I. Geffcken, Der Eintritt des Christentums in die griechisch-römische Welt. 47
auf einer alten Inschrift die Taten der Götter als Taten alter Könige
aufgezeichnet gefunden habe und diese Könige sich dann später selbst
für Götter erklärt Hütten. Sah man nun damals in der Diadochenwelt
die Konsekration verstorbener Könige, ja die Göttlichkeitserklärung lebender,
so ergänzte oder entschuldigte gewissermaßen hier eins das andere: der
Vergöttlichung des Menschen brach die Vermenschlichung des Göttlichen
die anstößige Spitze ab.
Aber das ist nur eine Wellenbewegung an der Peripherie; dringen
wir nun ins Zentrum dieses Wesens. In Athen wird jetzt die große
Frage: Sind Götter und welche? Ist ein Gott, und was sinnt er?
mit wissenschaftlichstem Ernste erörtert. So wird die als die gottes-
sürchtigste der antiken Welt anerkannte Stadt zum Schauplatze eines
langwierigen und hartnäckigen Streites, der mit vielem alten, aber auch
manchem neuen Rüstzeug ausgefochten wird. Die Anhänger Epikurs,
desselben Philosophen, dessen Name später als Symbol aller schnöden
Genußsucht mißbraucht worden ist, eröffneten ihren Feldzug gegen die
Volksgötter der Griechen. Zunächst hielten sie sich über deren Schwäche
auf. Wenn man auf der Insel Kreta das Grab des Zeus zeige, wenn
Asklepios dem Blitzstrahl des höchsten Gottes erliege, Dionysos zerrissen
und wieder zusammengeflickt werde, wenn Ares und Aphrodite von
Menschenhänden verwundet, wenn Herakles dienstbar würde, wo bliebe
da noch der Götter Kraft und Heiligkeit? Wie unwürdig ferner, wenn
die Gottheit stets ein Amtssymbol mit sich herumschleppe, einen Bogen,
einen Schmiedehammer, einen Spiegel! Wie soll man sich dann auch
diese Wesen vorstellen: läuft Apollon immer mit glatten Wangen um-
her, hatte der Schmiedegott Hephaistos immer seinen Hinkefuß? Leben
ferner diese Götter nicht immer im Streit? Im troischen Kriege
schlagen sie rücksichtslos aufeinander ein, im hohen Olymp droht Zeus
sie an die Wand zu werfen, und wenn seine Gemahlin etwas durch-
setzen will, so betrügt sie ohne jeden Skrupel den Gatten. Und diese
ärmlichen Geschöpfe wollen die Menschen die Kunde der Zukunft lehren!
Läuft nicht der Orakelspender Apollon der Daphne nach, ohne zu ahnen,
daß sie sich gleich in einen Lorbeerstrauch verwandeln wird? Solcher
Götter Schwäche ist eine Selbstverdammnng, solcher Götter böses Bei-
spiel verdirbt die Menschen, die durch ihre Verehrung sich nur der Gott-
losigkeit schuldig machen. Allerdings kann es keinem Zweifel unter-
liegen, daß es wirklich Götter gibt, und es ist unrichtig, den Freigeist
zu spielen, wenn das Volk der Gottheit Feste feiert, aber ob sie uns
helfen kann und will, ob sie sich überhaupt um uns kümmert, das ist
mehr als fraglich.
So dachten die Epikureer, und ihr Denken war ernst und wirkungs-
voll. Aber für das griechische Empfinden konnte diese reine Negation
nicht genügen. Seiner Sehnsucht nach dem Anschluß des Menschen an
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T33: [Kind Vater Mutter Frau Mann Jahr Sohn Gott Haus Eltern]]
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48
Prosaheft Vil
eine Gottheit entsprach nun wenigstens zum Teil die Lehre der Stoa.
Freilich geben auch die Stoiker zu, daß die Götter der Dichter, die sich
ja schwerer Gesetzesverletzung schuldig machen, ein Nichts sind. Aber
es gilt, sie richtig zu verstehen. Diese Mythen haben ihre tiefere alle-
gorische Bedeutung. Zeus ist die alles ordnende Weltvernunft, der so-
genannte Logos (der ja noch in mannigfacher Umgestaltung im Prolog
des Evangeliums Johannis wiederkehrt), Zeus ist die Seele des Alls.
