
rascher. Immer tiefer drang er ein. Gespenstig drohend streckten die
hohen Bäume ihre Äste gen Himmel. Der zuerst ziemlich breite Weg
wurde immer schmäler. Kaum mehr dem Auge erkennbar, schlängelte er
sich zwischen dem Buschwerk dahin.
Der Jüngling mochte wohl mehrere Stunden so gegangen sein;
Hunger und Müdigkeit drohten, ihn zu übermannen. Immer langsamer
wurden seine Schritte, bis er endlich ganz stehen blieb. Er konnte nicht
mehr vorwärts. Gerade vor ihm, quer über dem Weg, lag ein vom
Sturme entwurzelter Stamm. Erschöpft ließ er sich auf diesen nieder,
es war ihm unmöglich, weiter zu marschieren. Nachdem er eine Zeitlang
geruht hatte, raffte er sich empor und eilte wieder zurück auf dem Wege,
den er hergekommen war. Eine plötzliche, ihm sonst ganz ungewohnte
Angst hatte ihn überfallen. „Nur fort, nur heraus aus diesem Walde,"
dachte er, „ganz gleich, wohin." Trotz seiner Ermattung lief er vorwärts,
so schnell ihn die Beine trugen, einmal auf diesem, dann wieder auf jenem
Wege. Aber zu seinem größten Schrecken gewahrte er, daß er immer
wieder an den Ort zurückkehrte, von dem er ausgegangen war. Ver-
zweifelnd warf er sich nieder, vergrub das Gesicht in beide Hände, schluchzte
und rief laut um Hilfe. Als er wieder emporsah, schrak er zusammen,
denn vor ihm standen drei Männer.
Der eine trug ein prächtiges, reich mit Gold gesticktes Gewand, das
von einem glänzenden, mit Edelsteinen geschmückten Gürtel zusammen-
gehalten war. Der zweite hatte ein schwarzes Kleid mit rotem Gürtel
und der dritte ein blaues Hemd und einen einfachen Ledergurt. In der
nervigen Faust hielt er eine schwere Axt.
„Was tust du hier?" fragten ihn die drei. — „Erbarmt Euch meiner,
ich verschmachte. Sagt mir, wo ich eigentlich bin." — „Du bist im Walde
des Elends", gaben sie zur Antwort. — „Helft mir, rettet mich, führt
mich hinaus aus dieser entsetzlichen Wildnis", flehte er sie au. — „Wähle
einen von uns, der dich führen soll."
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307
Eroberer züchtigen zu helfen; aber in seinen Jahren konnte er nicht mehr
daran denken, unter die Soldaten zu gehen. Seine Hände ballten sich
oft unwillkürlich in stillem Zorn, und er stieß den Hirtenstab auf die
Erde, wenn er des Übermutes und der Grausamkeit der Franzosen
gedachte.
Da kam ein Mann schräg an dem Abhange des Berges daher und
eilte auf ihn zu. Er hörte ihn nicht, bis der Hund laut anschlug.
Schnell wandte der Hirt den Kopf. Doch seine Augenbrauen zogen sich
fester zusammen, als er den Kommenden erkannte. „Nun, Born!" rief
dieser, ein Mann von etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, dessen
stechende Augen seinem Gesichte einen unheimlichen und unangenehmen
Ausdruck gaben. „Nun, ihr steht hier so ruhig, als ob da unten nichts
los wäre. Das ist ein Leben und ein Treiben ringsum. Man sollte
eigentlich Gott danken, wenn man mit heiler Haut heraus wäre."
„Niemand hindert euch daran!" antwortete kalt der Schäfer.
„Eure Söhne stehen dort oben unter den Preußen, nicht wahr?"
fragte der Fremde. Born nickte bejahend. „Und eure Frau und Tochter?"
„Sie sind da drüben", erwiderte der Hirt und zeigte mit der Hand nach
den Bergen jenseits der Saale.
„Denkt ihr denn, daß sie dort in Sicherheit sind? Dorthin wird
der Feind auch dringen."
„Wer weiß?" sprach Born. „Es kommt vielleicht nur auf einen
einzigen Tag an, und die Fremden müssen wieder aus dem Lande hinaus,
wie sie hereingekommen sind."
