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Ernst Curtius.
Are Kriechen als Meister der Kolonisation.
22. März 1883.
Ernst Curtius, Altertum und Gegenwart. 3. Band. („Unter drei
Kaisern".) Berlin, Wilhelm Hertz.
Die Geschichte der klassischen Völker ist eine Weltgeschichte im
Kleinen, so inhaltreich und übersichtlich, daß wir auch für die Aufgaben
unserer Zeit immer Neues lernen, je eifriger wir nachforschen, wie es
den Alten gelungen ist, die von der Natur dargebotenen Vorteile zu
verwerten und die Gefahren zu vermeiden. Denn die natürlichen Gaben
können alle zum Segen wie zum Unsegen werden.
Was bewundern wir mehr im Archipelagus als die gegenseitige
Durchdringung von Meer und Land und schon an der Riviera rufen
wir entzückt: Das ist ein griechisches Gestade! Themistokles beklagte,
daß seine Vaterstadt nicht ganz im Meer auf vorspringender Halbinsel
angelegt sei, und suchte diesen Nachteil nach Möglichkeit wieder gut zu
machen; aber schon in Platons Gesetzen — welch ein Widerspruch! —
wird der Satz aufgestellt, daß eine Stadt, welche in Ehrbarkeit und
guter Sitte sich selbst treu bleiben wolle, mindestens zwei Meilen vom
Strande entfernt sein müsse, und die philosophischen Staatslehrer waren
einstimmig, die Meeresnahe als eine verhängnisvolle Mitgift, als die
Ursache der Entartung des Volks und seines sittlichen Verfalls anzu-
sehen. Die Einseitigkeit dieser moralisierenden Betrachtung hat schon
Aristoteles gerügt, und wir sind alle mit ihm der Überzeugung, daß,
wo menschliches Leben sich voll und reich gestaltet, mit den Keimen,
welche Blüte und Frucht treiben, unvermeidlich auch die Ursachen des
Vergehens sich entwickeln. Der Geschichtsforscher aber hat das Recht
und die Pflicht, vor allem das Werden ins Auge zu fassen, die mit
der Arbeit wachsende Energie des gesunden Volksgeistes in Erledigung
großer Kulturaufgaben, und ihr folgen wir nirgends mit höherer Be-
wunderung, als wenn wir fehen, wie die Hellenen mit zäher Ausdauer
alle Schrecken des Meeres überwinden, seine wüsten Flüchen in Straßen
des täglichen Verkehrs umwandeln, alle Hafenplätze ringsum aufspüren
und durch ihre Besiedelung die Nachbarvölker in den Kreis einer
höheren Lebensordnung einführen, die Mängel ihrer Heimat ergänzen,
ihre Hülfsquellen mehren, ihren Gesichtskreis stetig erweitern und während
langer Friedenszeiten kühnen Unternehmungssinn in Übung halten.
Die Durchführung dieser Arbeit ist die größte Leistung der Hellenen,
die den Glanz der glorreichsten Siegestage erbleichen läßt. Denn bei
ihnen war ja die Kolonisation nicht etwas Gelegentliches, das hie und
da unter besonderen Verhältnissen zu stände kam, sondern ein wesent-
liches Stück ihres Lebens, Jahrhunderte lang in allen Formen durch-
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Extrahierte Personennamen: Ernst_Curtius Ernst Ernst_Curtius Ernst Wilhelm
Die Griechen als Meister der Kolonisation.
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Die Kolonisationsarbeit, die das achte und siebente Jahrhundert
ausfüllte, war eine Heldenzeit der Hellenen, eine ununterbrochene Reihe
von Feldzügen, in denen sie die Glut tropischer Sonne wie des Nordens
Winterkalte ertragen und die wildesten Völker bändigen lernten. Es
war die Zeit, wo sie aus der Enge ihrer Heimatskreise heraus Natur
und Menschenwelt überblicken lernten. Die Dichter des achten Jahr-
hunderts priesen die stolzen Wogen des Borysthenes und in den Hafen-
plätzen Joniens gediehen die ersten Keime vergleichender Länder- und
Völkerkunde, der Naturforschung und Philosophie.