So bedeutet denn Ares den Krieg, Hephäst das Feuer, Hera die Luft,
Apoll die Sonne, Artemis den Mond. Wenn also die Götter im
Olymp sich mit Zeus herumschlagen, so ist dies nichts als der Kampf
der Elemente miteinander, wenn Hephäst durch den Götterkönig ans
dem Olymp ans die Erde geschlendert wird, so versteckt sich darin nur
die Tatsache von der Herabknnft des Feuers auf die Erde, wenn Ares,
von Athene verwundet, laut aufschreit, so ist das nichts als das un-
geordnete, rohe Barbarenheer, das im Kamps viel Getöse macht, und
schließlich, wenn Ares und Aphrodite sich vereinigen, so haben wir darin
nur den Bund zwischen Streit und Liebe zum Zwecke der Harmonie zu
erkennen. Dieser allegorische Rationalismus, dergleichen, obschon in
veränderter Form, auch die christliche Nachwelt manches erlebt hat, war
aber nur Außenwerk der stoischen Lehre und konnte das religiöse Be-
wußtsein nicht ganz ausfüllen. Die Hauptsache für die Stoa ist der
Glaube an die Vorsehung, eine Überzeugung, die in dieser Form, unterstützt
durch die gleichen Gründe, im Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts
wiederkehrt. Der Stoiker sah sich im Weltall um und fand alles dort
wunderbar bestellt. Nach ewigen Gesetzen vollzieht sich der Umschwung
der Gestirne, und sie alle dienen der Welt der Menschen in verschie-
denster Weise. Also muß hinter dieser wunderbaren Ordnung doch eine
bewegende Kraft stehen. Wenn Barbaren einen rotierenden Globus
mit den um ihn kreisenden Sternen erblicken, so erfüllt sie doch sicher
Staunen über diese Leistung des menschlichen Verstandes: und wir
sollten glauben, das Firmament rolle sich ab, seelenlos, nrheberlos?
Treten wir doch hinein in ein Gymnasium, das nach einheitlichem
Plane sein Tagewerk vollendet, suchen wir eine wohlregierte Stadt ans,
sehen wir ein Schiss fahren: und wir sollten annehmen, daß alles dies
von selbst geschehe? Überall auf der Erde ist der Zweck des Ganzen
erkenntlich; für die Erhaltung und den äußeren Schutz der Tiere ist
aufs beste gesorgt, sie sind gegen alle Unbilden der Natur bewahrt, sie
haben Waffen; die Bestimmung aber der Tierwelt ist der Nutzen des
Menschen. Und er selbst nun, wie künstlich und fein ist er bereitet!
Jeder Körperteil hat seinen besonderen Nutzen, seine eigenartige Bestim-
mung, ja auch seine individuelle Schönheit. Sind wir somit selbst aufs
beste mit uns eingerichtet, dienen uns die Tiere, verkündet uns der Lauf
der Gestirne den Willen des Schicksals, so ist doch wohl klar, daß diese
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I. Geffcken, Der Eintritt des Christentums in die griechisch-römische Welt. 49
ganze große Natur sich um den Menschen als ihr Zentrum bewegt, daß
er ihr letzter Endzweck ist. Diese Natur aber ist Gott, dem die Teil-
gewalten, Gestirne und Elemente untertan sind.
Diese großartige und für unendlich viele Menschen beseligende
pantheistische Philosophie fanden die Epikureer nun zum besten Teile
lächerlich. Die allegorischen Götter der Stoa bedünkten sie phantastische
Wahngestalten, ein Licht- oder Feuergott, meinten sie, könne niemanden
vor einer bösen Tat bewahren. Die stoische Vorsehung, die das All
durchflutende Gottheit, ist den Epikureern eine Art von alter Tante,
die überall neugierig ihre Nase in Dinge hineinsteckt, die sie nichts an-
gehen. Dieser stoische Gott kommt ja auch gar nicht zur Ruhe, wenn
er für so viele Dinge sorgen soll. Ein Zweck ist überhaupt gar nicht
ersichtlich; oder könne man irgendeinen erdenkbaren Nutzen in der Exi-
stenz z. B. des Ungeziefers finden? Wo ist denn endlich auch Gott
vor der Erschaffung der Welt gewesen? — Während nun so die Epi-
kureer der Stoa zu Leibe gingen, hatte sich in einer skeptischen Richtung
der platonischen Schule ein neuer mächtiger Feind gegen diese erhoben.
Die Skeptiker, geführt von Karneades, wollen zwar von den Epikureern
auch nicht viel wissen, aber ein wenig fahren sie doch in ihrem Gleise.