„Ha, ha!" lachte Sielert — so hieß der Mann— „denkt ihr denn,
daß die Preußen siegen werden? Ich komme heute von Kahla und Jena
und habe gesehen, wie zahlreich die Franzosen sind. Es sollen viel über
hunderttausend Mann sein, und die lassen sich nicht so leicht zum Lande
hinausjagen."
Born blickte den Mann scharf und finster an. Dann sprach er
langsam: „Ihr scheint es mit den Feinden zu halten!"
„Nein, nein!" war die Antwort, „aber der Napoleon versteht den
Krieg."
„Das mag sein, wie ihm will", erwiderte der Schäfer. „Seine
Reiter und Kanonen wird er doch nicht an diesen Bergen in die Höhe
schaffen. Es gibt nur einen Weg, aus dem es möglich wäre, und den
kennt er nicht und wird ihn auch nicht finden."
„Kennt ihr den Weg?" fragte Sielert schnell.
/.Ich kenn' ihn," antwortete Born ruhig, „doch wohin wollt ihr?"
„Nach Naumburg", erwiderte Sielert. „Man kann auf der Land-
straße vor den Soldaten und Pferden, Wagen und Kanonen nicht durch-
kommen, ich muß deshalb Nebenwege suchen und einschlagen. Lebt wohl!"
Mit diesen Worten eilte der Mann hastig von dannen. Der Schaf-
hirt sah ihm lange nach, und seine Augen nahmen einen düsteren Blick
an. Dann trieb er seine Tiere langsam in ein kleines Gehölz, welches
nicht weit am Abhange des Berges sich hinzog. Dort wollte er mit
20*
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311
„So zeigt uns den Weg!" sagte der Marschall. „Ihr sollt eine
reiche Belohnung dafür haben."
Born schwieg eine Weile. Es wogte in seinem Herzen wie ein
stürmendes und brausendes Meer. Er konnte, er durfte nicht zum Ver-
räter werden.
„Wollt ihr uns den Weg zeigen?" fragte der Marschall.
„Nein!" antwortete der Schäfer fest und bestimmt. „Ich würde
schlecht gegen meine eigenen Landsleute handeln, wenn ich es tun wollte."
„Ihr wollt also nicht?" rief der Marschall. „Glaubt ihr, daß
wir nicht auch ohne euch den Weg finden werden? Wir dürfen ja nur
den Berg nach allen Seiten untersuchen. Aber es liegt mir viel daran,
diesen Weg heute und noch in dieser Stunde zu erfahren."
„Ich verrate ihn nicht", entgegnete Born mit aller Festigkeit eines
deutschen Mannes und eines guten Gewissens.
„Ihr wollt nicht?" fuhr der Franzose auf. „Ihr wagt es, mir
zu trotzen? Glaubt ihr, daß ich euch dazu nicht zwingen kann, wenn
ich will?"
„Mich kann niemand dazu zwingen!" erwiderte der brave Hirte.
„Nicht? Nun, ich werde es dir zeigen. Der Ausgang einer ganzen
Schlacht soll nicht von deinem guten oder bösen Willen abhängen. Du
erhältst eine reiche Belohnung, wenn du uns den Weg zeigst. Beharrst
du aber auf deiner boshaften Weigerung, so mußt du sterben — hörst
du? — sterben; — nun entscheide dich!"
Born schwieg. Keine Muskel zuckte oder verzog sich auf seinem
wetterharten und ehrlichen Angesichte.
„Es ist mein Ernst!" rief der Marschall noch einmal. „Du stirbst,
wenn du mir zu trotzen wagst!"
Der Schäfer sah und hörte nur zu deutlich, daß die Drohung ernst
gemeint war. Er konnte an ihrer Ausführung nicht zweifeln. Sein
Gesicht wurde bleich. Er zitterte leise, und einen Augenblick lang drohten
seine Knie unter ihm zusammenzubrechen. Er dachte an sein armes
Weib und an seine Kinder. Die Versuchung war groß und schwer. Aber
er überwand sich und erlangte bald seine frühere Fassung wieder. Dann
sprach er fest: „Ich bin kein Verräter und will auch keiner werden!"
„Du willst also nicht?" rief der Marschall heftig.
„Nein!" antwortete der wackere und heldenmütige Mann.
