179
Wenn der König starb vor der Vollendung, dann war die Aufgabe
für die Seinen nicht allzugroß, jene Stufen zur Pyramidalform auszu-
füllen, die äußere Bekleidung umzulegen. Oder die Pyramide konnte in
ihrer Stufenform bleiben, wie die große von Sakkara drüben, an der
wir sechs Absätze unterscheiden. Jedenfalls war das Grab gesichert.
Der Ban ist immer innen am besten, nach außen roher, eiliger.
Wir müssen nun herab, um ins Innere zu steigen. Man darf
nicht in allzuraschen Schwung kommen abwärts, denn schon Unterschied-
liche sind zu Tode gestürzt.
Der Eingang ist in der Mitte der Nordseite — die ganze Pyra-
mide nämlich ist vollkommen genau nach den Himmelsgegenden gerichtet —
und in einiger Höhe über dem Boden. Zwei paar ungeheure Blöcke
stemmen sich gegeneinander pyramidal, um die Last über dem Querblock
zu tragen, der den Eingang deckt.
Also folgen wir, möglichst eng zusammengefaltet und dennoch mit
dem Nucken an die Decke stoßend, dem vier Fuß hohen und kaum so
breiten Gang, der schief abwärts führt, fast bis zur Grundlinie des Baues.
Er endet in einen wahren Abgrund, wie es aussieht beim schwachen
Lichtschein, näyllich die Zerstörung, die von den Schatzgräbern der Kalifen
angerichtet wurde, als sie im weitern Vordringen durch Granitmassen
sich gehemmt fanden, um die sie herumbrechen mußten. Der Gang, den
wir herabkommen, setzt sich in gleicher Richtung durch den Felsen in jene
unterste Grabkammer fort, die sicherlich auch die älteste war. Lassen
wir den, und folgen wir dem andern, der im selben Winkel, aber auf-
wärts nach innen führt, gleich boshaft nieder und eben nur weit genug,
um den Sarkophag hindurchzuzwängen. Bis hierher, bis zur Vereinigung
des Gangs von unten und des Gangs von oben, mußte schon die älteste
Anlage reichen, und nur das zurückgelegte Stück könnte möglicherweise
späterer Ansatz sein. Also wir kriechen aufwärts zwischen glatlpolierten
Blöcken, haarfein gefügt, bis unser enger Gang plötzlich so hoch wird,
daß wir kaum die Decke noch sehen. Es ist die sogenannte große Galerie,
deren Wände in überrückenden Stufen nach oben allmählich zusammen-
treten. Wo sie anhebt, um unsern Gang in derselben Richtung nach
innen aufwärts fortzusetzen, geht der wagrechte Gang ab nach der soge-
nannten Königinkammer. Es war das Gemach-der Leichenfeier, genau
unter der senkrechten Achse der Pyramide. Lassen wir auch dieses und
folgen wir durch ein Vorgemach und unter granitner Fallthüre durch in
die hohe Königskammer.
Die Granitwände glänzen im Schein der vielen Lichter. Die Be-
duinen, die wir nun einmal nicht los werden, kauern alsbald im Kreis
und führen mit Gesang und Händeklatschen eine höllische Musik auf,
12*
TM Hauptwörter (50): [T7: [Erde Luft Sonne Wasser Himmel Berg Tag Licht Wolke Nacht], T9: [Tempel Stadt Kirche Säule Zeit Gebäude Bau Mauer Haus Dom]]
TM Hauptwörter (100): [T91: [Haus Fenster Wand Stein Dach Zimmer Holz Feuer Raum Decke], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite], T21: [Schnee Winter Wasser Sommer Berg Regen Luft Boden Land Erde], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T13: [Kirche Dom Zeit Bau Denkmal Kunst Tempel Bild Werk Stadt]]
TM Hauptwörter (200): [T0: [Kirche Haus Gebäude Stadt Straße Säule Platz Fenster Seite Palast], T12: [Wagen Wasser Stein Rad Fuß Maschine Pferd Bewegung Hand Schiff], T180: [Erde Punkt Sonne Kreis Linie Ort Horizont Richtung Aequator Zone], T6: [Berg Fuß Höhe Gipfel Gebirge Schnee Meer Fels Ebene See], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht]]
446
Sprechen von Anmut umlagerten Lippen. Der ganze Kopf aber war
zumeist etwas vorgebeugt, als ob es der zarten Gestalt schwer werde,
ihn zu tragen; oder wegen der Gewohnheit, ihr kurzsichtiges Auge ganz
dicht auf die Gegenstände zu senken. Zuweilen aber hob sich dieser Kopf,
um ganz aufrecht den zu fixieren, der vor ihr stand, und namentlich dann,
wenn sie eine humoristische Bemerkung oder einen Scherz machte; dann
hob sich lächelnd ihr Haupt, und wenn sie neckte, lag dabei auf ihrem
Gesichte etwas von einem vergnügten Selbstbewußtsein, von einem harm-
losen Übermut, der aus dem ganz außergewöhnlich großen, trotz seiner
Gutmütigkeit so scharf blickenden hellblauen Auge leuchtete."