Sie stellen, nicht etwa um die Stoa zu bekämpfen, sondern um wirklich
die Wahrheit oder wenigstens einen Teil davon zu gewinnen, das Prinzip
gänzlicher Voraussetzungslosigkeit auf. Die Schöpfung vorerst läßt nach
ihrer Ansicht gar keinen Schluß auf ihre Göttlichkeit zu. Ihre Regel-
mäßigkeit findet ein Analogon in der Erscheinung der Ebbe und Flut,
ja auch in der Regelmäßigkeit der Wechselfieber, hinter denen doch wohl
kein Mensch etwas Göttliches sehen wird. Alles dies ist vergänglich,
vergänglich ist die Welt, sind die Gestirne, die Elemente, ein Gott aber
kann nicht vergänglich sein. Mit den Göttern läßt sich gar nichts an-
fangen, es gibt so viele, bei denen sich die Entscheidung, ob sie Götter
waren oder andere Wesen, verliert, daß man am besten ganz von ihnen
absieht; sonst müßte man ja noch womöglich die ägyptischen Tiergötter
verehren. Die Allegorien aber sind durchaus hinfällig, denn so etwas
kann man sich jederzeit ausdenken, da herrscht vollkommene Willkür.
Die Kunde der Zukunft ferner, die nach der Stoa von den Göttern
stammt, wäre auch kein Glück für die Menschheit: wozu soll man denn
vorher wissen, was doch sicher eintrifft? Übrigens ist die Astrologie
eitel Schwindel, kein Mensch ist imstande, ein sicheres Horoskop zu stellen.
Endlich, wenn es wirklich eine heilige und gerechte Vorsehung gäbe, so
würde es doch sicher dem Guten gut, dem Bösen schlecht gehen. Nun
aber sehen wir doch hienieden das gerade Gegenteil davon sich vollziehen.
Die Edelsten müssen viel leiden, ein Sokrates starb ungerecht; dagegen
geht es den Massenmördern, den Tyrannen, den Tempelräubern ganz
vortrefflich. Der Glaube an die Götter soll ja damit nicht aufgehoben
Lorentzen-Rode-Weise, Prosaheft Vii. 4
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50
Prosaheft Vil
werden, da aber alle Völker verschiedene Götter haben, da alle Philo-
sophen andere Systeme schaffen, fo kommen wir zu keinem bindenden
Ergebnis.
Gegenüber diesen scharfsinnigen Fragen hat die Stoa, wenn sie
auch notgedrungen einzelne Konzessionen machte, doch an ihrem Stand-
punkte weiter festgehalten. Die Stoa hat die tapfere Überzeugung, die
ja auch in die christliche Anschauung übergegangen ist, die Übel seien
die beste Übung des Menschen. Gott verwöhnt eben den Guten nicht,
er nimmt ihn für sich in Arbeit; er verzärtelt sein Kind nicht wie eine
schwächliche Mutter. Alles Widrige ist im letzten Grunde gut für die,
denen es zustößt, besonders aber für das Ganze. Wenn man sich also
fragt, warum denn bei einem Erdbeben, warum bei einer Wassersnot
so viele Gute mit umkommen müssen, so lautet die Antwort, daß sich
uns die näheren Gründe entziehen, daß wir nach ihnen auch nicht fragen
sollen: Gott, der das Ganze als ein gerechter Vater im Auge hat, weiß
besser als wir kurzsichtigen Menschenkinder, was dem Weltall frommt,
und braucht auch diese Elementarereignisse in seinem Sinne zum Nutzen
des Ganzen. Geht es aber oft dem Bösen gut, dem Guten übel, so
bedenke der Zweifler, daß die Guten und Gott miteinander verwandt
sind; die Bösen sind nur seine Haussklaven; laß die lustig und frivol
sein, die Kinder des Herrn haben die Aufgabe, sittig und anständig zu
leben. Kein Mensch ist unglücklicher als der, der nie ein Unglück er-
lebt hat; das Geschick sucht sich immer nur die Tapfersten aus. Den
Steuermann lernt man im Sturm, in der Front den Soldaten kennen.
Die Tugend ohne Gegner stirbt an Schwindsucht. Und wenn man
uns vollends das Beispiel des Sokrates, der ungerecht starb, vorhält,
so fragen wir dagegen, ob er ein übles Los gefunden hat, als er den
Heiltrank der Unsterblichkeit nahm. Nein, das wirkliche Übel ist nur
das Böse, aber gerade dies hält Gott den Guten fern. Die, welche
glücklich scheinen, sind oft gerade elend, sie gleichen getünchten Wänden.