„Führt ihn fort!" befahl der Marschall in heftigem Zorn einem
Offizier. „Führt ihn fort! Gebt ihm noch eine halbe Stunde Zeit, sich
zu besinnen! Wenn er dann noch ebenso trotzig ist, so laßt ihn ohne
weiteres erschießen!"
Er wandte sich ab, und Born wurde von den Soldaten fortgeführt.
Sielert, dem durch den Tod des Alten ein gehoffter Gewinn entging,
trat listig und schmeichelnd an ihn heran. Er stellte ihm vor, was er
durch kluges Nachgeben gewinnen und dagegen durch fortgesetzten Trotz
verlieren würde. Der Schäfer wandte sich unwillig und verächtlich von
dem Verräter hinweg. Auch der französische Offizier redete ihm mü
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318
Wir schwören, daß kein Vater nach dem Sohne
s«ll fragen und nach seinem Weib kein Gatte,
kein Krieger fragen soll nach seinem Lohne,
Noch heimgchn, eh' der Krieg, der Nimmersatte,
ihn selbst entläßt mit einer blut'gen Krone,
daß man ihn heile oder ihn bestatte.
137. Andreas Hofer.
Zu Mantua in Banden
der treue Hofer war;
in Mantua zum Tode
führt ihn der Feinde Schar.
Es blutete der Brüder Herz;
ganz Deutschland, ach! in Schmach und
Schmerz,
mit ihm das Land Tirol.
Die Hände auf dem Rücken
Andreas Hofer ging
mit ruhig festen Schritten;
ihm schien der Tod gering,
der Tod, den er so manches Mal
vom Jselberg geschickt ins Tal
im heil'gen Land Tirol.
Doch als aus Kerkergittern
im festen Mantua
die treuen Waffenbrüder
die Händ' er strecken sah,
da rief er laut: „Gott sei mit euch,
mit dem verratenen deutschen Reich
und mit dem Land Tirol!"
Dem Tambour will der Wirbel
nicht unterm Schlegel vor,
als nun Andreas Hofer
schritt durch das finstre Tor; —
Andreas, noch in Banden frei,
dort stand er fest auf der Bastei,
der Mann vom Land Tirol.
Dort sollt' er niederknieen;
er sprach: „Das tu' ich nit;
will sterben, wie ich stehe,
will sterben, wie ich stritt,
so wie ich steh' auf dieser Schanz' I
Es leb' mein guter Kaiser Franz,
mit ihm das Land Tirol!"
Und von der Hand die Binde
nimmt ihm der Korporal;
Andreas Hofer betet
allhier zum letztenmal;
dann ruft er: „Nun, so trefft mich recht;
gebt Feuer! — Ach, wie schießt ihr
schlecht!
Ade, mein Land Tirol I"
I. Mosen.
138. Zwei Briefe Theodor Körners aus dem Jahre 1813.
1. An feine» Water.
Wien, am 10. März 1813.
Liebster Vater! Ich schreibe Dir diesmal in einer Angelegenheit,
die, wie ich das feste Vertrauen zu Dir habe, Dich weder befremden noch
erschrecken wird. Neulich schon gab ich Dir einen Wink über mein Vor-
haben, das jetzt zur Reife gediehen ist. Deutschland steht auf; der
preußische Adler erweckt in allen treuen Herzen durch seine kühnen Flügel-
schläge die große Hoffnung einer deutschen, wenigstens norddeutschen Frei-
heit. Meine Kunst seufzt nach ihrem Vaterlande — laß mich ihr würdiger
Jünger sein! Ja, liebster Vater, ich will Soldat werden, will das hier
gewonnene glückliche und sorgenfreie Leben mit Freuden hinwerfen, um,
sei's auch mit meinem Blute, mir ein Vaterland zu erkämpfen. — Nenn's
nicht Übermut, Leichtsinn, Wildheit! — Vor zwei Jahren hätte ich es
so nennen lassen; jetzt, da ich weiß, welche Seligkeit in diesem Leben
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Extrahierte Personennamen: Andreas_Hofer Andreas_Hofer Schlegel Andreas_Hofer Andreas Franz Franz Andreas_Hofer Theodor_Körners
Extrahierte Ortsnamen: Mantua Mantua Deutschland Mantua Wien Deutschland
321
Anzahl junger Männer auf und erklärte, sie würden dasselbe tun. Als
rin Bräutigam zögerte, sich von seiner Verlobten zu trennen und ihr
endlich doch seinen Entschluß verriet, sagte ihm die Braut, sie habe in
der Stille getrauert, daß er nicht unter den Ersten aufgebrochen sei. Die
Söhne eilten zum Heere und schrieben vor dem Aufbruch ihren Eltern
von dem fertigen Entschluß, die Eltern waren damit einverstanden; es
war auch ihnen nicht auffallend, daß der Sohn selbstwillig tat, was er
tun mußte. Wenn ein Jüngling sich zu einem der Sammelpunkte durch-
geschlagen hatte, fand er wohl seinen Bruder ebendort, der von anderer
Seite zugereist war; sie hatten einander nicht einmal geschrieben.