Es war aber die Ausbreitung des Volks, auch wenn sie sich bis
an die Mündungen der Rhone und des Guadalquivir erstreckte,
keine Lockerung des Volksganzen und keine Auflösung der natürlichen
Gemeinschaft, sondern die Hellenen wurden sich jetzt erst klar über ihren
angeborenen Besitz; sie lernten sich fühlen als ein gottbegnadigtes Ge-
schlecht, körperlich wie geistig zur Herrschaft berufen. Es war eine
Verklärung und Vergeistigung ihres Heimatsgefühls, indem es nicht
mehr an der Scholle klebte. Weit getrennte Städte fühlten sich als
Kinder eines Hauses, weil sie vom Stadtherde der Mutterstadt ihr
Feuer empfangen hatten, weil sie an denselben Tagen denselben Gott-
heiten opferten, dieselben Gesetze und bürgerlichen Ordnungen hatten,
weil sie ihren Kindern die schönen Sagen von Jphigeneia und der
irrenden Jo erzählten, weil sie alle einen Homer hatten. In der
Kolonisation ist der Heldenmut erwachsen, kraft dessen die Phokeer sich
jenseits des Meeres eine neue Heimat suchten und Themistokles den
Spartanern mit dem Abzug der Flotte nach Italien drohte, wo aus
freien Athenern ein neues Athen erstehen würde.
Das ist das Gesamtresultat der Kolonisation für die Geschichte
des griechischen Volks. Sie wurde aber in einzelnen Staaten in be-
sonderer Weise als ein Zweig politischer Kunst ausgebildet.
Zunächst in Korinth.
Die Korinther, am schmalen Gebirgsrande angesiedelt, waren von
Anfang an mehr draußen als daheim zu Hause, und schon in den Zeiten,
da die Geschlechter überall das Stadtregiment führten, gab es hier, und
nur hier, eine Aristokratie, deren Grundbesitz Werste und Seeschiffe
waren, die von fernen Küsten das Rohmaterial einführten, und in ein-
heimischen Fabriken verwerteten. Die eigene Unzulänglichkeit wurde die
Quelle von Macht und Reichtum: Denn das Stadtgebiet wurde auf
die jenseitige terra tirma, die üppige Achelooslandschaft, ausgedehnt;
außerhalb des Golfs ging es von Insel zu Insel weiter; feste Plätze
wurden in zweckmäßigen Entfernungen angelegt, Land- und Seestraßen
gebahnt, henunende Landzungen durchstochen. Kriegsschiffe sicherten den
Handelsverkehr und so gestaltete sich von der kleinen Winkelstadt in
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T24: [Schiff Meer Insel Küste Land Fluß See Wasser Hafen Ufer]]
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Die Griechen als Meister der Kolonisation.
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Nachdem die Gewaltpolitik des Themistokles aufgegeben war, kam
durch Aristeides und Kimon eine ganz neue Art von Kolonialverbaltd
zu stände. An Stelle der Blutsverwandtschaft trat ein geistiges Band,
auf freiem Anschluß beruhend, eine ans den verschiedensten Stämmen
zusammengesetzte Bnndesgenossenschaft, um den Tempel des Apollon
vereinigt; an Stelle einer ans Geldwirtschaft gegründeten Kaufmanns-
politik eine nationale Aufgabe ersten Rangs, die Freiheit des griechischen
Mannes, die Sicherheit hellenischer Kultur den lündergierigen Barbaren
gegenüber. Es war das verklärte Bild eines Kolonialreichs, in welchem
dem anerkannt ersten Staate die mutterstädtischen Rechte als Ehren-
gabe freiwillig übertragen wurden.
Es liegt in der Natur der menschlichen Dinge, daß dieser ideale
Zustand nicht lange ungetrübt dauern konnte. Die Verhältnisse waren
so zart und schwierig, daß sie nur von der Hand eines überlegenen
Staatsmanns glücklich behandelt werden konnten. Nur ein Mann wie
Perikles war im stände, milde Schonung mit unerbittlicher Strenge
richtig zu verbinden. Er verfolgte auch zuerst den großen Gedanken,
die Wahl-Mntterstadt so mit Kunst und Weisheit auszustatten, daß sie
gleichsam die Sonne wurde, um welche sich wie nach einem Natur-
gesetze die Insel- und Küstengemeinden ordneten. Er sorgte dafür, daß
mehr und mehr Landgebiet, entweder solches, das nach Kriegsrecht ein-
gezogen oder durch besondere Verträge erworben war, in Ackerlose
geteilt, zur Ansiedelung attischer Kolonisten benutzt wurde. Dadurch
wurde Athen nachträglich eine wirkliche Mutterstadt der Insel. Diese
Neubürger gingen aber nicht in die ältere Bevölkerung auf, sondern sie
blieben Bürger von Athen. Die Hauptstadt wurde vor Übervölkerung
beschützt; Mitglieder der untersten Vermögensklassen wurden Grund-
besitzer und ihre Ansiedelungen die festesten Stützpunkte attischer See-
macht; es waren überseeische Gaue von Attiea.