Die Leidenden lehren andere dulden, sie bleiben ihnen zum Muster.
Gott kann ja doch auch nicht allein die Bösen strafen; der Wind kann
nicht den Guten günstig, den Bösen ungünstig wehen; kein Arzt ver-
weigert ja auch den schlechten Menschen sein Mittel.
So stellte die von rechts und links angegriffene Stoa eine Fülle
von schönen und konsequenten Sätzen den Feinden entgegen und bewies
damit ihren hohen Reichtum an unvergänglichem Seelengut. Und nicht
genug damit: aus ihren Reihen trat als Vorkämpfer der Mann, dessen
umfassender Geist das ganze Wissen seiner Zeit umspannend des alten
hellenischen Geistes Stärke noch einmal, auf Jahrhunderte zum letzten
Male, betätigte, der Historiker, Geograph, Astronom, Philosoph Posei-
donios, von dessen Wissen die unproduktive Folgezeit sich ausschließlich
genährt hat. Noch einmal ist er im vollsten Wortsinne ein Gelehrter.
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I. Geffcken, Der Eintritt des Christentums in die griechisch-römische Welt. 51
Und doch steht er schon auf der Wende zweier Zeitalter, auch in ihm
gewinnt der schon lange keimende Trieb seiner Epoche nach dem My-
stischen, dem Enthusiasmus Ausdruck. Er beobachtete scharf die Einzel-
erscheinungen, aber wenn er die Ergebnisse zum Gesamtbilde zusammen-
faßte, so ging ihm vor der Herrlichkeit der Welt das Auge über; wenn
er den ewigen Wandel der Himmelskörper beobachtete, die Kräfte der
Erde erkannte, so faßte ihn die heiligste Ehrfurcht vor dem Künstler
des Werkes, und in begeisterter Rhetorik, die durch die ganze Zeit,
auch in den Schriften des jungen Christentums widerhallte, gab er
seinen Gefühlen Ausdruck.
Es war ein erhabener Pantheismus, der das Herz auch des Leicht-
sinnigsten aus den Banden der Lüste, ans dem Strudel der Nichtigkeit
emporzureißen vermochte; er bot nun auch Raum für die Götter und ihre
Vielheit. Wir haben gesehen, daß die philosophische Skepsis nicht daran
dachte, vollen, praktischen Ernst mit der Bekämpfung der griechischen
Götter zu machen. So sehr ferner Vertreter aller Sekten — freilich
nicht ohne beredten Widerspruch ihrer Zunftgenossen — in der Ver-
werfung des Bilderdienstes übereinstimmend ins Menschenherz den Sitz
der Gottheit verlegen, so laut einzelne Stimmen die blutigen Opfer
verdammen, so hat es im Altertum doch nie einen heidnischen Bilder-
stürmer, einen Zerstörer der Altäre gegeben. Vollends entthronte ja
die Stoa, wie schon bemerkt, die Götter, deren Mythen sie nur im
wörtlichen Sinne verwarf, nicht, sondern setzte sie um in Naturgewalten
und Abstraktionen. Aber damit nicht genug: im Verfolg dieses Denkens
gelangte man dazu, die Religionen aller Völker deuten zu wollen. Er-
gab sich aus dem allgemeinen Glauben die Existenz Gottes überhaupt,
so lag diesen polytheistischen Religionen ein Wahrheitsgehalt zugrunde,
eine alte Offenbarung, die, jetzt in Mythen und Symbolen zum Aus-
drucke kommend, nur dem Sinn des Frommen und religiös Strebenden
sich erschließen. So greift denn auch bei den Philosophen der Trieb
immer weiter um sich, diese Symbole, diese Bräuche, diese Kultgestalten,
sei es nun Ägyptens oder des Orients bis nach Indien, würdigen zu
lernen. Apollonios von Tyana unternimmt seine große religiöse Wan-
derung nach dem Osten, um dessen göttliche Weisheitswunder zu er-
gründen: so wird der Philosoph zum Theosophen. Von der gläubigen
Menge trennt ihn nicht mehr viel; mag sie vor wunderlichen Götzen
knien, in wilden Orgien toben: er blickt verständnisinnig dieses Wesen
mit an und kann in höherem, reiferem Sinne sich daran beteiligen. Er
verehrt Gott im letzten Grunde auf andere Weise, er betet ihn am
Altar des Innern an, aber dem Volk rät er, am väterlichen Brauche,
der Ausdrucksform uralt-heiliger Offenbarung, festzuhalten. So bilden
die heidnische „Kirche" und die Gemeinde der Denker eine Einheit,
Glauben und Wissen gehen ineinander über.