Die Universitäts-Vorlesungen mußten in Königsberg, Berlin, Bres-
lau geschlossen werden. Die Studenten waren einzeln oder in kleinen
Haufen aus dem Tor nach Breslau gezogen. Die preußischen Zeitungen
meldeten das kurz in den zwei Zeilen: „Aus Halle, Jena, Göttingen
sind fast alle Studenten in Breslau angekommen, sie wollen den Ruhm
teilen, die deutsche Freiheit zu erkämpfen." Nicht nur die erst blühende
Jugend trieb es in den Kampf, auch die Beamten, unentbehrliche Diener
des Staates, Richter, Landräte, Männer aus jedem Kreise des Zivil-
dienstes; auch die Stadtgerichte, die Büros begannen sich zu leeren. Schon
am 2. März mußte ein königlicher Erlaß diesen Eifer einschränken; der
Zivildienst dürfe nicht leiden; wer Soldat werden wolle, bedürfe dazu die
Erlaubnis seiner Vorgesetzten; wer die Verweigerung seiner Bitte nicht
tragen könne, müsse den Entscheid des Königs selbst anrufen. Wenige
Familien waren indes, die nicht ihre Söhne dem Vaterlande darboten;
vieler Namen stehen in gehäufter Zahl in den Listen der Regimenter,
allen voran der Adel Ostpreußens. Sein Beispiel wirkte auch auf das
Landvolk. Ungezählt ist die Menge der Kleinen, die mit ihren gesunden
Gliedern dem Staate alles brachten, was sie besaßen.
Während die Preußen an der Weichsel in dem Drange der Stunde
ihre Rüstungen selbständiger, mit schnell gefundener Ordnung und uner-
hörter Hingabe betrieben, wurde Breslau seit Mitte Februar Sammel-
punkt für die Binnenlandschaften. Zu allen Toren der alten Stadt
zogen die Haufen der Freiwilligen herein. Unter den ersten waren drei-
zehn Bergleute mit drei Lehrlingen aus Waldenburg, Kohlengräber, die
ärmsten Leute; ihre Mitknappen arbeiteten so lange umsonst unter der
Erde, bis sie zur Ausrüstung für die Kameraden 221 Taler zusammen-
brachten; gleich darauf folgten die oberschlesischen Bergleute mit ähnlichem
Eifer. Kaum wollte der König an solche Opfertätigkeit des Volkes
glauben; als er aus den Fenstern des Regierungsgcbäudes den ersten
langen Zug von Wagen und Männern sah, welcher aus der Mark ihm
nachgezogen war und die Albrechtsstraße füllte, den Zuruf hörte und die
allgemeine Freude erkannte, rollten ihm die Tränen über die Wange,
und Scharnhorst durfte fragen, ob er jetzt au den Eifer des Volkes
glaube.