Als Vorort zur See konnte Athen auch die westlichen Golfe und
Meere nicht außer acht lassen. Korinth, der einzige gefährliche Neben-
buhler, mußte in Schach gehalten werden. Seine abtrünnigen Kolonieen
wurden in Bundesgenossenschaft aufgenommen und am Ausgange des
Golfs von Lepanto erwuchs in dem mit Messeniern bevölkerten Naupak-
tos Korinth gegenüber ein attischer Waffenplatz.
In Großgriechenland hatte sich das Hellenentum auf eigentümliche
Weise entwickelt. Weise Gesetzgeber hatten hier aus den bürgerlichen
Satzungen der einzelnen Staaten des Mutterlandes das Beste vereinigt,
um solche Verfassungen herzustellen, in denen jede hellenische Be-
völkerung ihre Befriedigung finden konnte. Das war ein ungemein
wichtiger Fortschritt griechischer Kultur, wie er nur in den Kolonien
zu stände kommen konnte. Hier knüpfte Perikles an. Alt-Sybaris
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Die Griechen als Meister der Kolonisation. 27
Heimatsgefühl sich anschließen konnte, so war es nur Athen, wohin der
Blick sich richtete, die Stadt, welcher Perikles die Weihe gegeben hatte, bte
ihr als reichster Segen gefolgt ist. Durch die Liebe zu Athen wollten
jetzt Fürsten und Völker sich als hellenisch gebildet legitimieren, und wir
können behaupten, daß keinerlei vorörtlichen Rechte allseitiger und dauer-
hafter anerkannt worden sind als die dieser geistigen Metropolis. Sie
war der heilige Herd in dem großen Hause, das alle hellenisch Ge-
bildeten wie eine Völkerfamilie umschloß. —
So erkennen wir, rückwärts schauend, von der Zeit an, da Griechen-
land fremden Seevölkern als Material für ihre Kolonisation diente,
eine zusammenhängende Entwickelung, die für die Gesamtgeschichte der
Mittelmeervölker maßgebend geworden ist, ja alles, was für die Ge-
schichte der Menschheit im Altertum geleistet worden ist, steht mit den
Kolonieen der Griechen in unmittelbarem Zusammenhang. Sie haben
die Erfindungen des Morgenlandes, vor allem Schrift und Maß, zu
einem Gemeingut der Völker gemacht. Sie haben, was sie überkommen
und was sie neu geschaffen, als fruchtbaren Samen an allen Küsten
ausgestreut und zwar in doppelter Weise. Zuerst in zerstreuten Nieder-
lassungen von abenteuernden Scharen, die den Binnenvölkern auf die
Dauer nicht widerstehen konnten. Sie haben also den ausgestreuten
Samen nicht in eigenem Gehege aufziehen können. So war es in
Mittel- und Norditalien, wo sie, von der etruskischen Volksmasse über-
wältigt, ihre Selbständigkeit frühzeitig einbüßten, und kaum können wir
hie und da die Stätten nachweisen, wo sie gesessen haben. Verloren
aber war die Aussaat nicht. Von den Etruskern gesammelt, wurde
der Ertrag landeinwärts getragen. Das tarquinische Rom war voll
von griechischer Kunst, und nach griechischem Staatsrecht wurde die
Stadt der Quirlten Vorort von Latium. Aus den Felsgrüften Mittel-
italiens, wo keine Griechenstadt vorhanden war, taucht in tausendfachen
Bildern griechisches Leben an das Tageslicht hervor und die Poesie
hellenischer Seefahrtslegenden webt um die ganz entfremdeten Völker
noch ein zartes Band uralter Blutsverwandtschaft, die in sporadischen
Ansiedelungen wurzelt.