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Extrahierte Personennamen: I._Geffcken Ernst Apollonios_von_Tyana
I. Geffcken, Der Eintritt des Christentums in die griechisch-römische Welt. 53
älterem Brauche heißt Augustus in der Provinz Asien der „Heiland
der Welt" und genießt bald göttliche Ehren. Und im richtigen Ver-
ständnisse seiner Zeit erneuert er alte Kulte, baut Tempel und schasst
Priestertümer; in richtiger Würdigung für den Glauben der Epoche an
das Walten der Vorsehung läßt er bei seiner Säkularfeier die prophe-
tische Sibylle von diesem neuen Zeitalter künstlich dunkeln Sang an-
stimmen.
Die Vorsehung hatte das Kaiserreich selbst geschaffen; die Provinzen
blieben, von seinem Schilde gedeckt, zufrieden mit dem Zustande, der
ihnen zwei Jahrhunderte des Friedens schenkte und namentlich im zweiten
Jahrhundert eine Art Nachblüte der griechischen Literatur ermöglichte,
während in Rom Kaiser und Senat oft genug einen erbitterten Klein-
krieg führten. Aber das Einzelgemüt bedurfte stets noch des religiösen
oder philosophischen Zuspruchs, mochte auch der Staat dem Menschen
nicht mehr allzuviel Sorge machen; das Herz der Menschen schrie nach
Erlösung. Und es fand sie. Niedriger organisierte Naturen stillten in
Weihung und Büßung das Verlangen ihrer Seele, höher Veranlagte
saßen zu den Füßen der Philosophen, die in eindringlichen Moral-
predigten die Frage ihrer Hörer, was sie tun sollten, beantworteten.
Nicht das Christentum hat zuerst in die dunkeln Verließe der Sklaven
sein helles, freundliches Licht gesandt, sondern die Predigt des Stoikers
erleichterte die Fesseln des Unfreien, dem der Trost gespendet ward,
daß er nach seiner Sinnesart doch ein Freier sein könnte, und das harte
Herz des im Auditorium lauschenden Herrn erzitterte, wenn Epiktet,
der große Prediger des ausgehenden ersten Jahrhunderts, er, der selbst
Sklavenketten getragen, den Würdenträger hart anfuhr: Du selbst bist
ein Sklave, elender als jeder andere; ein Diener bist du deiner Lüste,
ein Knecht kläglicher Vorurteile! Ja, der philosophische Prediger wird
ganz zum Priester in unserem Sinne: trifft den Senator das unver-
schuldete Todesurteil ans des Kaisers Hand, so bespricht er sich vor
seiner Vollstreckung mit dem philosophischen Seelsorger. Und wenn
nun den Philosophen selbst, einen Musonios, einen Seneca, einen Apol-
lonios der Zorn des Herrschers ereilt, so erinnert er sich des Sokrates
und seines Todesloses, tröstend ruft ihm der athenische Weise aus seinem
Kerker zu, daß die Feinde wohl ihn zu töten, aber nicht zu schädigen
vermöchten, und kredenzt ihm den Becher der Unsterblichkeit.
Denn der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele gewinnt gerade
in dieser Epoche, ans religiösen wie philosophischen Quellen fließend,
erneute Kraft. Die Seele, die ihren göttlichen Ursprung in ihrer
Sehnsucht nach Gotteserkenntnis bezeugt, sucht, von Begierden befleckt,
den Rückweg nach ihrer wahren Heimat; vom Leibe, dem Kerker befreit,
kehrt sie in ätherischer Gestalt dahin zurück, von wannen sie gekommen,
muß aber vorher noch mannigfache Stadien der Läuterung und Reim-
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58
Prosahest Vii.
Anschluß an die orthodoxeste Formulierung der reformierten Lehre war
mehr philosophischer als theologischer Natur, nicht die Wirkung des
Religionsunterrichtes, sondern die Frucht des Grübelns und der Lektüre
von Büchern, wie Bossnets „Wandlungen der reformierten Kirche". Dann
hatte der Prinz seinen Widerruf leisten müssen. Seitdem wußte er aus
eigener Erfahrung und vergaß es nicht, was Gewissenszwang heißt.
Dort in Küstrin sollte er nach des Königs Gebot des Sonntags
dreimal die Kirche besuchen. Außerdem schickte ihm der Vater die
Predigten, die er selbst gehört hatte, in Niederschriften zur Lektüre.