Mit jedem Tage steigt der Andrang. Die Väter bieten ihre ge-
rüsteten Söhne dar. Landschaftssyndikus Elsner zu Ratibor stellt sich
Lesebuch f. Fortbildungsschulen rc. Nllg. Teil. 21
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325
befreiten treuen Stadt auf den Händen getragen wurden und dann bei Becher-
klang und vaterländischen Gesängen nach altem Burschenbrauche die Nacht
verbrachten. Dem Rausche der jugendlichen Lust folgte die ernste Arbeit,
die blutigste des ganzen Krieges; denn wieder fiel dem Jorckschen Korps
die schwerste Aufgabe zu. Als Jorck am Morgen des 16. in Schkeuditz
unter seinen Fenstern zum Aufsitzen blasen hörte, da hob er sein Glas und
sprach den Kernspruch seines lieben Paul Gerhardt: „Den Anfang, Mitt'
und Ende, Herr Gott, zum besten wende!* Wohl mochte er sich einer
höheren Hand empfehlen; denn unangreifbar, wie bei Wartenburg, schien
wieder die Stellung des Feindes. Marmont lehnte sich mit seiner linken
Flanke bei Möckern an den steilen Talrand der Elster, hatte die Mauern
des Dorfes zur Verteidigung eingerichtet, weiter rechts auf den flachen
Höhen eine Batterie von 80 Geschützen aufgefahren. Gegen diese kleine
Festung stürmten die Preußen heran auf der sanft ansteigenden, baumlosen
Ebene; sechsmal drangen sie in das Dorf und verloren es wieder. Endlich
führte Jorck selber seine Reiterei zum Angriff gegen die Höhen unter dem
Rufe: „Marsch, marsch, es lebe der König!" Nach einem wütenden Häuser-
kampfe schlägt das Fußvolk den Feind aus dem Dorfe heraus; am Abend
muß Marmont gegen die Stadt zurückweichen, 53 Kanonen in den Händen
der Preußen laffen, und an den Wachtfeuern der Sieger ertönt das Lied:
„Herr Gott, dich loben wir", wie in der Winternacht von Leuthen. Aber
welch ein Anblick am nächsten Morgen, als die Truppen zum Sonntags-
gottesdienst zusammentraten! Achtundzwanzig Kommandeure und Stabs-
offiziere lagen tot oder verwundet; von feinen 12 000 Mann Infanterie
hatte Dorck kaum 9000 mehr, seine Landwehr war im August mit
13 000 Mann ins Feld gezogen und zählte jetzt noch 2000. So waren
an dieser einen Stelle die Verbündeten bis auf eine kleine Stunde an die
Tore von Leipzig herangelangt.
Im Südosten, auf dem Hauptschauplatze des Kampfes, bei Wachau,
fochten die Verbündeten nicht glücklich. Hier hatte zwei Tage vorher ein
großartiges Vorspiel der Völkerschlacht sich abgespielt, ein gewaltiges
Reitergefecht, wobei König Murat nur mit Not dem Säbel eines Leutnants
von den Neumärkischen Dragonern entgangen war. Heute hielt Napoleon
selber mit der Garde und dem Kerne seines Heeres die dritthalb Stunden
lange Linie von Dölitz bis Seifertshain besetzt, durch Zahl und Stellung
den Verbündeten überlegen, 121000 gegen 113 000 Mann. Auf ihrem
linken Flügel vermochten die Verbündeten, eingeklemmt in dem buschigen
Gelände, ihre Macht nicht zu gebrauchen. General Merveldt geriet mit
einem Teile seines Korps in Gefangenschaft; mtt Mühe wurden die
Reserven dieser Österreicher aus den Auen über die Pleiße rechtsab auf
die offene Ebene hinaufgezogen. Es war die höchste Zeit; denn hier im
Zentrum konnten Kleists Preußen und die Ruffen des Prinzen Eugen
sich auf die Dauer nicht behaupten in dem verzweifelten Ringen gegen
die erdrückende Übermacht, die unter dem Schutze von 300 Geschützen
ihre Schläge führte. Die volle Hälfte dieser Helden von Kulm lag auf
dem Schlachtfelde. Schon glaubt Napoleon die Schlacht gewonnen, befiehlt
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Extrahierte Personennamen: Paul_Gerhardt Gott Marmont August Napoleon Merveldt Eugen Napoleon
335
Palisaden starren die Stürmenden an,
sie stutzen; wer ist der rechte Mann?
Da springt von achten einer vor:
„Ich heiße Klinke, ich öffne das Tor!" —
Und er reißt von der Schulter den Pulversack,
Schwamm drauf, als wär's eine Pfeife Tabak.
Ein Blitz, ein Krach, — der Weg ist frei;
Gott seiner Seele gnädig sei!
Gottlob, solchen Klinken für und für
öffnet Gott selber die Himmelstür.
Sieg donnert's. Weinend die Sieger stehn.
