Die Mittelmeerländrr.
3jla§ Bcittelmeer war für die Alten die Thalatta, der Inbegriff
des Meeres und aller maritimen Interessen. Der Okeanos
verschwamm für sie im Dämmerlichte, und so blieb es wesentlich bis
1492, wo das dritte Zeitalter der Menschheit, nämlich nach dem
potamischen und thalassischen das oceanische begann. So erscheint
diese große Wasserellipse (2 Millionen □km) mit ihren beiden
Brennpunkten Athen und Rom seit der Zeit des Altertums hoch-
bedeutsam. Heutzutage hat sich dieser Ruhm etwas verflüchtigt; wir
können das Mittelmeer eigentlich nur als Durchgangsmeer betrachten,
seitdem der Kanal von Suez den Zugang zu dem Indischen und
Stillen Ocean mit ihren weitaus wichtigeren Handels- und Lebens-
interessen eröffnet hat. Das Mittelmeer zerfällt in eine Menge
einzelner Becken und Buchten mit sehr verschiedener Tiefe. Das
Adriameer ist wie unsere Ostsee stach, das Asowsche Meer (palus
Maeotis der Alten) sogar so seicht, daß tiefer gehende Seeschiffe es
gar nicht befahren können, und daß es in jedem Winter zufriert,
und auch sonst finden sich an den Meerengen unterseeische Land-
rücken, so daß z. B. über der von den Engländern Adventures ge-
nannten Bank zwischen Sicilien und Afrika <ca. 120 km breit) das
Meer nur etwa 60 m Tiefe hat und sich deshalb auch durch allerlei
Tücken auszeichnet. „Die Araber tauften das Kap Bon das ver-
räterische Kap, und die Griechen wagten es lange Zeit nicht, aus dem
östlichen in das westliche Becken des Mittelmeeres überzugehen." Sonst
hat das Mittelmeer aber auch sehr bedeutende Tiefen, so die fast
oceanischen Abgründe im Süden von Kreta <4000 m) und die ^eile
des Meeres südwestlich von Genua. Weil die Alten daran gewöhnt
waren, das Mittelmeer als ein abgeschlossen für sich bestehendes Ganze
zu betrachten, so entstand auch die Sage, daß der Timavus (jetzt
Timavo) in dem kalkigen Plateau in der Nähe von Trieft die n7]yr]
fraxätt)]g sei, der Quell des Meerwassers.
Das Mittelländische Meer ist allerdings darin eigentümlich, daß
bei seiner Lage in warmein, fast heißem Klima die Verdampfung
größer ist als der Zufluß von süßein Wasser. Daraus erklärt sich
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Extrahierte Ortsnamen: Athen Rom Suez Sicilien Afrika_
Fahrt durch den Apennin ist ermüdend; kahle Kalkselsenrücken um-
geben uns, und viele Tunnel müssen wir passieren. Aber das Herz
des Reisenden läßt keinen Unmut aufkommen, winkt ihm doch als
nächstes Reiseziel — Florenz.
Herz, ahnst du schon das himmlische Firenze,
Wie es sich hebt am gelben Arnostrome
mit seinen Tünnen, seinem Marmordome?
Die „Stadt der Renaissance" mit ihrer zweihundertjährigen Blüte-
zeit leuchtet ewig in dem Gedächtnis der Menschen, und wir haben
alle Veranlassung, uns eingehender mit Firenze zu beschäftigen. Wohl
der interessanteste Punkt in Florenz ist der Ponte Vecchio, eine Brücke,
die, über den Arno gespannt, mit den Läden der Goldschmiede bedeckt
ist. Sie verbindet zwei berühinte Paläste, die Ussizien und den Palast
Pitti. Beides sind jetzt weltberühmte Gebäude mit den herrlichsten
Sammlungen, der Pittipalast dient zugleich als Wohnplatz der könig-
lichen Familie, wenn sie zum Besuche erscheint.
Hier lernen wir recht würdigen, was wir oben über die besondere
Erschließung des italischen Volkes zum „Kunstsinn" vorausschickten.