Ungleich deutlicher ist der überseeische Einfluß in der zweiten Form;
dort, wo unter günstigern Verhältnissen den Hellenen vergönnt war
die Keime des nationalen Lebens in selbständigen Gemeinwesen zur Ent-
wickelung zu bringen, wo griechisches Stadtleben sich eigenartig und
so üppig entfaltete, daß die Großgriechen mitleidig auf die Städte des
Mutterlandes hinüberblickten. Ausnahmsweise haben diese Kolonie-
städte eine bewundernswürdige Dauerhaftigkeit bewährt, wie z. B.
Chersonnesos in der Krim, das sich bis tief in das Mittelalter hinein
erhielt, wie die Mumie einer Griechenstadt. In der Regel war das
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Extrahierte Personennamen: B.
Chersonnesos
Extrahierte Ortsnamen: Athen Norditalien Rom Latium
2
Ernst Curtius.
diese auf Kosten jener vortreten lassen. Blickt man auf den Winter
einer nordischen Stadt zurück, so wird hier, wie jeder mir zugestehen
wird, auch die gesellige Erholung mit solchem Kraftaufwands betrieben,
daß die Muße zur Arbeit wird. Kehrt ein Südländer von uns in
die Heimat zurück, so pflegt er zu klagen, daß er die hier gewohnte
Anspannung des Studiums nicht lange fortsetzen könne, und die Arbeit
verwandelt sich nach und nach in eine von seiner Laune abhängige
Ausfüllung behaglicher Mußestunden.
Freilich beruht dieser Unterschied nicht unbedingt auf dem Breiten-
grade und dem durchschnittlichen Barometerstände eines Landes; auch
in heißen Zonen ist kräftig gedacht und geschaffen worden, so lange die
Volkskraft lebendig war. Das bezeugen die Heroensagen der Inder.
Da ist Arbeit und Muße vollentwickelt und zu fruchtbarster Wechsel-
wirkung gekommen. Denn wo Poesie gedeiht, ist sie die Frucht edler
Muße, und Heldenlied ist ohne Heldentum nicht denkbar. In der
geschichtlichen Zeit aber verwischt sich der Gegensatz, der jedem gesunden
Volksleben unentbehrlich ist, und wir sehen, wie das Ziel des Strebens
nicht mehr in die Erledigung praktischer Aufgaben gesetzt wird, sondern
in eine den persönlichen Willen vernichtende und alle Thatkraft lähmende
Hingabe an die Betrachtung des Übersinnlichen, in eine immer völligere
Rückkehr des Einzelwesens in die Gottheit.
Wie sehr aber diese Auffassung mit Land und Volk zusammen-
hängt, geht daraus hervor, daß auch die im Widerspruch mit dem
Brahmanismus entstandene neue Anschauung von Gott und Welt, wie
sie der Buddhismus aufstellt, darin auf dasselbe hinauskommt, daß
auch sein Ideal ein Verlöschen der Individualität ist, ein der Welt
Absterben, ein Nicht-Wollen und Nicht-Handeln — und wenn auch
bei kräftigeren Naturvölkern, denen dieses Ideal nicht munden wollte,
ein allgemeinerer Begriff von Glück und Wonne an die Stelle tritt,
so hat er doch in Indien selbst den orientalischen Charakter immer be-
hauptet, nach welchem volle Apathie die Voraussetzung eines glücklichen
Lebens ist und also die Abwechselung von Arbeit und Muße voll-
kommen aufgehoben wird.
Ganz anders war es mit den Bergvölkern Irans, mit den Medern
und Persern, so lange ihr Volksgeist kräftig war. Hier war ein matt-
herziges Verzagen, eine trüge Indifferenz unmöglich. Hier wurde
jeder einzelne in den großen Gegensatz hereingezogen, welcher die Geister-
welt wie die Völker und Länder in zwei Heerlager schied. Die Religion
verlangte Parteinahme und Kampf; sie forderte unverdrossene Arbeit
in Feld, Wald und Garten; sie verpönte nur das gewinnsüchtige
Geschäft und wies die beschauliche Andacht, in welcher das Leben der
Inder aufging, den Feiertagen und Feierstunden zu.
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Arbeit und Muße.