Hier auf dem ländlichen Edelsitze erschwang sich die Muse Annettens
zur vollen Höhe und Reife. Diese Muse hatte einst in jungen Jahren
sehr kindlich begonnen: mit keinem geringern Gegenstand als mit der
Besingung eines Hähnchens. Die Dichterin erzählt es scherzhaft selbst
in einem spätern Liede, „Das erste Gedicht" überschrieben, das sich unter
den letzten Gaben findet. Sie hatte nämlich als Kind es besonders ge-
liebt, stundenlang das alte Gemäuer mit dem Zinnenbau zu umstreichen,
mit schauerndem Mut in unbesuchte geheimnisvolle Räume zu dringen
und auf Entdeckungen und Abenteuer auszugehen. Eines Tages nun
schlich sie den schwer verpönten Gang über die Wendelstiege des finstern
Turmes hinauf, die unterm Tritte bog, kletterte bis hoch zum Hahnen-
balken empor unter der Wetterfahne und verbarg dort unter des Daches
Sparren „ein heimlich Ding". Und dieses heimliche Ding, das Enkel
sollten finden, wenn einst der Turm zerbrach, das etwas sollte künden,
was ihr am Herzen lag:
Es war, ich irre nicht,
In Goldpapier geschlagen
Mein allererst Gedicht!
Mein Lied vom Hähnchen, was ich
So still gemacht, bei Seit'
Mich so geschämt, und das ich
Der Ewigkeit geweiht!
Bald wuchsen dieser kindlichen Muse die Schwingen und sie machte
sich an größere erzählende Gedichte. Das erste hieß „Walther", eine
romantische Ritter-Epopöe im Stil von Ernst Schulze's „Bezauberter Rose",
aber ungleich plastischer, frei von jeder Verschwommenheit und von voll-
kommen tadelloser Form. Was sie überhaupt von dichterischen Vorbildern
jener Zeit kennen lernte, hatte keinen dauernden Einstuß auf die Ent-
wicklung ihres Talents, da dieselben ihrem kernhaften Wesen zu fremd
waren und ihrem plastischen Trieb nicht zum Durchbruch verhelfen konnten.
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T7: [Erde Luft Sonne Wasser Himmel Berg Tag Licht Wolke Nacht], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
TM Hauptwörter (100): [T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T91: [Haus Fenster Wand Stein Dach Zimmer Holz Feuer Raum Decke], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
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26 I. Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik.
Wenn es außerdem in seinen Ausbreitungs- und Erhebungs-Verhält-
nissen der beschränkteste, am leichtesten überschauliche, am meisten gegliederte,
am meisten gangbare, belebte und bewegte, in seinen klimatischen der am
meisten gemäßigte und einheitliche; wenn es vermöge der durch alle diese
Eigenschaften geförderten Entwicklung seiner Völker der herrschende, geistig
gestaltende, fortbildende Erdteil, der Vorkämpfer der höheren Tendenzen
der Menschheit ist: so mußte natürlich die Mitte eines solchen, d. h. Deutsch-
land, eine ganz andere Bedeutung erhalten, als die Mitte jener kolossaleren
Erdteile, welche eine derartige Natur und Wirksamkeit nicht aufzuweisen
haben; es mußten die Bezüge zu dem vergleichungsweise mit letzteren klein
zu nennenden Ganzen und zu den übrigen einzelnen Teilen desselben be-
schleunigter, gedrängter, fester, gewissermaßen unvermeidlicher und not-
wendiger werden.