Das „talentvollste Volk der Erde" erlebte in Florenz seine eigentliche
Blütezeit — die Renaissance.
Der ganze Renaissancestil ist hervorgegangen aus dem wieder
erwachten Studium der Antike und begann im 15. Jahrhundert zu
erwachen. Hauptsächlich findet er seinen Ausdruck in der Architektur,
und zunächst weniger bei Kirchenbauten als bei Schlössern und Palästen.
Das mittelalterliche Wohnhaus zeigte den burgähnlichen Charakter,
und dem tragen auch die ersten Palastbauten der Renaissance noch
Rechnung in der sogenannten Rustika des untersten Stockwerkes. Dann
aber wird über ihr die Fassade belebt und gegliedert durch Gäulen-
stellungen, rundbogige Fenster und ein ausladendes Gesims. Der
Palast Strozzi ist der sprechendste Beweis der neuen geistvollen Stil-
art, auch der Palast Pitti gehört zur Frührenaissance. Die An-
Wendung dieser eigenartigen Auffassung in der Architektur für die
Kirchenbauten fügte noch den Kuppelbau hinzu; das bewnndertste
Monument bleibt in dieser Beziehung die Peterskirche in Rom, deren
gewaltige Kuppel (150 111 hoch) sich über den Gräbern der Apostel
Petrus und Paulus wölbt. Neben der Architektur zeigte sich der er-
wachende Kunstsinn in den herrlichsten Skulpturarbeiten, und gerade
darin haben die Florentiner eine unverwüstliche Begabung gezeigt.
Der Heros dieser Zeit ist der unsterbliche Michel Angelo mit seiner
wunderbaren Kenntnis des anatomischen Körperbaues, der, wie das
vielfach bei den Koryphäen der Renaissancezeit zu Tage tritt, die viel-
seitigsten künstlerischen Talente in sich vereinigte und zugleich Maler,
Bildhauer, Architekt und Dichter war. In den Nischen der Usfizien
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Extrahierte Personennamen: Arno Apostel Michel_Angelo
Extrahierte Ortsnamen: Florenz Florenz Florenz Strozzi Rom
— 115 —
dinavien kann nicht besser charakterisiert werden als durch die schöne
einheimische Sage, daß nämlich, als Gott sein Schöpfungswerk
vollendet hatte, der Teufel herbeieilte und einen ungeheuren schwarzen
Felsblock in das Weltmeer warf. Gott sah erbarmend auf diesen
schauerlichen, ganz unfruchtbaren Erdenfleck hernieder und warf schnell,
was er noch in der Hand hielt von nährender Ackererde über den
Block hin; es reichte allerdings nicht mehr aus, und nur kümmerlich
bedeckte sich der kolossale Stein mit sprossendem Grün. Da segnete
Gott auch diese Erdenstelle, pflanzte den Bewohnern eine unauslösch-
liche Heimatsliebe ein und ließ das angrenzende Meer sich mit Fischen
füllen, die den Norwegern den Lebensunterhalt verschaffen sollten.1
Man hat weiter, um die vertikale Erhebung des Landes zu kenn-
zeichnen, ein hübsches Bild angewandt und will diese nördliche Halb-
insel mit einer von Osten heranbrausenden „Sturmwelle" vergleichen,
„die erstarrt ist, als sie im Begriff stand, sich zu brechen". Daraus
geht hervor, daß wir ein schieses, von Osten nach Westen empor-
gerichtetes Plateau haben, auf dem, wie Peschel sagt, die Kuppen
und Bergspitzen wie Felsblöcke in der Ebene aufliegen. Skan-
dinaviens Felsen sind also durchaus nicht, wie man das früher an-
nahm, ein ausgeprägter „Kiel" (Kjölen), sondern das größte un-
zerstückte Massengebirge ohne Ketten und Kamm. Einförmigkeit
ist der Charakter der norwegischen Plateauländer. Das Auge er-
müdet an der monotonen Fläche, kein zackig geformter Gipfel belebt
die öde Hochebene, und „selbst die Gletscher spreiten sich wie kalte
Leichentücher über Quadratmeilen ohne die mindeste sichtliche Ver-