3
So war eine einfache und vernünftige Lebensordnutlg begründet,
wie sie sich bei allen Zweigen des arischen Völkergeschlechts wieder-
holt; auch bei den Griechen, so lange sie als Pelasger wesentlich
Landbauer waren und mit eigener Hand den Boden bestellten. In
diesem Zustande ist ein großer Teil des Volks lange geblieben; die-
jenigen aber, mit welchen die Perser in Berühritng kamen, die auf
den Inseln und Küsten ansässigen Griechen, waren mehr als irgend
ein anderes Glied des arischen Völkergeschlechts mit den seefahrenden
Semiten in Berührung gekommen, welche Handel und Industrie
im Archipelagus eingeführt und mit ihrer Unruhe die Griechenwelt
erfüllt haben. Der Kaufmarkt wurde nun der Mittelpunkt der Küsten-
städte, und weil der Perserkönig in diesem Zustande die Griechen
kennen lernte, verachtete er sie, wie Herodot sagt, als ein entartetes
Volk, welches außer stände sei, einem mannhaft gebliebenen Widerstand
zu leisten.
Kyros sah nur die Schattenseite, und es ist unleugbar, daß die
Erwerbslust, welche keinen regelmäßigen Wechsel von Arbeit und
Muße, keine festen Ziele und Zeiten hat wie der Landbau, die
sittliche Gesundheit der Griechen frühzeitig angegriffen und ihren
Stammcharakter wesentlich verändert hat. Andererseits beruht aber
die ganze Vielseitigkeit und Fruchtbarkeit des Griechentums darauf,
daß es zwei verschiedenen Kulturkreisen angehört, und wir erkennen
in ihm deutlich einen doppelten Zug, den arischen Stolz, der jeden
kaufmännischen und industriellen Erwerb verachtete, und die den
Phöniziern abgelernte Betriebsamkeit, die in rastloser Geschäftigkeit
alles zu verwerten suchte, was die Natur darbot oder ihr Fleiß her-
vorbrachte.
Dieser Gegensatz hat eine wohlthätige Gärung erzeugt; er hat
Nachdenken und Anstrengung hervorgerufen, und in dem Bestreben,
ihn richtig zu vermitteln, sind die Griechen über die Einseitigkeit der
älteren Völker hinausgegangen, haben die verschiedenen Richtungen des
Menschenlebens zuerst klar überblickt und eine ihnen durchaus eigen-
tümliche Lebensordnung aufgestellt.
Merkwürdig ist, wie sie dazu das Ausländische benutzten.
Von den Phöniziern haben sie Menschenraub und Menschenhandel
kennen gelernt. Dadurch wurde die Möglichkeit gegeben, einen Stand
heimatloser Leute zusammen zu bringen, auf welchen die Landeskinder
die Last der Tagesarbeit wälzen konnten. Nun teilt sich das Geschlecht
der Menschen darnach, ob sie Muße haben oder nicht. Der Unfreie,
sagt Aristoteles, hat keine Muße; für ihn giebt es nur Arbeitszeit und
Arbeitspause. Auch für das unreife Alter ist sie nicht vorhanden.
Erst der voll Entwickelte tritt in ihren Genuß ein, wie der erwachsene
1*
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Extrahierte Personennamen: Herodot Kyros Aristoteles
32
Theodor Mommsen.
der Barbaren, Tag und Ort des Kampfes vorher mit dem Feinde
ausgemacht, auch wohl vor dem Beginn der Schlacht ein einzelner
Gegner zum Zweikampf herausgefordert. Die Einleitung zum Kampf
machten Verhöhnungen des Feindes durch unschickliche Geberden und
ein entsetzliches Gelärm, indem die Männer ihr Schlachtgelärm erhoben
und die Frauen und Kinder durch Aufpauken auf die ledernen Wagen-
deckel nachhalfen. Der Kimbrer focht tapfer — galt ihm doch der Tod
auf dem Bett der Ehre als der einzige, der des freien Mannes würdig
war —, allein nach dem Siege hielt er sich schadlos durch die wildeste
Bestialität und verhieß auch wohl im voraus den Schlachtgöttern dar-
zubringen, was der Sieg in die Gewalt der Sieger geben würde.
Dann ward das Gerät zerschlagen, die Pferde getötet, die Gefangenen
aufgeknüpft oder nur aufbehalten, um den Göttern geopfert zu werden.