Auf diese Weise ist Deutschland in der That vermöge seiner centralen
Lage für den Zusammenhang dieses Ganzen unentbehrlich, ist, wie
für den Körper der Herzschlag, sein Lebenspunkt. Nur durch Deutsch-
land werden die übrigen Teile Europas zu einer wahrhaften Einheit
zusammengehalten. Sich anschließend an das mittlere sowohl der südlichen
wie nördlichen Glieder desselben, verknüpft es den Süden mit dem skan-
dinavischen Norden; und mit den entsprechenden Erhebungsformen ebenso
an dem gebirgigen West-Europa wie an dem flachen Ost-Europa an-
liegend und in sie übergehend, vermittelt es die Verbindung der gegliederten
und gebirgigen atlantischen Länder im Westen mit den einförmigen und
weiten sarmatischen Ebenen im Osten. Ringsum in Europa befindet sich
kein Land und keines der angrenzenden Meere, mit welchem Deutschland
nicht verwachsen oder mittelbar in leichte Berührung zu bringen ist.
Rings um dasselbe wie um ihren Mittelpunkt gruppieren sich Rußland
mit Polen, Skandinavien, Großbritannien, die Niederlande (Holland und
Belgien), Frankreich, die Schweiz, Italien, die Türkei, Ungarn, Galizien und
stehen mit ihm in unmittelbarer oder durch die vorhin genannten Gewässer,
die ihm einen kurzen und leichten Weg nach Süd-, Nord- und Nordwest-
Europa eröffnen, in naher, mittelbarer Verbindung.
Alle diese Länder, obwohl Teile eines größern Landorganismus,
des Kontinents Europa, haben doch auch wieder jedes im Vergleiche zu
den übrigen durch Lage, Begrenzung, innere Gestaltung und durch Be-
völkerung ein eigentümliches Gepräge und stellen in gewissem Grade
kleinere Individuen auf der Oberfläche jenes größern Ganzen dar. Dem-
nach kommen von allen Seiten her mit dem in der Mitte gelegenen
Deutschland eine Zahl Länder-Individuen in Berührung, und es ist
undenkbar, daß sie nicht, jedes in seiner Weise, sowohl auf dasselbe
in höherem oder niedrigerem Grade Einstuß geübt als auch von daher
TM Hauptwörter (50): [T49: [Land Klima Europa Meer Lage Asien Winter Insel Afrika Zone]]
TM Hauptwörter (100): [T50: [Klima Land Meer Gebirge Europa Zone Norden Küste Süden Winter], T3: [Lage Karte Land Europa Geographie Klima Größe Verhältnis Grenze Gliederung], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T61: [Mill Staat Deutschland Reich Europa deutsch Million Land England Einwohner], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
TM Hauptwörter (200): [T193: [Meer Halbinsel Gebirge Norden Süden Osten Westen Küste Insel Europa], T109: [Europa Asien Afrika Amerika Australien Insel Erdteil Land Zone Klima], T176: [Frankreich England Rußland Deutschland Preußen Krieg Italien Spanien Schweden Holland], T183: [Kind Lehrer Schüler Unterricht Schule Frage Stoff Aufgabe Zeit Geschichte], T127: [Volk Sprache Land Zeit Sitte Kultur Bildung Geschichte Bewohner Stamm]]
Extrahierte Ortsnamen: Deutschland Europas West-Europa Ost-Europa Europa Deutschland Skandinavien Niederlande Holland Belgien Frankreich Italien Ungarn Galizien Nordwest-
Europa Europa Deutschland
6. Wesen der Romanze und der Ballade.
297
Stoff ruhig, plastisch, hell und durchsichtig dar; dabei zeigt sie die dem
Volke eigene gemessene Breite, eine gewisse Umständlichkeit in der Aus-
führung, die sich bei jedoch gleichmäßig fortschreitender Erzählung oft auch
auf kleine Momente erstreckt.