änderung aus". Überall herrscht die Natur jenes seltsamen Ge-
misches vor, das die Skandinavier einen skog nennen. Die Grund-
fläche ist Fels, darüber ein Teppich von allerlei kleinem Pflanzen-
geftrüpp und zuletzt zu oberst Baumwald. Hieraus ergiebt sich auch
der hohe Wert des norwegischen Holzes; denn auf der felsigen Unter-
läge gelangen die Bäume nur zu langsamem Wachstum, die Jahres-
ringe sind eng, aber auch um so fester das ganze „Holzgewirke". —
In diese Felsenmasse krallt sich nun wie mit „Meeresfingern" die
oceanische Fläche ein, und so entstehen die Fjorde, jene engen, meilen-
weit sich hinziehenden Thäler, deren Sohle der Meeresboden ist und
die eingefaßt sind von senkrecht abstürzenden, himmelhohen Fels-
wänden. In diese Fjorde stürzen in oft gigantischen Wasserfällen
die Flüsse und Gebirgsbäche der Fjelder, und aus diesem Wasser-
reichtum und der treibenden Kraft der Fälle beruht der wirtschaftliche
und industrielle Charakter des Landes. Norwegen ist „das Paradies
der Wasserfälle"; durch sie ist es mit einem Element beschenkt, „dessen
nutzbare Kraft unerschöpflich ist und alle Dampfmaschinen überwiegt,
1 Nach Mügge.
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M njzlland.
|Lljjenn man — etwa von einem preußischen Landstädtchen aus —
"*** die russische Grenze überschreitet und an der Tamoschna (Zoll-
Haus) abgefertigt wird, so steht man dann in einem Lande, das, wie
Humboldt sagt, allein in seinem europäischen Umsang bedeutend
^größer ist als die Fläche der uns zugekehrten Mondscheibe. Es
erstreckt sich durch 25 Breitengrade vom 25. bis 70.0 nördl. Breite,
von der Südseite der Krim, wo ein ewiger Frühling herrscht und
die Weinstöcke im Winter unbedeckt bleiben, bis hinaus nach Kola,
wo im Winter die Sonne fast 2 Monate nicht ausgeht, oder von
den Filzzelten der Kalmücken und den Stanizen der Kosaken bis zu
den Tundren der Samojeden und Syrjänen. Desgleichen ist die
Ausdehnung des Landes in die Breite so ansehnlich, daß der Zeit-
unterschied zwischen der östlichsten und westlichsten Stelle bereits
3 Stunden beträgt, daß also für den Uralbewohner die Sonne
3 Stunden früher kulminiert als für den Wallfahrer in Tschenstochau.
Dies ungeheure Gebiet von 5l/2 Mill. □km ist nun durchweg Tief-
land und besitzt nur eine mittlere Bodenerhebung von 167 m. Es
finden sich ja einige Bodenanschwellungen, die aber selten eine Meeres-
höhe von 300 m überschreiten, und man wird sich durch die Bezeich-
nungen der Geographen nicht täuschen lassen, wenn sie von einer
Livländischen, Kasanschen und Krimischen Schweiz sprechen. Aus der
großen Tieflandstafel haben wir zehn Stromsysteme, die nicht nur
selbst bemerkenswerte Wasseradern sind, sondern auch durch ein so
reiches Kanalnetz miteinander in Verbindung stehen, daß Rußland
in dieser Beziehung nur etwa mit China zu vergleichen ist.1 „Selbst
die Nebengewässer der Nebenflüsse tragen im Sommer noch große
Dampser." Eine echt russische Eigentümlichkeit sind die Woloks,
schmale Isthmen zwischen zwei Flüssen, über die die Kähne geschleift
werden, und die an die nordamerikanischen portales erinnern. Am
interessantesten ist der kurze Wolok zwischen Tschussowaja, dem Neben-
sluß der Kama, also zum Wolgasystem gehörig, und den Wasser-
1 Uber die Wassewechältnisie in Nußland s. Teil I., S. 56—57.
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Extrahierte Personennamen: Humboldt
Extrahierte Ortsnamen: Tamoschna Tschenstochau China Tschussowaja Nußland
Frankreich.