Es waren die Priesterinnen, greife Frauen in weißen linnenen Ge-
wändern und unbefchuht, die wie Jphigenia im Skythenland diese
Opfer vollzogen und aus dem rinnenden Blut des geopferten Kriegs-
gefangenen oder Verbrechers die Zukunft wiesen. Wie viel von diesen
Sitten allgemeiner Brauch der nordischen Barbaren, wie viel von den
Kelten entlehnt, wie viel deutsches Eigen fei, wird sich nicht ausmachen
lassen; nur die Weise, nicht durch Priester, sondern durch Priesterinnen
das Heer geleiten und leiten zu lassen, darf als unzweifelhaft deutsche
Art angesprochen werden. So zogen die Kimbrer hinein in das unbe-
kannte Land, ein ungeheurer Knäuel mannigfaltigen Volkes, das um
einen Kern deutscher Auswanderer sich zusammengeballt hatte, nicht
unvergleichbar den Emigrantenmasfen, die in unseren Zeiten ähnlich
belastet und ähnlich gemischt und nicht viel minder ins Blaue hinein
übers Meer fahren; ihre schwerfällige Wagenburg mit der Gewandtheit,
die ein langes Wanderleben giebt, hinüberführend über Ströme und
Gebirge, gefährlich den zivilisierteren Nationen wie die Meereswoge und
die Windsbraut, aber wie diese launisch und unberechenbar, bald rasch
vordringend, bald plötzlich stockend oder seitwärts und rückwärts sich
wendend. Wie ein Blitz kamen und trafen sie; wie ein Blitz waren
sie verschwunden, und es fand sich leider in der unlebendigen Zeit, in
der sie erschienen, kein Beobachter, der es wert gehalten hätte, das
wunderbare Meteor genau abzuschildern. Als man später anfing die
Kette zu ahnen, von welcher diese Heerfahrt, die erste deutsche, die den
Kreis der antiken Zivilisation berührt hat, ein Glied ist, war die un-
mittelbare und lebendige Kunde von derselben lange verschollen.
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Am Denkmal Steins.
73
Ministeriums; der Kultusminister habe nur bei dem Religionsunterricht
mitzuwirken. Die Schule ist ihm nach altpreußischem Grundsatz schlechthin
Sache des Staates, weil sie die wichtigste nationale Sache ist. Auch
hier hat die Gegenwart zum Heile des Vaterlandes an die Bestrebungen
der großen Befreiungsjahre wieder angeknüpft.
Inmitten all' dieser Erwägungen, Verfügungen, Umgestaltungen,
inmitten eines Arbeitens, welches in wunderwürdiger Weise die Gemüter
aufrichtete, die Kräfte sammelte, die Zukunft vorbereitete, wurde Stein
im Herbste 1808 durch das Ächtungsdekret Napoleons getrosten, welches
„den Namens Stein als Anstifter von Unruhn in Norddeutschland"
für einen Feind Frankreichs erklärte, seine Verhaftung befahl und das
Sequester über seine Güter verhängte. Preußen war damals nicht im-
stande, den Minister vor einer so unerhörten Gewaltthat zu schützen;
er mußte flüchtend sich nach Böhmen retten und blieb dort in sicherer
Zurückgezogenheit, bis im Jahre 1812 Kaiser Alexander von Rußland
ihn in feine persönliche Nähe nach Petersburg berief. Stein empfing
damals kein Amt; er hatte nichts als die Wucht seiner Persönlichkeit,
um durch den Kaiser auf die Welt zu wirken. Und so mächtig zeigte
sich auch hier diese feste Mannesnatur, daß er binnen wenigen Monaten
eine Stellung gewann, wie sie vor und nach ihm niemals ein Privat-
mann besessen hat. Er erlebte es jetzt, wonach sein Herz gedürstet, den
Krieg der Befreiung: und das Wort, welches vor allen anderen er
diesem Kriege zur Losung gab, es hat fortgetönt durch die Geschlechter
der Menschen, bis es endlich nach zwei Menschenaltern zur glorreichen
Erfüllung gelangt ist: die Einheit Deutschlands. Es war für ihn
nichts Neues; er, der unabhängige Reichsfreiherr, war deshalb einst