Da steigt es herauf aus dem Schlamm der Trancheen;
dreihundert find es, dreihundert Mann,
wer anders als Piefke führte sie an!
Sie spielen und blasen, das ist eine Lust;
mitblasen die Herzen aus voller Brust;
Klarinett' und Trompete, Hoboe und Fagott,
sie spielen: „Nun danket alle Gott!"
Und das ganze Heer, es stimmt mit ein,
und drüber Lerchen und Sonnenschein.
Von Schanze eins bis Schanze sechs
fft alles dein, Wilhelmus Rex;
von Schanze eins bis Schanze zehn,
König Wilhelm, deine Banner wehn.
Gruß euch, ihr Schanzen am Alseuer Sund!
Ihr machet das Herz uns wieder gesund, —
und durch die Lande draußen und daheim
fliegt wieder hin ein süßer Reim:
„Die Preußen sind die alten noch!
Der Tag von Düppel lebe hoch!"
Theodor Fontane.
145. Königgrätz und Sedan.
L
Über die Schlacht bei Königgrätz schrieb König Wilhelm an seine
Gemahlin:
„Horbitz, den 4. Juli 1866.
. . . Die Infanterie ging bis zum Talrande der Elbe vor, wo
jenseits dieses Flusses noch heftiges Granatfeuer erfolgte, in das ich auch
geriet, aus dem mich Bismarck ernstlich entfernte. Ich ritt aber nun
noch immer umher, um noch ungesehene Truppen zu begrüßen. Alle diese
Wiedersehen waren unbeschreiblich, Steinmetz und Herwarth fand ich nicht.
Wie sah das Schlachtfeld aus! Wir zählten 35 Kanonen; es scheinen
über 56 genommen zu sein, auch mehrere Fahnen. Alles lag voller Ge-
wehrs, Tornister, Patronentaschen; wir rechnen bis heute 12000 Gefangene;
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Extrahierte Personennamen: König_Wilhelm Wilhelm Theodor_Fontane Wilhelm Herwarth
338
und während dessen von unserer Seite nach und nach Terrain gewonnen
wurde. Die genannten Dörfer wurden genommen.
Sehr tief eingeschnittene Schluchten mit Wäldern erschwerten das
Vordringen der Infanterie und begünstigten die Verteidigung. Die Dörfer
Jlly und Floing wurden genommen, und es zog sich allmählich der Feuer-
kreis immer enger um Sedan zusammen. Es war ein großartiger Anblick
von unserer Stellung auf einer überragenden Höhe hinter jener genannten
Batterie, rechts vom Dorfe Fr6nois! Der heftige Widerstand des Feindes
fing allmählich an nachzulassen, was wir au den aufgelösten Bataillonen
erkennen konnten, die eiligst aus den Wäldern und Dörfern zurückliefen.
Die Kavallerie suchte einige Bataillone unseres 5. Korps anzugreifen, die
vortreffliche Haltung bewahrten; die Kavallerie jagte durch die Abstände
der Bataillone durch, kehrte dann um und auf demselben Wege zurück,
was sich dreimal von verschiedenen Regimentern wiederholte, sodaß das
Feld mit Leichen und Pferden besäet war, was wir alles von unserm
Standpunkte genau mit ansehen konnten. Ich habe die Nummer dieses
braven Regiment- noch nicht erfahren können.