an hat nachgewiesen, daß England und Frankreich in dem
geologischen Bau große Ähnlichkeit besitzen. Das Gebirge
der Bretagne findet in den Gebirgen des westlichen Englands, und
das nordfranzösische Becken im mesozoischen Tafellande Ostenglands
seinen gleichartigen Gegenpart. Diese Ebenen insbesondere haben in
ihrer sanftwelligen, hügeligen Beschaffenheit denselben Charakter, und
da zudem der canal la Manche nicht breit und nicht sonderlich tief
ist,1 so haben England und Frankreich über den Kanal weg die
mannigfachsten Berührungen gehabt. Die englisch-französischen
Successionskriege wiesen doch in ihren Ursachen auf Neigungen
und Überzeugungen von der Zusammengehörigkeit beider Länder hin;
als schließlich den Engländern in Calais der letzte festländische Besitz
verloren ging, soll das Marie der Blutigen, der Königin von Eng-
land, das Herz gebrochen haben, so daß sie äußerte, man werde nach
ihrem Tode in ihrem Herzen den Namen Calais geschrieben finden,
und selbst heute wohnen mit Vorliebe zahlreiche Englishmen in den
französischen Hafenstädten des Kanals, wie in Calais und Boulogne.
Neben diesen unleugbaren Analogieen finden sich aber doch sehr be-
deutsame Unterschiede zwischen den beiden Nachbarländern: England
ist ein Inselstaat, und Frankreich hat seinen Zusammenhang mit dem
Kontinente. An der engsten Stelle zwischen zwei belebten Meeren,
dem Atlantischen Ocean und dem Mittelmeere gelegen, erscheint es
als ein kompaktes Ganze, das vor Italien die Abrundung und vor
Deutschland die festere Begrenzung voraus hat. In seiner heutigen
Zusammensetzung hat es wohl 1000 km Längenausdehnung, und fast
ebensoviel beträgt seine Breite; es lehnt sich an zwei Hochgebirge,
die Alpen und Pyrenäen, und nur auf der Nordostseite ist seine
Grenze fließender. Als wichtigster Bestandteil hat sich seit uralten
Zeiten der Saum am Mittelmeer und das weit nach Norden hinein-
greifende Thal der Rhone und Saone erwiesen. Denn dadurch ist
1 Man kann mit einem Paar Stelzen von der Größe eines mäßigen Kirchturms
über den Kanal von einem Lande zum andern marschieren. Übrigens entbehrt auch
die engtische Pflanzen- und Tierwelt jeder Originalität.
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Extrahierte Ortsnamen: Frankreich England Frankreich Bretagne Englands Tafellande_Ostenglands England Frankreich Calais Boulogne England Frankreich Atlantischen_Ocean Italien Deutschland
— 5 —
geringer als in Jersey, wo die Insel fast zu einem einzigen Epheu-
knäuel zusammenwüchse, wenn man der wuchernden Pflanze nicht
wehrte. Prächtige alte Bäume sind zahlreich zu schauen, wie die
green dale oak (grüne Thaleiche) mit ihren Erinnerungen an Robin
Hood, den Volkshelden und Räuber des 13. Jahrhunderts. Im
Süden der Themse lag in der voroceanischen Periode Englands der
eigentliche Schwerpunkt der Landesgeschichte. Daraus erwuchs später
eine interessante politische Thatsache. Denn als in neuester Zeit
England die Wandlung zun: Industriestaat durchgemacht hatte, ergab
es sich, daß in den kleinen und kleinsten Flecken des Südens, den
rotten boroughs (eig. verfaulten Flecken), nur einer winzigen Zahl
von Einwohnern die Berechtigung zur Parlamentswahl gesichert war,
während die nördlichen großen Industriestädte, die erst in jüngster
Zeit emporgekommen waren, dieses Wahlrechts entbehrten.
Im großen und ganzen zerfällt England noch bis auf den heutigen
Tag in die westlicheren grazing counties und die östlicheren Com
counties lweidegebiet und Ackerbaufläche), und so hat die Viehzucht
in Britannien immer eine große Rolle gespielt, besonders da das
Vieh bei dem milden Klima im Winter aus der Weide bleiben kann.