Die gezwungenen Andachtsübungen riefen die entgegengesetzte Wirkung
hervor. Bald nach der Rückkehr aus Küstrin ließ sich der Kronprinz
ein unvorsichtiges Wort entfahren, das bei dem Vater vieles wieder
hätte verderben können. Er äußerte im Gespräch mit einem Berliner
Geistlichen, man dürfe den Predigern nicht einen blinden Glauben
schenken, sondern jeder müsse seines eigenen Glaubens leben. Grumbkow,
der die Strenggläubigkeit stark betonte, machte ihn bei diesem Anlaß
auf seine fortdauernd sehr prekäre Lage aufmerksam, und Friedrich
antwortete (27. April 1732): „Ich werde Ihren Rat befolgen und es
mir gesagt sein lassen, daß es ziemlich tollkühn von mir war, über
Religion zu sprechen."
Wenn er nun jedes Wort genau abwägen mußte und wenn das
wenige, was er äußerte, meist auf einen bestimmten Zweck berechnet
war, so wird jede dieser Äußerungen, ehe man Schlüsse daraus ziehen
mag, der genauesten Prüfung bedürfen. Selbst in den anscheinend
vertraulichsten Briefen an Grumbkow glaubte der durch seine traurigen
Erfahrungen Gewitzigte mitunter Versteck spielen zu müssen. Von
heiligen Dingen spricht er bisweilen, gleichsam plötzlich, mit einer
Salbung, die Grumbkow kaum als ans dem Herzen kommend betrachtet
haben wird.
Das ist gewiß, daß sich Friedrich den Katholischen gegenüber sehr
lebhaft als Protestant und den Lutheranern gegenüber als Reformierter
fühlte. Wenn er in Küstrin in der Verzweiflung daran gedacht hat,
durch den Verzicht auf die Erbfolge und die Verheiratung mit einer
Erzherzogin sich die Freiheit zu erkaufen, so machte er die Beibehaltung
seines Glaubens unter allen Umstünden zur Bedingung. So wenig
wie von dem römischen wollte er -von einem lutherischen Papsttum
etwas wissen, uiib seine lutherische Braut hätte er gern zur reformierten
Lehre übertreten sehen. Aber mit den armen flüchtenden Lutheranern
aus dem Salzburgischen möchte er 1732 Hab und Gut bis aufs Hemd
teilen. Als er zwei Jahre darauf nach Heidelberg kommt, blutet ihm das
Herz, daß er die Stadt, „die vordem ganz zu unserer Religion gehörte",
mit Jesuitenseminaren und katholischen Klöstern übersät sieht; er hätte
nicht übel Lust, diese Verräter, welche Unschuldige verfolgen, gründlich
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Extrahierte Personennamen: Bossnets Grumbkow Friedrich Friedrich Grumbkow Friedrich Friedrich
R. Koser, Der Philosoph von Rheinsberg.
59
Zu brandschatzen. Dem Hanse Preußen aber hatte er in seiner frühesten
politischen Denkschrift gewünscht, daß seine Erhebung die protestantische
Religion im Reiche und in Europa blühen lassen möge: fallen soll dies
Hans, schneller denn es gestiegen, wenn je ungerechter Sinn und
religiöse Lauheit sein Teil werden.
Unverkennbar aber war dieser Protestantismus mehr ein politischer
als ein religiöser, ganz wie der in Küstrin von ihm bekannte Fatalismus
trotz seiner Berufung auf die Lehre von Dordrecht weniger dogmatischen
als spekulativen Ursprungs war. Wie ganz sein reformierter Stand-
punkt jede konfessionelle Färbung verlor, beweisen am besten die Worte,
welche er 1737 an den einzigen Berliner Geistlichen, dessen Predigten
Eindruck auf ihn machten, den greisen Beausobre richtete: „Man braucht
weder Luther noch Calvin, um Gott zu lieben."
Wer ihn des Atheismus zeihen wollte, den strafte Friedrich Lügen.
„Man kann fröhlich sein", schreibt er anläßlich solcher Beschuldigungen
schon im April 1732, „man kann die Freuden und das Vergnügen
lieben, aber nichtsdestoweniger muß man vor allem Gott geben, was
Gottes ist. Alles in allem würde ich glauben, selber am meisten be-
straft zu sein, wenn ich die Ansichten teilte, die man mir zuschreibt.