Da sich der Rückzug des Feindes auf vielen Stellen in Flucht auf-
löste und sich alles, Infanterie, Kavallerie und Artillerie, in die Stadt
und nächste Umgebung zusammendrängte, aber noch immer keine An-
deutung sich zeigte, daß der Feind sich durch Ergebung aus dieser ver-
zweifelten Lage zu ziehen beabsichtigte, so blieb nichts übrig, als durch die
genannte Batterie die Stadt beschießen zu lassen; da es nach 20 Minuten
ungefähr an mehreren Stellen bereits brannte, was mit den vielen
brennenden Dörfern in dem ganzen Schlachtkreise einen erschütternden Ein-
druck machte — so ließ ich das Feuer schweigen und sendete den Oberst-
leutnant von Bronsart vom Generalstabe als Unterhändler mit weißer
Fahne ab, der Armee und Festung die Kapitulation antragend. Ihm be-
gegnete bereits ein bayrischer Offizier, der mir meldete, daß ein französischer
Parlamentär mit weißer Fahne am Tore sich gemeldet habe. Der Oberst-
leutnant von Bronsart wurde eingelassen, und auf seine Frage nach dem
General en chef ward er unerwartet vor den Kaiser geführt, der ihm
sofort einen Brief an mich übergeben wollte. Da der Kaiser fragte, was
für Aufträge er habe, und zur Antwort erhielt: „Armee und Festung
zur Übergabe aufzufordern", erwiderte er, daß er sich dieserhalb an den
General v. Wimpffen zu wenden habe, der für den blesfierten Mac Mahou
soeben das Kommando übernommen habe, und daß er nunmehr seinen
General-Adjutanten Reille mit dem Briefe an mich absenden werde. Es
war 7 Uhr, als Reille und Bronsart zu mir kamen; letzterer kam etwas
voraus, und durch ihn erfuhren wir erst mit Bestimmtheü, daß der Kaiser
anwesend sei. Du kannst Dir den Eindruck denken, den es auf mich vor
allem und alle machte; Reille sprang vom Pferde und übergab mir den
Brief seines Kaisers, hinzufügend, daß er sonst keine Aufträge habe. Noch
ehe ich den Brief öffnete, sagte ich ihm: »Aber ich verlange als erste
Bedingung, daß die Armee die Waffen niederlege.« Der Brief fängt so
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Und keine Viertelstunde mochte verlaufen sein, als sich überall in
den Luken der Kasematten*) Lichter zeigten: die tausend Augen eines
Ungeheuers. Bald schienen sich diese Augen zu schließen, bald öffneten
sie sich, je nachdem der Schein durch in den Stuben vorübergehende,
eilende Mannschaften auf Sekunden für uns beschattet wurde. Hätten
wir näher und genauer hinsehen können, dann würden wir in allen
Räumen der Forts eine wimmelnde Bewegung von Soldaten entdeckt
haben.
Wieder spielte der Telegraph; es kam der Befehl: Feuer erlaubt!
In der ersten Frühe des Morgens erhielten wir genaue Kenntnis
durch den Feind selbst, wo er die Hörner einsetzen wollte. Und just war
es die Truppe, zu der ich gehörte, die den ersten Anprall aushalten sollte.
Wir waren schnell in den von uns schon ftüher zur Übung eingenommenen
Stellungen, um hier den Gegner zu empfangen. Mü großer Lebendigkeit
entwickelte er sich. Im ersten wütenden Schlag wurden einige unserer
weit vorgeschobenen, stärkeren Posten überrannt; bis zum Mittag aber
waren diese wieder mit aufgepflanztem Seitengewehr zurückerobert. Hin
und her, ohne kaum strichweise Land zu gewinnen, hatte die Schlacht den
ganzen Tag gewährt. Nur das hatten wir erreicht, daß es dem Feinde
trotz immer erneuter Anstürme nicht gelungen war, uns zu durchbrechen
Es herrschte bei uns nur der eine Gedanke, vom Kommandierenden
bis zum Hornisten, die Andrängenden unter keinen Umständen durchzu-
laffen. Auch aus den weüesten Entfernungen des Ringes war, was
entbehrlich, zur Unterstützung hergeschickt.
Sieben Uhr. Mein Bataillon lag, um sich zu verschnaufen, hinter
einem Dorfe. Ein Adjutant brachte den Befehl, uns in ein etwa zwei-
hundert Schritte hinter uns liegendes, mü einer Mauer umfriedigtes
Gehöft zurückzuziehen, dort uns einzunisten und diesen Punkt durch die
Nacht bis auf den letzten Mann zu halten. Hinter uns wieder lagerten
sich auf den Höhen die Unsrigen. Durch diese Bewegung waren wü
vereinzett in den Vordergrund getreten. Das Feuer hörte auf der ganzen
Linie auf, und überall kochten bei Feind und Freund wie im Frieden
ohne Störung die Feldkeffel.
Es war erreicht, was erreicht werden sollte. Unsere Klammer um
das schwellende Holz hatte gehalten. Immer neue Unterstützung und
Ergänzung kam heran, und so durfte auch der folgende Tag für uns
als gesichert erscheinen.