Namentlich waren die Schafherden in älterer Zeit bedeutend, und
die Wolle bildete eine hauptsächliche Ausfuhrware. Sie deckte Vorzugs-
weise den Bedarf der großen Fabrikstädte in Flandern. Damals
spotteten wohl die deutschen Hansestädte, die das Handelsmonopol
rücksichtslos ausbeuteten, wir kaufen Von den Engländern den Fuchs-
balg für einen Groschen und verlausen ihnen den Fuchsschwanz für
einen Gulden. Der Stalhof in London war die bekannte Niederlage
der Hanseaten, wo die Tuchballen nach einem Muster geprüft wurden
und dann ihre Bleimarke erhielten. Dieser Vorzug Englands der
ansehnlichen Wollenerzeugung spricht sich auch in dem Verslein der
alten Geographen aus, die England 7 Dinge nachrühmen, nämlich
ai-x, pons, mons, fons? rex; ecclesia, femina — lana! Nun noch
ein Wort über ecclesia oder den Ruhm der Kirchen. Wirklich muß
England schon in früherer Zeit ein wohlhabendes Land gewesen sein,
und überall zeugen dasür in den Städten die prächtigen Kathedralen
im edelsten gotischen Baustil. St. Paul in London allerdings, das
für das vornehmste Gebäude in Großbritannien gilt, gehört einer
späteren Bauperiode an. Dann aber sind zu nennen die Dome in
Canterbury, das man in Kanzelberg hat verdeutschen wollen, Salis-
bury mit dem höchsten Turme in England, Oxford, das in Kirchen
und Profanbauten den gotischen Baustil zeigt, Exeter, Iarmouth und
Ely, wozu dann noch die Kathedrale in Jork tritt, die man als
eme der schönsten in ganz Europa bezeichnet,"und die prächtige gotische
Kirche in Schottland: Glasgow. Trotz aller dieser schönen Kirchen-
bauten und obgleich von Irland und England aus unserem Deutsch-
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Extrahierte Personennamen: Robin
Hood
Extrahierte Ortsnamen: Englands England Britannien Flandern London England England London Großbritannien Canterbury Kanzelberg England Oxford Exeter Iarmouth Europa Schottland Glasgow Irland England
9
dazu dienen soll, Sibirien in seiner ganzen Richtung von Ost nach
West zu erschließen und eine rasche Truppenvorschiebung bis an die
Küste des stillen Oceans zu ermöglichen, — das ist der Bau der
sogenannten sibirischen Eisenbahn, die in Wladiwostok am Japanischen
Meere und auch in Port Arthur am Golf von Petschili münden
wird. Hier sind ja schon langst die Vorarbeiten in Angriff genommen,
und Sträflinge schaffen im Schweiße ihres Angesichts an dieser eminent
civilisatorischen und zugleich strategisch wichtigen Bauarbeit. Hoffentlich
wird das Riesenwerk, das in seiner Kühnheit und in der kolossalen
Schwierigkeit der Herstellung wohl den Durchstichen der Suez- und
Panama-Landengen, den Tunnelbauten der Alpen und den gewaltigen
Eisenbrücken, die in Amerika und England über breite Meeresarme
führen, an die Seite gesetzt werden kann, langsam aber sicher seiner
Vollendung entgegengehen. Bereits werden Schnellzüge von Peters-
burg bis Tomsk, der sibirischen Universität, abgelassen. Sie fahren
ununterbrochen sechs Tage und sechs Nächte und sollen an Luxus
und Komfort noch die amerikanischen Expreßzüge überflügeln. Jen-
seits des Tom beginnt Urwald von Cedern oder Espen, und die
Ingenieure haben die Arbeit des Vermessens in dieser fürchterlichen
Gegend als eine Höllenqual geschildert. Man sinkt Schritt für Schritt
in dem Espendickicht in den Sumpf ein, und Myriaden von Insekten
verfolgen die kühnen Pioniere.