nach Preußen gegangen, nicht aus einer blinden Anhänglichkeit an diesen
Staat, wie er das selbst erklärte, sondern aus der deutlichen Über-
zeugung, daß die Zerstückelung Deutschland schwächte, um Nationalehre
und Nationalgefühl brachte, es unfähig machte zu einer staatswirt-
schaftlichen Verwaltung und jeden einzelnen Bürger herabwürdigte, in-
dem sie ihm einen Hauptträger der Sittlichkeit, die Vaterlandsliebe,
entzog: den einzigen Weg zur Rettung aus diesem Elend sah er dann
in der Erhebung der preußischen Macht, die einmal fest geschlossen be-
stand, politische Ordnung und geistige Bildung vor sich hertrng und
schon damals mit glänzendem Ruhme geschmückt war. So hatte er,
um Deutschlands willen, in guten und schlimmen Tagen sein Leben an
Preußen geknüpft, so war, als der deutsche Krieg von 1813 begann,
sein erster und letzter Gedanke die Stärkung und Erweiterung Preußens,
um Deutschlands willen. Es war ihm vergönnt, die Herstellung der
nationalen Unabhängigkeit und den Sturz der Napoleonischen Fremd-
herrschaft zu schauen und die gegen ihn ergangene Acht auf das Haupt
TM Hauptwörter (50): [T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland]]
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Extrahierte Personennamen: Napoleons Namens_Stein Alexander_von_Rußland Alexander
Extrahierte Ortsnamen: Napoleons Frankreichs Petersburg Deutschlands Deutschland Deutschlands Deutschlands
76
Erich Marcks.
und religiöser Überzeugung gefunden hat, dessen sein Wesen bedurfte;
blitzende Kämpfe im Dienste seines Königs und seines Standes — und
dann die Erziehung des Staatsmannes zum Führer seiner Zeit. Er
verarbeitet zögernd, widerwillig und dann schöpferisch in sich die
Forderungen seiner Nation und fügt sie schließlich in sein Leben und
sein Wollen ein. Ein Preuße von ganzer Seele, ergreift er im Sinne
seines Staates, vom großen Ehrgeize Friedrichs Ii. getragen, die Auf-
gaben der deutschen Welt. Und immer freier, Heller, weiter faßt er sie
auf; immer höher steigt er selber empor: der widerstrebend sich mit
den Kräften seiner Gegenwart durchdrungen hat, nun durchdringt er
jene mit seinem persönlichen Selbst: er handelt, er ringt, ein Kämpfer,
ein Vernichter, ein Neuerbaner, scharf, leidenschaftlich, in jenem höchsten
Streben des Genius, sich selber machtvoll und rücksichtslos durchzusetzen,
weil er das Leben und die Zukunft bringen kann. Für oder wider
ihn, das wird der Schlachtruf, nach dem sich die Menschen sondern;
und in dem gewaltigsten Jahrzehnt unserer neueren Geschichte wird
jeder seiner Schritte ein Sieg und jeder seiner Siege eine That der
nationalen Erfüllung. Er vollendet die alte Arbeit seines Preußens;
er wird zum Deutschen; er wird der Gründer des Deutschen Reichs.
Aber die Höhe, die er erreicht hat, der Jubel, der den ehemals Ge-
haßten nmbraust, der Abschluß, den er scheinbar errungen — sie be-
friedigen ihn nicht. Er geht, mit der Partei zusammen, mit der gemein-
sam er gesiegt hat, an den Ausbau des neuen Werkes und führt, mit
ihr verbündet, neuen schicksalsvollen Kampf. Allein die liberale Welt
ist doch im Grunde die feine nicht; die wirtschaftlichen Gegensätze, die
sozialen Nöte, die mit dem Siege des liberalen Prinzips zugleich und
aus ihm heraus in die Welt gekommen sind, ergreifen ihn mehr und
mehr. Und während ihn der kleinere Streit des Tages zu umstricken
und zu lähmen scheint, zieht er sich, in jenen inhaltsschweren Monaten
von 1877, in die Einsamkeit seines Landsitzes zurück und stellt die
Fragen einer neuen Lebensaufgabe vor sich auf: was ringsum gährt
und tobt, er verarbeitet es in machtvoller, seelischer Sammlung.