* *
*
Als uns der Befehl erreichte, schlug die Dorfkirche sieben. Die heiße
Augustsonne hatte sich häufig während des Tages in den Regenwolken
gezeigt: dann dampften unsere Röcke. Run schien sie aus schwammigen
Massen, sich spiegelnd in den Regenlachen und Bluttümpeln. Dann kroch
sie in den Mantel zurück, noch einmal wieder heraus und sank. Ein
*) Bombenfester Raum in Festungen, Wallgewölbe.
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TM Hauptwörter (100): [T19: [Feind Pferd König Mann Soldat Reiter Uhr Wagen Kanone Offizier], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T21: [Schnee Winter Wasser Sommer Berg Regen Luft Boden Land Erde], T91: [Haus Fenster Wand Stein Dach Zimmer Holz Feuer Raum Decke], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
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am Himmelsrand verblaßten mehr und mehr. Die Sterne flimmertm
immer deutlicher. - Die schöne, klare Sommernacht kümmerte sich nicht um
das wüste Kriegsgetümmel. Nur ein einziges Feuer brannte hinter der
Scheune; hier konnte es nicht entdeckt werden. Zwei eingefangene
Hammel brieten.
„Herr Hauptmann, der Herr Divisionspfarrer bitten, eingelaffen zu
werden", meldet ein Posten von den Bohlen her zu mir. Ich mußte
die Augen, als ich zu ihm hinaufschaute, beschatten; schon hob er sich
wie ein Schattenriß gegen den bleichen Himmel. Da das Tor fest
verrammelt, ist an ein öffnen nicht zu denken. Auf einer nach der andern
Sette hinuntergelassenen Leiter holten wir den Feldgeistlichen herein. Der
kleine Herr mit den doppelten Brillengläsern, in hohen Stiefeln, mtt der
violett und weißen Binde am Arme stand mitten unter uns. „Ich konnte
doch das Bataillon nicht allein lassen. Die Kameraden oben auf den
Höhen werden ruhige Stunden haben; hier kann's heiß hergehen." Ich
konnte nicht anders, ich nahm das Kerlchen wie eine Puppe in die Arme
und drückte ihn an mich. Alle Offiziere gaben ihm stürmisch dankbar
die Hand.
Überall flammten und rauchten die Biwakfeuer, vor uns die des
Feindes, hinter uns die des Freundes. Ein wundervoller, friedlicher, fast
feierlicher Anblick! Ob sie kommen werden? Ob sie es versuchen werden,
uns hinauszujagen? Alles blieb ruhig. In den sanften Armen der
Nacht schliefen die Soldaten in unmittelbarer Nähe der Mauer, die
meisten mit den Köpfen auf den Tornistern. Wie in einem verzauberte«
Garten nahm sich's aus! Hier lehnte einer mit hängender Stirn an einem
Staket, dort schnarchten zwei , Rücken an Rücken, hier wieder ruhte einer
im Schoße seines Landsmannes, dort stützte einer das Haupt in die Hand,
so müde, so müde.
Nur die zahlreichen Posten gingen mit Gewehr über auf und nieder.
Scharf den Blick in die Nacht hinein, gespitzt das Ohr nach dem kleinsten
Geräusch.
„Was war das? Was ist das?" rief mein Freund, der Haupt-
mann der zweiten Kompagnie, der neben mir stand, sich hoch auflichtend
und ins Borland lugend. Nun rasselt es; Getös wie die Hiebe des
Kantschu auf den Rücken der Pferde; Kommaudorufe.
„Auf! Auf!" schrien wir, schrien die Posten, zugleich zur schnellen
Erweckung Schüsie gebend, schrie der Oberstleutnant, und schon starrten,
wie die Waffe des Stachelschweins, tausend Gewehrläufe ringsum. Zwei
Batterien jagten bis auf dreihundert Schritte au unsere Westseite und
begannen: „Mit Granaten — gradaus!" Aber die bösen Vögel flogen
meist hoch über uns weg; nicht einmal ein rotes Hähnchen setzte sich aufs
Herrenhaus. Augenscheinlich wollten sie einen Durchbruch machen, aber
es sollte ihnen nicht gelingen. Wir schossen in die hell sichtbaren Batterie»
hinein. Plötzlich protzen sie auf, teilen sich rechts und links, und in
dichten, schwarzen Schwärmen wachsen aus der Lücke Infanterie-Bataillone.
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