Wird die große sibirische Eisenbahn fertig, so umklammert das
eiserne Band der Schienen zuletzt unmittelbar das große chinesische
Weltreich, und wir müssen uns also weiterhin mit der Bedeutung
und Würdigung des Chinesenreiches beschäftigen.
Der größte jetzt lebende Sinologe, von Richthosen, gesteht ein,
daß China ein sehr wenig bekanntes Land sei und abschließende
Urteile sich kaum werden abgeben lassen. Dies gilt allerdings nur
für die eigentlichen Bewohner des Reiches der Mitte. Denn die
Chinesen besitzen einen regen Auswanderungstrieb — man hat sie
darum mit den Normannen des Mittelalters verglichen —, und die
Eigenart der chinesischen Kulis kann man in San Francisco, Australien
und in der ganzen Südsee genugsam studieren. Sie sind ja dort so
verbreitet, daß man bereits den stillen Ocean als chinesisches Meer
bezeichnen will. — Die Russen haben als Nachbargebiet zunächst die
Mandschurei mit Mulden, der ehemaligen Hauptstadt der Mandschu-
dynastie und jetzt der Totenstadt der Kaiser, in welcher jeder neue
Beherrscher die Annalen seines Vorgängers niederlegt. Dann beginnt
vom Busen von Petschili ab das eigentliche China mit seinem ganz
beispiellosen Volksgewimmel. Das Mündungsland der Flüsse Hoangho
und Jantsee —- letzterer der Gürtel Chinas und der eigentlich heilige
Strom der Chinesen —, also die Provinz Kiangsu, hat einen Flächen-
raum nur viermal so groß wie Pommern, und doch wohnen dort
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Extrahierte Personennamen: Arthur Petschili
Extrahierte Ortsnamen: Sibirien Wladiwostok Japanischen
Meere Amerika England Tomsk China San_Francisco Australien China Gürtel_Chinas Pommern
31
tige Meer doch ganz fremdartig berühren? Schon die Wasserfläche
dünkt uns ungeheuerlich; er nimmt ein Areal ein, das doppelt so
groß ist als der Atlantische Ocean, und bedeckt also ungefähr den
dritten Teil der Erdoberfläche. 1 2 Natürlich durchziehen auch ihn
gleich wie Flüsse gewaltige Strömungen, von denen die interessan-
testen die warme, dunkelblaue des Kuroschiwo ist, die die Wärme
des Sommers und das gemäßigte Klima des Winters in Japan
verursacht — also ähnlich wirkt wie unser Golfstrom —, und die
kalte Peru- oder Humboldtströmung an der Westküste Amerikas. Der
gewaltigen Ausdehnung entspricht die Tiefe des Oceans. Durch-
schnittlich ist er 3870 m tief, und bei den Kermandecinseln hat man
die größte Seetiefe der Welt gemessen, 9400 m, also mehr als die
Gaurisankarhöhe, so daß dieser Teil des Oceans das tiefste Depressions-
gebiet der ganzen Erdoberfläche darstellt. Uns Deutschen, die wir
an unsere flachen deutschen Meere gewöhnt sind, wo die Ostsee nur
300 m und die Nordsee gar nur 200 m tief ist,3 schwindelt bei
Wassermassen der Art fast der Blick. Dort trifft des Dichters Wort
Und unter mir lag's noch bergetief
In purpurner Finsternis
nicht mehr zu; eiskalt ruhen die Wasser in dem lichtarmen Raume,
der Druck des Wassers beträgt 1000 Atmosphären, und bei den
heruntergelassenen Thermometern zieht man die Messinghülsen zer-
quetscht wieder herauf.
Eine zweite Seltsamkeit weist der Pacific darin aus, daß er das
vulkanischste Gebiet der Erde umschließt. Namentlich an seinen
Rändern, also entlang dem ostasiatischen Jnselkranz und an der
westamerikanischen Küste, ziehen sich erstaunlich zahlreiche Vulkane
hin. An der westlichen Seite, die uns zunächst am meisten interessiert,
folgen auf die Vulkane der nördlichen Neuseelandinsel, um nur die
größeren hervorzuheben, die Eruptionskegel in Neuguinea und am
Bismarckarchipel, dann der schönste von allen, der Fusinoyama in
Japan, und endlich als letzter und mächtigster der Kliutschewsk in
Kamschatka.
