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1. Neue Zeit - S. 25

1892 - Berlin : Weidmann
ß) Wissenschaft. 1508 Luther durch den Provinzial des Augustinerordens Joh. von Staupitz an die 1502 gegründete Universität Wittenberg berufen. Luther, geb. 10. November 1483 (1484?) in Eisleben, Grafschaft Mansfeld, war der Sohn des Bergmanns Hans Luther, der einer bäuerlichen, bei Möhra (ca. 14 km s. v. Eisenach) angesessenen Familie entstammend, nach Mansfeld gezogen war, wo er Bergmann wrurde und sich aus dürftigen Verhältnissen zum Ratmann der Stadt emporarbeitete. Seine Mutter war Margarete Lindemann. Fromm, aber streng und selbst hart erzogen, wurde L. 1497 auf die Schule zu Magdeburg, 1499 auf die zu Eisenach gebracht, wo er sich durch Betteln und Kurrendesingen erhielt, aber in bessere Verhältnisse kam, als er von der wohlhabenden Witwe Ursula Cotta ("f* 1512):) seiner schönen Stimme wegen in ihr Haus genommen wurde. Seit 1501 in Erfurt auf Wunsch seines Vaters, dessen Ehrgeiz den begabten Sohn einmal in der Stellung eines fürstlichen Bates zu sehen hoffte, Jura studierend, beschäftigte er sich zur Vorbereitung auf sein Fachstudium mit scholastischer Philosophie und Theologie sowie mit dem Studium der Klassiker, das in Erfurt bedeutende Vertreter hatte; auf der Universitätsbibliothek fand er zum ersten Male eine Bibel, während er bis dahin geglaubt, dafs aufser den Perikopen weitere Schriften des Urchristentums nicht vorhanden seien. — Baccalaureus 1502 und Magister 1505, trat er, ergriffen durch den Tod eines Freundes im Duell und durch einen ‘Schrecken vom Himmel’ (während eines Gewitters) 1505 in das Augustinerkloster zu Erfurt, um in der Heiligkeit des Mönchsstandes Ruhe seiner Seele zu finden. Doch gelang ihm dies erst durch den Hinweis eines älteren Mönches sowie des Ordens-Provinzials Joh. v. Staupitz2) auf die Lehre des Paulus von der Rechtfertigung durch die Gnade und durch das eigene Studium des Neuen Testaments. — In Wittenberg hielt er zuerst Vorlesungen über Aristotelische Philosophie, später über die Bibel, namentlich die Paulinischen Briefe, übte daneben aber auch als Schlofsprediger großen Einflufs aus. — Eine Reise nach Rom 1511 in Angelegenheiten des Ordens liefs ihn die sittliche Verderbnis der Kurie erkennen, ohne ihn jedoch von der Kirche abtrünnig zu machen; wohl aber führten ihn seine Studien auf einen Standpunkt, der in der Anschauung von Gnade, Rechtfertigung und Freiheit des Willens von der Kirchenlehre abwich. — Seine Kollegen an der Universität sowie sein Orden hingen später seiner Auffassung durchaus an. 1509—1517 Kampf der deutschen Humanisten gegen die Verkommenheit der Geistlichkeit. 1509 Beginn der sogenannten Reuchlinschen Fehde: Joh. Reuchlin, ______________der beste Kenner des Hebräischen, nimmt gegen den *) Ihr Haus noch jetzt erhalten. s) Joh. v. Staupitz, aus Meifsen gebürtig, trat 1518 noch für Luther ein, scheute aber den Kampf für die neue Lehre, legte 1519 sein Amt nieder und ging nach Salzburg, wo er als Hofprediger des Erzbischofs und Abt eines Klosters 1524 f.