Dieser epischen Behandlung unterliegt nun ein Stoff, der die charak-
teristischen Eigenschaften des Spaniers, vorzugsweise des Kastiliers, auf
das treueste wiederspiegelt. Diese sind aber hochfliegender Nationalstolz,
tiefe Frömmigkeit, ritterliches Ehrgefühl und heißblütige Phantasie. Eben-
dieselben Eigenschaften durchziehen den ganzen Stoff der Romanze. Der-
selbe zeigt uns ein national begeistertes Volk im Kampfe gegen einen
Feind, den es um so tapferer angreift, als es, durchdrungen von der
Wahrheit seiner Religion und derselben in frommem Glauben auf das
innigste ergeben, in dem politischen Feinde auch einen religiösen Gegner
bekämpft; derselbe zeigt uns Helden, die bei christlicher Frömmigkeit und
oft demutsvoller Bescheidenheit dennoch, entflammt von Gedanken des
Idealen und Romantischen, in ritterlichstem Streben nur das hohe Ziel
der vollen Freiheit des Vaterlandes und der Niederwerfung des Islams
kennen. So faßt das dichtende Volk die Begebenheiten mehr von einem
idealen Standpunkte auf und läßt daher, um die idealen Beweggründe
des Handelns der ritterlichen Helden deutlich erkennen zu lassen, auch die
Tendenz, die Idee derselben mit Hilfe der Reflexion hervortreten.
Ein solcher Stoff hat nichts Schauerliches, nichts Grauenhaftes, er
ist vielmehr, wenn auch nicht oft heiter, sondern meistens ernst, fast stets
durchzogen von einer gewissen Milde, die uns angenehm berührt und uns
selbst mit furchtbaren, grausigen Kämpfen zu versöhnen versteht. Daher
erscheint uns auch der Cid vom Volke gefeiert, wenngleich in Widerstreit
mit der Geschichte, als das Ideal eines christlichen Helden, den jede ritter-
liche Tugend, Tapferkeit, Freiheitsliebe, Frömmigkeit, Demut, Hochherzig-
keit u. s. w., auf das glänzendste ziert.
Der lebhaften Phantasie des spanischen Volkes endlich entsprechend,
liebt die Romanze in vollem Einklänge mit dem sonnigen, farbenprächtigen
Laude, auf dessen Boden sie blühte, lichtvolle Schilderungen, glän-
zende Einzelheiten, stimmungsreiche und schwungvolle Diktion.
Der epischen Ebenmäßigkeit, der ruhigen Entwicklung der Er-
zählung angemessen, ist die Romanze ursprünglich stets in Versen mit fallen-
dem Rhythmus geschrieben, und zwar so, daß der vierfüßig trochäische Vers
der Nationalvers des spanischen Volkes genannt werden kann. Bei dem
großen Reichtume, den die spanische Sprache au voll tönenden Vokalen
besitzt, sind die Verse stets durch Assonanz, oft auch durch Reim ver-
bunden. Diese Form, die sogenannten Redondilien (Redondillas), weisen
schon die ältesten Romanzen auf. Bald jedoch führte mau, wie auch die
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland]]
TM Hauptwörter (100): [T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T52: [Mensch Leben Volk Gott Geist Zeit Religion Mann Glaube Herz], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
TM Hauptwörter (200): [T136: [Leben Mensch Geist Natur Zeit Volk Welt Kunst Sinn Wesen], T173: [Sprache Wort Name Schrift Zeit Buch Form Kunst Art Werk], T166: [Mann Volk Sitte Zeit Geist Tapferkeit Wesen Leben Sinn Charakter]]
454 Ii. Lehrende Prosa: Philosophische Propädeutik, Pädagogik und Ethik.
ohne feindlich zusammenzustoßen; hier liegen für alle gemeinsame Ziele,
und es ist doch zugleich in ihrer Auffassung und Verfolgung jeder Eigen-
tümlichkeit, der Völker wie der Individuen, der freieste Spielraum ge-
lassen. Je lebendiger ein Volk von dem Werte der Bildung durchdrungen
ist, je höher es die geistigen und sittlichen Interessen stellt, je ernster,
hingebender und selbstloser es sie verfolgt, um so harmonischer wird sich
sein nationales Leben dem der Menschheit einfügen, um so vollständiger
wird in demselben der Gegensatz der Nationalität und der Humanität
gelöst sein.