Diese gewaltige Wassermasse ist nun erfüllt mit einer beispiellos
dichten Inselwelt. Das australische Festland selbst, — ein Mittel-
ding zwischen Kontinent und Insel, das in seiner Gliederlosigkeit
den afrikanischen Erdteil nachahmt, wobei man in Tasmanien Süd-
afrika und in dem Karpentaria- und Australgolf die Meerbusen der
Syrien und des Guineagolss erkennen will, — Neuguinea, die
1 In dem Meere (Meridian der Bebringstraße) liegt auch die Datumsscheide,
so daß der von 0 nach W segelnde Seefahrer hier einen Tag überspringt.
2 Größer als alles Land der Erde.
3 Im Durchschnitt ist sie 50 in tief.
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Extrahierte Ortsnamen: Atlantische_Ocean Japan Amerikas Nordsee Neuguinea Bismarckarchipel Japan Kamschatka Tasmanien_Süd-
afrika Karpentaria- Syrien Neuguinea
Gewürm verleihen dem Bilde ein farbenprächtiges Aussehen, und dem
Seefahrer will es scheinen, als schwebe er in der Luft und sehe herab
auf die wunderschönste Vegetation.
Der Erdteil selbst, an dem wir landen, tritt uns wie eine
Riesengestalt entgegen. Er erstreckt sich durch 125 Breitengrade und
hat seine Länder durch vier Zonen verteilt. Es ist, als N'enn er
den Ankömmlingen die Arme entgegenhält, ihnen sein freundliches
Antlitz zukehrt und in allem und jedem als der jüngere Bruder
Europas sich gebärden will, der völlig die europäische Civilisation
übernommen hat und mit uns wetteifert in den Kultursortschritten
der Menschheit. Die parallele Gegenüberstellung der beiden Ufer-
seiten des Atlantischen Oceans hat etwas Überraschendes. Gleichwie
die Jungfrau Europa alle ihre gewinnenden Reize nach Westen kehrt
und der Erdteil Afrika sozusagen den gewaltigen Sockel bildet, auf
dem sie sitzt, so ist Nordamerika die menschlich entgegenkommende
und fühlende Brusthälfte des Erdteils, und Südamerika fließt wie
eine gleichförmige Gewandung herab von der hehren Gestalt. Manches
deutet auch auf den früheren Landzusammenhang mit der alten Welt
über die Brücke der Behringsstraße, während erst „im Tertiärzeitalter
durch vulkanischen Aufwurf der Landenge von Panama" die Ver-
bindung mit Südamerika hergestellt ist. So treffen wir in Nord-
amerika aus alte Bekannte, wie den Wachholderstrauch und das Nenn-
tier und die vertrauten Gestalten der Kiefernarten, während Süd-
amerika uns viel fremdartiger berührt und als der eigentliche Tropen-
kontinent, als reichstes und fruchtbarstes Gelände und als „Treib-
haus" der Erde sich darstellt.