2. Lesebuch aus Gustav Freytags Werken - S. 101

1901 - Berlin : Weidmann
Reformation und 16. Jahrhundert. 101 im Jahre 1530 Einfluß auf das Leben des Sohnes. Als sein Martin mit 22 Jahren heimlich in das Kloster gegangen war, zürnte der Alte heftig, er hatte damals schon daran gedacht, den Sohn durch gute Heirat zu versorgen. Und als es endlich Freunden gelang, den empörten Vater zur Versöhnung zu bringen, als er dem flehenden Sohne wieder gegenüber trat und dieser gestand, daß eine furchtbare Erscheinung ihn zum stillen Gelübde des Klosters getrieben hatte, warf ihm der Vater die bekümmerten Worte entgegen: „Gott gebe, daß es nicht ein Betrug und teuflisch Gespenst war." Und noch mehr erschütterte er das Herz des Mönches dnrch die zürnende Frage: „Du glaubtest einem Gebot Gottes zu gehorchen, als du in das Kloster gingst, hast du nicht auch gehört, daß man den Eltern gehorsam sein soll?" Tief stach dies Wort in den Sohn. Und als er viele Jahre darauf auf der Wartburg saß, aus der Kirche gestoßen, vom Kaiser geächtet, da schrieb er an seinen Vater die rührenden Worte: „Willst du mich noch aus der Möncherei reißen? Du bist noch mein Vater, und ich noch dein Sohn, aus deiner Seite steht göttliches Gebot und Gewalt, aus meiner Seite steht menschlicher Frevel. Und steh, damit du dich vor Gott nicht rühmst, ist er dir zuvorgekommen, er selbst hat mich herausgenommen." Von da ab war dem Alten, als wäre ihm sein Sohn wiedergeschenkt. Von solchem Vater bekam der Sohn für das Leben mit, was Gruudzug seines Wesens geblieben ist, die Wahrhaftigkeit, den beharrlichen Willen, treuherziges Verständnis und umsichtige Be-handlung der Menschen und Geschäfte. Rauh war sein Kinderleben, viel Herbes hat er in der lateinischen Schule und als Chorsänger erfahren, aber auch Wohlwollen und Liebe, und ihm blieb, was in den kleinen Kreisen des Lebens leichter bewahrt wird, ein Herz voll Glauben an die Güte menschlicher Natur und voll Ehrfurcht vor allem Großen dieser Erde. Aus der Universität Erfurt vermochte sein Vater ihn schon reichlicher zu unterstützen, er fühlte sich in Jugendkraft, war ein fröhlicher Kamerad bei Saitenspiel und Gesang. Von seinem innern Leben in jener Zeit wissen wir wenig, nur daß der Tod ihm nahe trat, und daß er bei einem Gewitter mit „erschrecklicher Erscheinung vom Himmel gerufen wurde". In Angst des Todes gelobte er in ein Kloster zu gehen, schnell und verstohlen führte er feinen Entschluß aus.

3. Lesebuch aus Gustav Freytags Werken - S. 42

1901 - Berlin : Weidmann
42 Die Zeit Karls des Großen. Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie. Dieser römische Lehr-kursus dauerte durch das gauze Mittelalter, nur die Musik erhielt neue Gesetze in nationaler Entfaltung. Außerdem wurde noch manches andere gelehrt, das aus unsern Schulen geschwunden ist. Die Schüler lernten durch schnelles Zusammenlegen und Beugen der Finger Buchstaben, Worte und Zahlen in Zeichen ausdrücken. Als Verstandesübungen waren Rechenaufgaben und Rätselfragen beliebt, welche noch heut unser Volk unterhalten 1). Streng war die Schulzucht, viele Streiche wurden ausgeteilt, bisweilen die Fehler aufsummiert und zusammen an schwerem Streichtage aus die Rücken gemessen. In St. Gallen zündete im Jahre 937 an solchem Strastage ein Schüler, um den Schlägen zu entgehen, die Schule an, die Flamme verbreitete sich und verzehrte einen Teil der Klostergebäude. Viele Mühe ward auf lateinische Verse verwandt; sie leicht und schön, wie der Zeitgeschmack war, zu verfertigen, galt für die rühmlichste weltliche Leistung des Gelehrten. Wie die letzten römischen Dichter unter Franken und Goten lateinische Lobgedichte aus ihre Gönner gemacht hatten, feierten jetzt auch fromme Mönche die Beschützer ihres Klosters durch Gedichte in Hexametern oder Distichen. Die Verse waren ein seines Mittel, sich Vornehmen zu empfehlen, von diesen Geschenke imd unter den Brüdern Ansehn zu erwerben. Zu den Pflichten der Benediktiner gehörte das Abschreiben alter Handschriften, und wir haben Ursache, mit innigem Dank aus diese emsige Thätigkeit zu blicken, denn ihr verdanken wir fast unsere gesamte Kunde des Altertums. In seiner Klosterzelle saß der Schönschreiber der Abtei, glättete und linierte sein Pergament, schrieb unermüdlich die Worte nach, die er nicht immer verstand. *) Schon um das Jahr 700 wurde in den Klosterschulen die Frage vorgelegt: Der Sohn eines Mannes freit eine Witwe, sein Vater ihre Tochter, wie sind die Kinder aus diesen Ehen mit einander verwandt? Oder: Wie führt ein Mann einen Wolf, eine Ziege, einen Kohlkopf über den Fluß, wenn er nur eines auf einmal überführen kann und verhüten will, daß unterdes eines das andere frißt? Dazu ein Drittes: Drei Männer wollen über einen Fluß, jeder mit seiner Schwester, der Kahn faßt nur zwei Personen, keine der Schwestern soll ohne den Schutz des Bruders unter den fremden Männern weilen.

4. Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte - S. 246

1904 - Berlin : Weidmann
246 Iv. 1840—1900. zu machen. Wenn das deutsche Volk aus der tiefen Not und Arm- seligkeit, in die es nach dem 30 jährigen Kriege versunken war, sich im 18. Jahrhundert emporgearbeitet und wenn es sich im 19. Jahr- hundert auf allen Gebieten der Kultur zu Leistungen erhoben hat, die den besten anderer Völker mit glücklicherer Vergangenheit all- mählich gleichkamen, so ist es auch im werktätigen Christentum nicht zurückgeblieben. Ein Vorspiel dieser Entwicklung gab schon vor den Freiheitskriegen die von I. A. Urlsperger in Basel 1790 ge- gründete Christcntumsgesellschaft, die sich einen christlichen Wandel nach gemeinsamer Lebensregel und die gemeinsame Förderung von Liebeswerken zum Ziel setzte. In Norddeutschland kam der Anstoß zu solcher Tätigkeit von den Freiheitskriegen, die nach den schweren Leiden der napoleonischen Zeit die Volksseele hier in ihren Tiefen aufregten. Ein tief religiöser Zug ging durch alle Volksschichten. Johannes Falk las nach der Schlacht bei Leipzig verwaiste mit) verlorene Kinder aus und brachte sie bei guten Menschen unter. Dann gründete er in Weimar den Lutherhof, das erste deutsche Rettungshaus für Kinder. Bald darauf, 1820, eröffnete Zeller, ein tatkräftiger Pietist nach der Art A. H. Franckes, mit Unter- stützung des Großherzogs von Baden das erste süddeutsche Rettungs- haus in Beuggen. Dies Vorbild rief eine ganze Reihe von ähnlichen Anstalten für verschiedene Zwecke hervor. Am Rhein war es der junge Gras Adalbert von der Recke-Vollmerstein, in dem zuerst der Gedanke, in christlichen Rettungshäusern verwahrloste Jugend zu retten, aufleuchtete und der ihn zuerst in der Gründung von Düssel- tal verwirklichte. Die Frauen-Vereine, welche während des Krieges zu so segens- voller Tätigkeit entstanden waren, blieben zum Teil auch nach dem Ende desselben bestehen und wandten ihre Pflege den Kranken, Armen und Wöchnerinnen zu. Durch sie wurde das weibliche Geschlecht auf dieses Feld der Liebestätigkeit geführt, ans dem es seine natürlichen Anlagen am schönsten entfalten sollte. Richt ohne Einfluß darauf war das Beispiel, das ans katholischer Seite die von dem Domkapitular v. Droste-Vischering mit Hülfe der Kon- vertitin Marie Alberti in Münster 1808 hervorgerufene Vereinigung der Barmherzigen Schwestern gab. Droste war einer von jenen aufgeklärten Bischöfen, die sich wie Bischof Sailer von Regensbnrg

5. Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte - S. 229

1904 - Berlin : Weidmann
Die Wohlfahrtspflege; das Armenwesen. 229 Alten und Geschwächten noch leichter Gelegenheit finden. Die Ar- beiterfrauen, meistens frühere Fabrikmädchen, verstehen nicht zu wirt- schaften und dem Mann das Heim traulich zu gestalten. Der Mann, als Junggesell an große Ausgaben gewöhnt, setzt sein Ver- eins- und Wirtshausleben fort. Furchtbar sind die Verheerungen, die der Alkoholismus jahraus jahrein in dem Arbeiterstande anrichtet. Dazu kommt die große Anzahl leichtsinniger, frühzeitiger Heiraten, bei denen die Ersparnisse des Mädchens meistens für Luxusmöbel und Tand daraufgehen, während der junge Mensch überhaupt nichts Erspartes in die Ehe bringt. Ehelicher Uitfriebe leitet meistens die Zeit der Not ein. Aber von jeher wurden auch Tausende, die ehrlich arbeiteten und sparsam wirtschafteten, durch Unglücksfälle, Krankheit und Arbeitslosigkeit ohne ihre Schuld in die Menge der Notleidenden hinuntergezogen. Früh schon anerkannte der Staat seine Verpflichtung zur Fürsorge für die Armen. Im Mittelalter hatte sich die Kirche ihrer kräftig angenommen; die Reformatoren hatten auch dies verfallene Werk auf gesundere Grundlagen gestellt und von der Wohltätigkeit verlangt, daß sie zur Arbeit erziehen solle. Aber im l 7. Jahrhundert wurde die Kirche unfähig, die alte Aufgabe zu erfüllen. Der Staat trat ein. Von Friedrich I. da- tiert in Preußen die gesetzliche Armenpflege. Er befahl bereits 3 696 größere Verbände zu bilden und unterschied zwischen Arbeits- fähigen, die Arbeit, teilweise Arbeitsfähigen, die Unterstützung, und ganz Unfähigen, die Wohnung und Unterhalt bekommen sollten. Diese Befehle wurden aber nur höchst mangelhaft ausgeführt. Das Bettlertum nahm zu, besonders infolge der drei schlesischen Kriege. Verbote fruchteten wenig; die Bauern wagten vielfach nicht den Bettlern Gaben zu verweigern, weil sie Grund genug zu der Furcht hatten, diese würden ihnen den roten Hahn aufs Dach setzen. Das preußische Landrecht verpflichtete die Gemeinden, für den Unterhalt der Unvermögenden zu sorgen, den Staat, der Nahrungslosigkeit und Verschwendung vorzubeugen, und sprach den Arbeitslosen das Recht zu, vom Staat in Arbeit gesetzt zu werden, ein schönes aber leeres Versprechen, so lange dies Recht nicht klagbar war. Dabei blieb es auch in dem preußischen Armengesetze vom 31/12. 1842, das die Grundlage des Reichsgesetzes vom 6/6. 1870 bildet. Da- nach hat der Arme nie einen rechtlichen Anspruch gegen den Armen-

6. Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte - S. 243

1904 - Berlin : Weidmann
Die freiwillige Krankenpflege int Kriege. 243 innig aller Kräfte, auch wohl infolge des vermehrten Reizes aller Genüsse die Zahl der Geisteskranken stetig zunimmt. Auffallender Weise ist ihr Prozentsatz bei den Juden fast doppelt so groß als bei den Christen. Sie leben wie kein anderer Teil des deutschen Volkes im Drang des geschäftlichen, städtischen Lebens. Die Zahl der Taubstummen betrug in Preußen 1880 : 27 794. Den größten Prozentsatz wiesen Ost- und Westpreußen, den geringsten Schleswig- Holstein auf, dessen Jrrenziffer aber die höchste ist. Nicht ohne Er- folg sucht man jetzt diese Unglücklichen mit Hülfe der deutschen lheinickeschen) Methode zu freier Tätigkeit im gewerblichen Leben und im Verkehr mit der Welt zu befähigen. Größere Erfolge er- zielte man in dieser Hinsicht mit den Blinden, deren es in Preußen 1889 22677 gab. Ihre Zahl war seit 1871 bei einer erheblichen Zunahme oer Bevölkerung (10,6°/o) ein wenig gesunken. Für die Blinden bestanden 1883 in Preußen im ganzen 15 Anstalten, in denen sie eine allgemeine und eine technische Ausbildung erhielten. Die öffentliche Krankenpflege hat der Staat, von den zu Universitätszwecken errichteten Kliniken abgesehen, den Gemeinden überlassen. Von besonderer Bedeutung ist die freiwillige Krankcn- pfiege im Kriege dadurch geworden, daß an sie die christliche Liebes- tätigkeit des 19. Jahrhunderts anknüpfen konnte. Im Frühjahr 1813 rief die Prinzessin Wilhelm, an Seelen- adel, Bildung und werktätiger Nächstenliebe fast der Königin Luise gleich, die Frauen zur Bildung des „Fraucn-Vcreins zum Wohlc des Volkes" auf. Dieser Verein entfaltete während der Kriegszeit eine großartige, umfassende Liebestätigkeit sowohl auf dem Schlachtfelde als in den Lazaretten und daheim; er suchte jegliche Not zu mildern und nahm sich auch der Invaliden, der Witwen und Waisen gefallener Krieger, der Kriegsgefangenen u. s. w. an. Mit 334 Zweigvereinen wirkend, verwandte er fast 7*/2 Mill. Tlr. (— 22 1/2 Null. M.), eine bei der damaligen Armut Preußens riesenhafte Summe freiwilliger Gaben. Wenn Preußen heute, wo der Wert des Geldes um das Vierfache gesunken, die Bevölkerung aber 7 mal so groß ist, in ähnlichem Falle 600 Mill. M. an frei- willigen Gaben aufbrächte, so würde die Leistung nicht größer sein. In den Kriegen von 1848—50 und 1864 bildeten sich zwar auch 16*

7. Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte - S. 247

1904 - Berlin : Weidmann
Die christliche Liebestätigkeit. 247 dem Gedanken evangelischer Freiheit weit näherten, und die einen geistlichen Nachwuchs erzogen, mit dem die evangelischen Geistlichen vielfach in ein freundnachbarliches Verhältnis treten konnten, das uns heute wie eine verklungene schöne Sage anniutet. So wollte Droste seine barmherzigen Schwestern auch durch kein Gelübde binden. Ordenscharakter erhielten sie erst, als der Einfluß des französischen, von Vincenz von Paulo gestifteten Nonnenordens, der filles de la charité, seit 1832 übermäßig in Deutschland eindrang. Alle diese Einflüsse erweckten fast gleichzeitig (1820) in dem evangelischen Pfarrer Klönne bei Wesel, in dem Freiherrn vom Stein und in der Hamburgerin Amalie Sievekina den Gedanken, auch auf protestantischer Seite weibliche Kräfte zu gemeinsamer christlicher Liebestätigkeit §it verbinden. Stein hoffte dadurch zu- gleich Jungfrauen der oberen und mittleren Stände, die sich nicht verheirateten, vor der Verbitterung zu bewahren, die der Mangel eines würdigen Lebenszweckes leicht erzeugt. Amalie Sieveking hat in ihrem Hamburg 1831, als dort die Cholera zu wüten begann, ein großartiges Beispiel unerschrockener Nächstenliebe gegeben. Sie gründete dann einen Verein für Armen- und Krankenpflege, der vortrefflich wirkte, und noch im Tode (1859) gab sie ein Beispiel ihres echt christlichen Sinnes. Sie bestimmte, man solle ihr ein Armenbegräbnis ohne jeden Schmuck mit flachem, vierkantigem Sarge ausrichten, um so dem Aberglauben der Armen, aus solcher armseligen Kiste gebe es keinen Weg zu Gottes Thron entgegenzu- wirken. Ihren und Steins Wunsch aber, auf evangelischer Seite ein Gegenstück zu den „Barmherzigen Schwestern" erstehen zu sehen, er- füllte, durch eine Schrift Klönnes angeregt, Theodor Flicdncr (geb. 21/1. 1800 zu Epstein im Taunus), ein Mann, in dem sich die tätigste, opfermutigste Nächsteuliebe mit seligem Gottvertrauen ver- band. Auf einer im Interesse seiner Gemeinde Kaiserwerth, deren Pfarrer er seit 1822 war, unternommenen Reise lernte er in Eng- land und Holland eine große Zahl wohltätiger Anstalten kennen und begründete zunächst 1826 die Rheinisch-Westfälische Gefängnis- gesellschaft, um die damaligen trostlosen Zustände in den Gefäng- nissen zu bessern. Lebten doch dort in dumpfen, engen Räumen die Verworfensten mit denen, die geringe Vergehen büßten, verhärtete,

8. Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte - S. 248

1904 - Berlin : Weidmann
248 Iv. 1840—1900. abgefeimte Verbrecher mit verführten Halberwachsenen, Weiber von schandbarer Vergangenheit mit noch unschuldigen jungen Mädchen in engster Berührung. Auf dieser Reise hatte er auch in holländischen Mennonitengemeinden eine nach altchristlichem Vorbilde eingerichtete Diakonissentätigkeit kennen gelernt, die von Frauen und Jungfrauen auch der angesehensten Familien nach der Bestimmung des Kirchen- vorstandes geübt wurde. 1833 brachte Fliedner den ersten Pflegling in seinem Gartenhause unter. 1836 kaufte er für 2300 Tlr., ohne die Mittel zu besitzen, aber in kühnem Gottvertrauen, wie einst A. H. Francke, ein Haus und gründete in Deutschland das evan- gelische Diakonisscnwcrk. Schon 1838 konnte die erste ausgebildete Diakonisse außerhalb des Mutterhauses angestellt werden. Damit trat in der evangelischen Liebestätigkeit ein ganz neues Element hervor: für sie wurden Jungfrauen, die Jahr für Jahr nichts anderes als ihr freier Wille zum Liebesdienst bestimmte, technisch erzogen und ausgebildet. Schon 1835 hatte Fliedner in Kaiserswerth eine Kleinkinder- schule errichtet, und nun schloß der unermüdliche Mann mit dem Samariterherzen und dem klare:: Blick für das Praktische immer weitere Gebiete leiblicher und seelischer Not in seine Fürsorge ein. 1844 gründete er für Zwecke der Diakonie sein Lehrerinnen- Seminar, in demselben Jahre zu Duisburg eine Pastoralgehülsen- anftalt, in der verwahrloste Knaben untergebracht und junge Männer zu Diakonen ausgebildet werden sollten, und 1854 in Berlin eine Mägdeherberge und -schule Marthashof. Hinzu kamen noch in Kaiserswerth eine Jrrenheilanstalt, ein Magdalenenstift, eine Diako- nissenvorschule, ein Mädchenwaisenhaus, ein Siechenwaisenhaus und außerhalb des Mutterhauses zahlreiche Anstalten für Krankenpflege und Erziehung. An der Spitze des Ganzen steht seit Fliedners Tode (4/10. 1864) der Vorstand des Rheinisch-Westfälischen Vereins für Bildung und Beschäftigung evangelischer Diakonissen. Die Lernzeit der „Schwestern" dauert gewöhnlich zwei Jahre. Von der Ein- segnung an gelten sie als Töchter des Mutterhauses und werden so gehalten. Sie verpflichten sich alle fünf Jahre von neuem zum Dienst, können jedoch auch außerhalb dieser Zeit auf dringende Gründe hin eine ehrenvolle Entlassung erhalten. Die Tochteranstalten bilden für alle Zweige der Diakonie die Schule und das Übungs-

9. Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte - S. 250

1904 - Berlin : Weidmann
250 Iv. 1840—1900. es in Deutschland im ganzen 44 evangelische Diakonissenhäuser. Diese versorgten auf den Stationen 685 Krankenhäuser, 237 Armen- und Siechenhäuser, 725 Kleinkinderschulen, 16 Rettungshäuser, 136 Industrieschulen, 15 Erziehungsanstalten für Töchter höherer Stände, 9 Kinderheilstätten, 35 Mägdeanstalten, 28 Anstalten für Blöde und Epileptische, 66 Magdalenenasyle, 7 Gefängnisse, 12 Er- holungshäuser, 7 Jrrenanstalteu, 12 Krüppelpflegehäuser und 51 sonstige Anstalten und unterhielten in 1509 Gemeinden je ein bis zwei Schwestern für häusliche Armen- und Krankenpflege. Seitdem hat der Umfang der Tätigkeit wieder bedeutend zugenommen und die Zahl der Schwestern ist von 9 714 auf 12 700 im Jahre 1900 gestiegen. Die Zahlen geben einen leuchtenden Beweis für die lebendige Liebeskraft in der evangelischen Kirche, zumal daneben noch eine Anzahl christlicher Rettungs- und Pflegeanstalten besteht, die sich mit eigenen Kräften versorgen. Dennoch ist die evangelische Kirche auf diesem Gebiete seit 1885 von der katholischen in Deutschland überholt. Während 1880 die Zahl der Diakonissen noch mehr als doppelt so groß war als die der Barmherzigen Schwestern, war das Verhältnis 1885 umgekehrt. Es gab damals 4187 Schwestern verschiedener Orden, die sich mit Kranken- und Armenpflege be- schäftigten, dazu kam noch die 1848 gestiftete Kongregation der armen Dienstmägde Christi, welche 1889 in 139 Niederlassungen an 1000 Schwestern umfaßte. Dem evangelischen Frauen-Verein eiferte auf katholischer Seite der Elisabeth-Verein nach. Dieser ganze Aufschwung hat seinen Ursprung im Kulturkampf, der die Lebens- geister der katholischen Kirche mächtig geweckt hat. Alle diese Organe haben deshalb auch etwas von der kämpfenden Kirche an sich. Wie Vincenz von Paulo, ein feuriger Glaubenseiferer, der Kirche in dem Orden der Barmherzigen Brüder (Lazaristen) und dem der Barm- herzigen Schwestern nicht bloß ein Organ ihrer Liebestätigkeit sondern zugleich ein Rüstzeug für die Gegenreformation schaffen wollte, so suchte auch jetzt wieder die katholische Kirche durch ihre Liebestätigkeit Propaganda zu machen. In der Diaspora war sie eine stille, aber in überwiegend katholischen Landen haben die Ärzte doch oft über Proselytenmacherei klagen müssen. Dadurch schränkte sich das Lob, das die Barmherzigen Schwestern sich durch ihre Selbst- losigkeit, ihre unermüdliche Tätigkeit und Geduld nicht minder als

10. Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte - S. 251

1904 - Berlin : Weidmann
Die christliche Liebestätigkeit. 251 die Diakonissen erwarben, wieder ein. In der Einbeziehung der verschiedensten Lebensgebiete in ihre Tätigkeit war das Diakonissen- wesen Vorbild für die katholischen Orden. Eine ganz neue Erscheinung auf dem Gebiete der evangelischen Liebestätigkeit trat in I. H. Wichern hervor. Am 30. Okt. 1833 eröffnete er in dem Rugehaus („Rauhes Hans") zu Horn bei Hamburg eine Rettllngsanstalt für verwahrloste Kinder. Das Haus hatte ihm der Syndikus Sieveking geschenkt, der mit seiner Frau, einer geborenen Reimarus, Enkelin des Wolfenbüttler Ungenannten, die Überlieferung des Lessing-Reimarusschen Kreises in christlich- pietistischem Geiste fortführte. Der im „Nathan" verkündete Grund- satz, daß die Entzückungen des Glaubens die tätige Nächstenliebe nicht ersetzen, durch die sich erst eine Religion als die echte erweise, wirkte fort. Wichern lenkte die Erziehungsweise verkommender Kinder in eine ganz neue Bahn: er suchte ihnen die Familie zu ersetzen und an die Stelle der Massenbehandlung der Kinder, die sonst in Rettungs- häusern üblich war, setzte er die familienhafte. Er gliederte die Gesamtheit der Kinder in Familien, an deren Spitze er je einen Hausvater setzte. Zu Hausvätern bildete er Laienhelfer („Brüder") heran. In jeder Familie wurden Knaben und Mädchen vereinigt. Trugen Hausordnung und Leben einen ausgeprägt christlichen Charakter, so pflegte doch Wichern einen heitern, fröhlichen Sinn unter ver Jugend. Der Erfolg war außerordentlich. Die Mädchen zu wirt- schaftlicher Tätigkeit, die Knaben zu einem Handwerk vorgebildet, bestanden durchweg im Kampf des Lebens die Probe. Wicherns Tätigkeit erstreckte sich bald weiter. Er wurde der Schöpfer der „Innern Mission" und das Rauhe Haus ihr Mittelpunkt, von dem Ströme des Lebens in das evangelische Volk ausgingen. Doch kann nicht verschwiegen werden, daß sich bei ihr wie auch sonst auf dem Gebiet der christlichen Liebestätigkeit nicht selten orthodoxe Engherzigkeit und geistlicher Hochmut hervortaten und der Sache schadeten. 1848 begründete er in Berlin den „Zentralausschuß für innere Mission". Obschon Wichern allen hierarchischen Bestrebungen fremd war, gegenüber einer Orthodoxie, die die Wissenschaft knechten möchte, nur auf lebendiges, in der Liebe tätiges Christentum Wert legte, und sich und sein Werk von jeder politischen Strömung, ja schon von dem Schein einer Vermischung des Politischen und Kirch-
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