Wiederum wird er der Inbegriff des Lebendigen, des Notwendigen,
das sich am neuen Tage durchringen will, und als er in die Welt
zurückkehrt, bringt er ein neues System staatlicher und nationaler
Zusammenfassung mit; er macht die drängenden Wünsche und Klagen,
die Ansprüche, die Gedanken zur staatsmännischen That. Und auch sie
hat er noch vollbracht: die Wirtschaft seines Landes nach außen hin
abgeschlossen und innen hundertfach bereichert; seinem Reiche durch die
neuen Zölle erst die finanzielle Selbständigkeit des Daseins gesichert;
seinem Staate, seiner Monarchie, seinem Kaisertum eine ganze Welt
neuer Pflichten, tieferer Bestrebungen, innerlicherer, sittlicher und
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Gedenkworte.
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politischer Macht erobert. Von neuem trat ihm der Widerstand der
von dieser Flut schöpferischer Pläne Überraschten oder Bedrohten in
den Weg; zum zweitenmal wurde er der Führer einer umwälzenden
allgemeinen Bewegung; und zum zweitenmal hat er, im wichtigsten,
gesiegt. Da wurde die Krone seines Kaisers zum echten Wahrzeichen
des aufwärts- und vorwärtsdringenden deutschen Lebens; Wohlstand
und Arbeit schlossen sich um ihn zusammen. Die großen Probleme
sozialen Kampfes und der sozialen Heilung hat er zuerst, nach seiner
Art, aber mit gewaltiger und bahnbrechender Wucht, mitten in die
staatliche Wirklichkeit hineingerückt. Und dies sein Deutschland, das er
so von neuem einte und beflügelte, blieb, so lange er es regierte, unter
den Mächten des Kontinents die erste; er umgab es mit sichernden
Wällen eigener Kraft und fremden Beistandes; er wies ihm noch selber,
da die Stunde neuer Entwicklungen nahte, die Bahnen aus europäisch-
engem Kreise hinaus in die Weiten des Erdballs, die Bahnen über die
Meere hinweg, zur Handels- und Seegewalt inmitten der Welt. Un-
auslöschlich hat er einer neuen Epoche die Spuren seines Wirkens ein-
geprägt; alles deutsche Dasein hat er damals, ob nun in zähem Wider-
streite oder im Jubel hingegebener Begeisterung bis in die Tiefen hinein
mit seinem Wesen durchtränkt. Als er ein Siebziger wurde, da stand
er erst ganz auf dem Gipfel seiner Kraft und seiner Erfolge, der
Gründer und der Nenbildner dieses Reiches, ja dieses Volkes; und
wenn man es je von einem Menschen sagen konnte: Fürst Bismarck
war damals die deutsche Nation.
Wo ist der Sterbliche, von dem man Größeres verkünden dürfte?
Von wie wenigen nur hat je das Gleiche oder das Annähernde ge-
golten; und von wem darf es gelten unter den Genien unseres
Volkes? Hoch ragt die Macht seiner Thaten und seines Einflusses
über den wesensverwandten Freiherrn von Stein hinweg; nur drei
sind es, die wir neben ihm nennen dürfen, die gewaltigsten Träger der
Lebensalter unserer neuen Geschichte: Goethe, Friedrich Ii. und Martin
Luther. Auch jene drei sind heute noch mit uns und in uns lebendig,
jeglichen Tag; ihre Einwirkung ist unermeßlich; hat einer von ihnen
so sehr das Ganze seiner Welt ergriffen wie Bismarck? Hat sich, als
sie starben, so jeder Kreis des deutschen Lebens, in gutem oder in
bösem Willen, mit ihnen auseinandersetzen gemußt wie heute mit ihm?
War so die Trauer der Hunderttausende und der Millionen um sie
vereint? Am ehesten um den mächtigsten von ihnen, um den. dessen
Schicksal es war, daß er unser Volk, indem er es emporriß und auf
weite Jahrhunderte hinaus belebte, zugleich mit dem Fluch der inneren
Zerspaltung treffen mußte. Als Martin Luther starb, da ging wohl
wirklich der Schauer durch alle Gaue und alle Lande hin wie heute,
TM Hauptwörter (50): [T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland]]
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Extrahierte Personennamen: Fürst_Bismarck Goethe Friedrich_Ii Friedrich Martin
Luther Martin_Luther