Dennoch betrachten wir Nord- und Südamerika zusammen als
eine Kontinentaleinheit, sie haben ja auch ihre gemeinsamen Sonder-
thpen, die für den ganzen Erdteil charakteristisch sind, so den Kolibri
und die Kakteen. Es erscheint nun bei dem jüngeren Bruder, wie
ich vorhin in Bezug auf die Civilisation Amerika Europa gegenüber
nannte, alles kolossalischer wie in Europa. Der Hauptvorzug Europas
in physikalisch-geographischer Beziehung ist, daß wir hier durchweg
auf eine reichere Individualisierung stoßen; so hat z. B. Deutsch-
land seine charakteristische Stufenbildung vom Tieflande her über
die Mittelgebirgslandschaften und Plateaus hin zur alpinen Hoch-
gebirgsnatur. Desgleichen erscheinen die Flüsse in viel reicherer
Gliederung, und nun gar die überall aufgelockerten,, Küstenränder
und eindringenden Binnenmeere geben Europa die Ähnlichkeit mit
einem riesigen Polypen, der nach allen Richtungen hin seine Fang-
arme ausstreckt, um die mannigfachsten Kultureindrücke aufzusaugen
und in sich zu verarbeiten. In Amerika dagegen fehlen zumeist die
Mittelstufen. Am ganzen Westrande des Erdteils haben wir das
kolossale Hochgebirge, das namentlich in Südamerika seine staunens-
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Extrahierte Ortsnamen: Europas Europa Afrika Nordamerika amerika Südamerika Europa Europas Europa Amerika Südamerika
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heutigen Bildes soll abgesehen von der Indolenz der Bewohner ver-
schuldet sein durch die unvernünftige Entwaldung, der auch noch
heute aller Vorschub geleistet wird, da die vorzugsweise gehegten
Ziegen keinen Waldwuchs aufkommen lassen. Sv teilt Griechenland
das Schicksal vieler alter Kulturstätten des östlichen Mittelmeerbeckens,
wo durch die Trägheit der Bewohner statt lachendster Gefilde Wüsten
und Steppen erscheinen; Antiochia und das Thal des Orontes,
Pierien und Saloniki machen gleichermaßen heute den Eindruck trost-
loser Verfallenheitt Störend sind auch die klimatischen Eigentüm-
lichkeiten; im Juli gehört Ostgriechenland zu den heißesten Gebieten
der Erde. Im Schatten zählt man bis zu 40 °, und der Dünensand
von Phaleron soll sich bis zu 71 0 erhitzen. Die Einheimischen
schlagen dann alle ihr Nachtlager im Freien auf, schon um der
dumpfen Luft und dem Ungeziefer der Häuser zu entgehen. Dagegen
wird wiederum die Winterkälte vermehrt durch die von keinem höheren
Gebirge abgewehrte Winterluft, die aus Rußland über das Schwarze
Meer hereinzieht.
Natürlich setzt sich diese Zerklüftung im Innern auch in der
nördlich von Griechenland gelagerten Balkanhalbinsel fort; aber gerade
diefes vielgestaltige Relief der Bodenformation bedingt die Auf-
geschlossenheit und leichtere Zugänglichkeit von Norden und Südosten
her und macht die Balkanhalbinsel zu dem hochwichtigen Übergangs-
land zwischen Europa und Vorderasien. Wie ganz anders erscheint sie
damit gegenüber der starren Einheitlichkeit der pyrenäischen Halb-
insel, die sich wenig zum Durchgangsgebiet nach Afrika hin geeignet
hat. Griechenland selbst mit seinem ausgelockerten Küstenrande unl
der wiederholten Einschnürung der ganzen Halbinsel hat entschieden
in seinem geographischen Typus Ähnlichkeit mit Großbritannien.
Und doch wieder ist eine einschneidende Gegensätzlichkeit bemerkbar;
für Griechenland ist in politischer Beziehung die Zersplitterung in
zahlreiche Kantone charakteristisch geblieben, und England hat in
seiner breiten ostwärts vorgelagerten Ebene mit ihrer Landwirtschaft
und zahlreichen g6n1ry den beherrschenden monarchischen Schwerpunkt
des ganzen Gebiets erhalten.
Wir haben bisher von geologischen und geographischen Gegen-
sätzen in Europa gesprochen und den Ausdruck „Modellkammer von
Erdgebilden" als berechtigt Nachweisen wollen; es erübrigt noch, aus
gewisse merkantile Besonderheiten der einzelnen Länder hinzudeuten,
durch die der zum Ausgleich dienende lebhafte Handelsverkehr her-
vorgerufen wird.
Was zunächst das in den Handel gebrachte Holz betrifft, so
steht Skandinavien obenan. Südeuropa mit seiner Mittelmeerflora
1 Der Kopaissee ist ausgetrocknet, Therinopylae ein breites Sumpfland.
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Extrahierte Personennamen: Südeuropa
Extrahierte Ortsnamen: Griechenland Antiochia Saloniki Griechenland Europa Vorderasien Afrika Griechenland Griechenland England Europa