Unter allen neueren Völkern ist nun wohl keines, dem die Erfüllung
dieser Forderung durch seine natürliche Begabung wie durch seine bis-
herige Entwicklung in höherem Maße erleichtert würde, als dem unsern.
In der deutschen Art lag es ja von jeher, sich mehr nach innen als
nach außen zu wenden, sich mit den sittlichen, religiösen, philosophischen
Fragen lebhafter und anhaltender zu beschäftigen, als mit den Dingen,
welche den meisten für die Macht und den Wohlstand der Völker die
wichtigsten zu sein scheinen. Das deutsche Volk hat sich diesem Zuge
seiner Natur Jahrhunderte lang einseitig überlassen, und es hat deshalb
die Erfolge, die es im Gebiete des geistigen Lebens errang, mit langer
Vernachlässigung und schwerer Schädigung seiner materiellen Interessen
erkauft. Als andere Völker sich zu starken Nationalstaaten zusammen-
faßten, ging von Deutschland der epochemachende Anstoß zur Befreiung
und Umgestaltung des religiösen Bewußtseins aus; aber seiner politischen
Einheit wurden durch den Streit der Konfessionen unheilbare Wunden
geschlagen. Als unsere Nachbarn jenseits der Vogesen ihr Staatswesen
unter krampfhaften Zuckungen ernenebten, feierten wir das goldene Zeit-
alter unserer Poesie und unserer Philosophie; aber unser Vaterland lag
blutend und zerrissen zu den Füßen des fremden Eroberers. Während
andere durch Handel und Industrie zu hohem Wohlstände gelangten, blieb
Deutschland in seiner wirtschaftlichen Entwicklung um ebensoviel zurück, als
es in der Wissenschaft und Litteratur seinen Nebenbuhlern vorauseilte.
Wenn Engländer und Franzosen in stolzem Nationalgefühl andere Völker
nicht selten verletzten und hochmütig auf sie herabsahen, waren die Deut-
schen zwar immer geneigt, das Fremde anzuerkennen und sich anzueignen,
aber sie ließen sich auch nur zu oft verleiten, das Einheimische zu ver-
achten und zu verleugnen, der nationalen Selbstüberhebung Selbstweg-
werfung entgegenzubringen. In unsern Tagen hat sich dieses geändert;
das heutige Deutschland darf sich in seinem wirtschaftlichen wie in seinem
politischen Leben, in seinen kriegerischen so gut wie in seinen wissenschaft-
lichen Leistungen jedem andern in freudigem Selbstgefühle zur Seite
stellen; es war unserem glücklichen Geschlechte beschieden, die Höhe zu
TM Hauptwörter (50): [T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland]]
TM Hauptwörter (100): [T43: [Zeit Volk Jahrhundert Geschichte Reich Staat Leben Kultur Deutschland Mittelalter], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T98: [Volk Land König Krieg Zeit Feind Mann Macht Freiheit Kaiser], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
TM Hauptwörter (200): [T54: [Staat Zeit Volk Deutschland Leben Reich Jahrhundert Macht Entwicklung Gebiet], T136: [Leben Mensch Geist Natur Zeit Volk Welt Kunst Sinn Wesen], T166: [Mann Volk Sitte Zeit Geist Tapferkeit Wesen Leben Sinn Charakter], T173: [Sprache Wort Name Schrift Zeit Buch Form Kunst Art Werk]]
Extrahierte Ortsnamen: Deutschland Deutschland Deutschland
198
Siebte Periode oder zweite Blüteperiode, von 1748 ab.
Iphigenie erscheint als das Ideal nicht einer heidnischen, sondern einer
mit wahrhaft christlichen Tugenden geschmückten Jungfrau.