Gott sei Dank, alles ist falsch, und mein Gewissen wirft mir in dieser
Hinsicht nichts vor." Ein halbes Jahr später wurde er von neuem
als Gottesleugner verdächtigt: er sollte Spinoza gelesen haben. Er
beteuerte, diesen Philosophen nie in der Hand gehabt zu haben.
Das philosophische System, dem er sich zuerst anschloß, war viel-
mehr das cartesianische. Schon sein Lehrer Duhan scheint ihn in das-
selbe eingeführt zu haben. Weitere Förderung verdankte er dem alten
Bibliothekar La Croze in Berlin. La Croze, der aus seinem Kloster
geflohene Pariser Benediktiner,
des feistes Angesicht auf die Erkenntnis lenkt,
daß die Materie denkt,
hatte den Kronprinzen, der dieses Epigramm auf ihn gemacht, zunächst
durch sein erstaunliches Gedächtnis und durch seine unübertroffene Gabe,
interessante Geschichten zu erzählen, persönlich angezogen; Friedrich ent-
deckte in ihm „das Repertorium des gesamten gelehrten Deutschland,
ein wahres Magazin der Wissenschaften." La Croze kannte alle philo-
sophischen Systeme und schwor selbst auf den durch Cordemoy weiter-
gebildeten Cartesianismus. Aus Descartes entnahm sich nun Friedrich
die Beweisgründe für das Dasein Gottes.
Er hat seinen Beweis in einem Briefe vom 10. November 1735
seiner Schwester Wilhelmine entwickelt; er erklärte ihn ihr für un-
umstößlich. „Der Atheismus ist ein Dogma, dem man nur anhängen
kann, wenn das Gehirn in Verwirrung geraten ist; man muß auf das
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie]]
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Extrahierte Personennamen: Hans Friedrich_Lügen Friedrich Friedrich_ent- Friedrich Descartes Friedrich Friedrich Wilhelmine
Extrahierte Ortsnamen: Rheinsberg Europa Dordrecht Gottes Berlin Deutschland Gottes
R- Koser, Der Philosoph von Rheinsberg.
63
„Nächst Gott", schrieb er gleich im Anfange seiner neuen philo-
sophischen Studien, „dankt meine Seele Ihnen ihr Dasein." Seine
Seele ist ihm jetzt mit Wolfs das einfache und unteilbare Ding, das
Gott auf einmal und nicht durch wiederholte Handlungen geschaffen hat
und das nur Gott durch einen einheitlichen Akt seines Willens ver-
nichten kann, aber nicht vernichten wird. „Ich habe mich nie kleiner
gefühlt, als seitdem ich den Satz von dem einfachen Wesen gelesen habe."
Bereits am 18. April 1136 legte Friedrich in einem Briefe an
Manteuffel das folgende „Glaubensbekenntnis" ab: „Es genügt mir,
daß ich von der Unsterblichkeit meiner Seele überzeugt bin, daß ich an
Gott glaube und an den, welchen er gesandt hat, die Welt aufzuklären
und zu erlösen; daß ich mich tugendhaft zu machen bestrebe, soviel als
ich durch meine Kräfte wirken kann, daß ich die Dinge der Anbetung
verrichte, die das Geschöpf seinem Schöpfer schuldet, und die Pflichten
erfülle, die ich als guter Bürger gegen Meinesgleichen, die Menschen,
habe. Dann kann ich sicher sein, daß die Zukunft mir nicht verderblich
sein wird; nicht als ob ich glaubte, den Himmel durch meine guten
Werke zu verdienen, was widersinnig und der Gipfel der Lächerlichkeit
sein würde, sondern in meiner festen Überzeugung, daß Gott ein Geschöpf
nicht ewig unglücklich machen wird, das ihn mit aller der Erkenntlichkeit
liebt, welche die Wohltat, von Gott geschaffen zu sein, verdient, ein
Geschöpf voll Fehler und Sünden, deren Ursache aber in seinem
Temperament und nicht in seinem Herzen liegt."
