Gotthold Ephraim Lessing
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Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in
so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt; ich muß alles durch Druckwerk
und Röhren aus mir Herauspressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein,
wenn ich nicht einigermaßen gelernt Hütte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an
fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu s
stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdrießlich geworden, wenn ich zum
Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken; und ich
schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Ich
bin ein Lahmer, den eine Schmähfrist auf die Krücke unmöglich erbauen kann.
Doch freilich, wie die Krücke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum 10
andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann, so auch die Kritik. Wenn
ich mit ihrer Hilfe etwas zustande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen
Talenten ohne Kritik machen würde, so kostet es mich so viel Zeit, ich muß von
andern Geschäften so frei, von unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein,
ich muß meine ganze Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritte 15
alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig
durchlaufen können, daß zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unter-
halten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein kann als ich. . .
. . Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu ver-
schaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen 20
Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser
sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nach-
ahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die untertänigen Bewunderer der
nie genug bewunderten Franzosen: alles, was uns von jenseit dem Rheine kömmt,
ist schön, reizend, allerliebst, göttlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehör, als 25
daß wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit für Ungezwungenheit,
Frechheit für Grazie, Grimasse für Ausdruck, ein Geklingle von Reimen für Poesie,
Geheule für Musik uns einreden lassen, als im geringsten an der Superiorität zwei-
feln, welche dieses liebenswürdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich
selbst sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schön und erhaben und so
anständig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile erhalten hat. . .
Ich war also genötiget, anstatt der Schritte, welche die Kunst des dramatischen
Dichters hier wirklich könnte getan haben, mich bei denen zu verweilen, die sie vorläufig
tun müßte, um sodann mit eins ihre Bahn mit desto schnellern und größern zu durch-
laufen. Es waren die Schritte, welche ein Irrender zurückgehen muß, um wieder 35
auf den rechten Weg zu gelangen und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen.
Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen: ich glaube die dramatische Dicht-
kunst studiert zu haben, sie mehr studiert zu haben als zwanzig, die sie ausüben.
Auch habe ich sie so weit ausgeübt, als es nötig ist, um mitsprechen zu dürfen; denn
ich weiß wohl: sowie der Maler sich von niemanden gern tadeln läßt, der den Pinsel 40
ganz und gar nicht zu führen weiß, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens
versucht, was er bemerkstelligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu
machen vermag, doch urteilen, ob es sich machen läßt. Ich verlange auch nur eine
Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmaßt, der, wenn er nicht dem oder
jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, stummer sein würde als ein Fisch. 45
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