Manteuffel nannte dies Bekenntnis „orthodox, obgleich in eigen-
artiger Form ausgesprochen." Gleichsam als wenn er die Grenzlinie
gegen den Bibelglauben hetzt um so schärfer ziehen zu müssen geglaubt
hätte, schrieb Friedrich wenige Tage später au den Bibelleser Grumbkow,
er würde in Verzweiflung sein, einen Vormittag bei der Lektüre des
Tobias, der Makkabäer oder der Apokalypse zuzubringen: „Ich erkenne
Gott durch das Licht der Vernunft; sein Gesetz ist in mein Herz ge-
schrieben; das Gesetz der Natur, das alleinig wahre, das einzige, welches
seine Reinheit bewahrt hat, und dies Gesetz ist es, das mich meine
Pflichten lehrt. Damit verbinde ich die christliche Moral, und das
genügt mir. Habe ich Kummer, den ich mir selbst zugezogen, so lerne
ich davon, um weiser zu werden; bin ich an meinem Kummer ohne
Schuld, so nehme ich ihn hin nach dem Willen des höchsten Wesens,
welches unsere Geschicke lenkt und diese Widerwärtigkeiten der Rolle,
die ich zu spielen habe, mit zugeteilt hat. Und was den Tod anbetrifft,
so fürchte ich ihn nicht; denn ich weiß, daß mein Schöpfer ein Geschöpf
nicht vernichten wird, welches ihn mit der Verehrung liebt und anbetet
wie ich. Es handelt sich nicht darum, in der heiligen Schrift zu lesen,
sondern es gilt, die Pflichten der erkenntlichen Kreatur gegen den
Schöpfer und des guten Mitbürgers gegen Seinesgleichen auszuüben:
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Extrahierte Personennamen: Wolfs Friedrich Friedrich Manteuffel Friedrich Friedrich Grumbkow
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Prosaheft Vis.
in einen Hanptsatz zeigt, der bei homerischen Gleichnissen so oft vorkommt.
Dieselbe epische Rnhe zeigt sich bei den so hänfigen Wiederholungen: wenn
bei Homer ein Bote eine Meldung zu bringen hat, so wird er den Auf-
trag gewiß, so laug dieser sein mag, mit allen Nebeumotiven in den-
selben Worten wiederholen. Auch dies ist ja nur ein Zeichen jener gött-
lichen Geduld, die durch die ganze epische Welt waltet, jener zwar immer
schaffenden und bildenden epischen Phantasie, die aber, eben weil sie
solchen Reichtum im Schoße trägt, ganz wie die gebärende Natur selbst
mit ihrem Erzeugen halb zurückhaltend zögert. Das Epos, sagt Herder
einmal, muß langweilig sein: dies ist in dem Sinne wahr, als es allen
dramatischen Drang, alle lyrische Erreglichkeit und Unruhe ausschließt.
Aber das dadurch mangelnde lebhaftere Interesse ersetzt es durch die
Sinnlichkeit, durch die Plastizität, durch das helle Licht und den ununter-
brochenen, greifbaren Umriß, womit es den anschauenden Sinn entzückt.
8. Komer.
E. Kroker, Geschichte der griechischen Literatur.
(Leipzig, Fr. Will). Grunow. 1895.)
Sieben Städte stritten um die Ehre, des blinden Sängers Homeros
Geburtsort zu sein, und die Angaben über seine Lebenszeit schwanken
um Jahrhunderte. Die wahrscheinlichste Überlieferung ist, daß Homer
im neunten vorchristlichen Jahrhundert in Smyrna gelebt hat. Die
Sprache seiner Gedichte ist ionisch, und die ionische Landschaft ist ihm
vertraut. Er singt von der Asischen Aue und dem Flusse Kaystros, der
seine Fluten bei Ephesos ins Meer ergießt, und von den Scharen von
Schwänen, die das Gefilde beleben; er kennt den Gygäischen See und
den unweit von Smyrna mündenden Hermos, dem der von Fischen
wimmelnde Hyllos zuströmt; er erwähnt auch das Tmolosgebirge, das
die Flußtäler des Kaystros und Hermos scheidet, und im nahen Sipylos-
gebirge das sagenumwobene Bild der Niobe. Diese Gegenden sind das
Hinterland von Smyrna, und in Smyrna selbst zeigte man später
noch die Grotte, in der Homer gedichtet haben sollte, und verehrte
ihn als Sohn des Flusses Meles, an dem die Stadt liegt, und der
Nymphe Kritheis in einem Heiligtnme, in dem unter Säulenhallen sein
Bild stand.
Die Sage nmwob das Andenken des Sängers. Daß aber Homer,
der Dichter der Ilias und der Odyssee, wirklich gelebt hatte, war
allen Griechen über jeden Zweifel erhaben. Die Entdeckung, daß der
unsterbliche Dichter eigentlich nur ein Sammler und zwar ein recht un-
geschickter und unbegabter Sammler älterer Heldenlieder gewesen wäre,
oder daß er wohl überhaupt gar nicht unter den Sterblichen gewandelt
hätte, blieb dem Skeptizismus des vorigen Jahrhunderts vorbehalten.
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