Der reine Adel ihrer hoheitsvollen Seele, die mit den sonst
nur auf christlichem Boden gedeihenden Tugenden der Selbstverleugnung,
der Opferwilligkeit, der Dankbarkeit, der Wahrheitsliebe und der jung-
fräulichen Reinheit geziert ist, verscheucht nicht allein die um des Bruders
Seele lagernden finstern Geister und sühnt den alten Fluch des Tanta-
lidenhauses, er macht sogar den Feind zum Freunde. Zeigt so das
Stück in seiner Titelheldin einen von christlicher Kultur und Gesittung
durchhauchten Charakter, so ist der Aufbau desselben von antiker Ein-
fachheit, indem Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung auf das
strengste gewahrt sind, und eine völlig klassische Ruhe bei ebenso anmutigem
als erhabenem Stile über das Ganze ausgebreitet ist. Daher ist die
„Iphigenie", in welcher hellenische Schönheit und germanische
Gemüts tiefe harmonisch verschmolzen sind, mehr und mehr als ein
wunderhelles Seelengemälde, als eine der edelsten und schönsten
Schöpfungen des Goetheschen Genius anerkannt worden und gilt mit Recht
als ein unsterbliches Meisterwerk der deutschen Literatur.
Gleich der „Iphigenie" bedurfte auch „Torquato Tasto" \ Schauspiel
in fünf Aufzügen, ursprünglich in Prosa geschrieben, langer Zeit, ehe es
1789 zu glänzender Vollendung gelangte. Noch im Jahre 1787,
nach der Vollendung der „Iphigenie", schrieb Goethe aus Rom: „Täte
ich nicht besser, eine ,Iphigenie in Delphi' zu schreiben, als mich mit den
Grillen des Tasso herumzuschlagen? Und doch habe ich auch dahinein
schon zu viel von meinem Eigenen gelegt, als daß ich es fruchtlos auf-
geben sollte." Und in der Tat sind in keinem Drama so viele Bezüge
zu Goethes Person und Stellung zu finden als in „Tasso". Hatte
doch auch Goethe in Weimar das Mißverhältnis zwischen Talent und
Leben, den inneren Zwiespalt des Dichters und des Welt- und Hofmannes
hinreichend an sich selbst in Erfahrung gebracht. Daher liegt der Angel-
punkt des Stückes in dem Verhältnis Tastos zu Antonio, des Dichters
zum Staatsmann, des Mannes der Phantasie, der Illusion, des
Idealismus zu dem Vertreter der Nüchternheit, der Wirklichkeit, des
Realismus; denn in diese beiden Personen, in Dichter und Minister,
hat Goethe seine Person zerteilt, damit so zwei Männer entständen, „die
darum Feinde sind, weil die Natur nicht einen Mann aus ihnen formte".
Auch die Zeichnung des Hofes zu Ferrara bietet eine offenbare Parallele
zu dem von Weimar, und läßt sich unschwer in dem Herzog Alfons von
' Vgl. Teil Iii, S. 176: „Goethes Torquato Tasso" von Rosenkranz
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie]]
TM Hauptwörter (100): [T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T71: [Mann Volk Leben Sitte Zeit Vater Liebe Frau König Jugend], T43: [Zeit Volk Jahrhundert Geschichte Reich Staat Leben Kultur Deutschland Mittelalter], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
TM Hauptwörter (200): [T136: [Leben Mensch Geist Natur Zeit Volk Welt Kunst Sinn Wesen], T172: [Dichter Zeit Gedicht Schiller Werk Goethe Maler Dichtung Lied Hans], T166: [Mann Volk Sitte Zeit Geist Tapferkeit Wesen Leben Sinn Charakter], T183: [Kind Lehrer Schüler Unterricht Schule Frage Stoff Aufgabe Zeit Geschichte]]
Extrahierte Personennamen: Goethe Goethe Antonio Goethe Alfons
§ 38. Schillers Werke. — Die lyrischen und epischen Dichtungen. 213
zugleich aber auch seine sittliche Tapferkeit, indem er die Liebe zu einer
Dame, die ihm gegenüber nur ein leichtfertiges Spiel ihrer Eitelkeit
getrieben hat, aus seinem Herzen reißt. „Ritter Toggenburg"
offenbart uns die Allgewalt der Liebe, die selbst im schwersten Leid ver-
nichteter Hoffnung doch noch in der Nähe der geliebten Person das
einzige Lebensglück findet. „Der Gang nach dem Eisenhammer"
besingt die Diensttreue und Frömmigkeit, die unbewußt alle Arglist und
Tücke zu Schanden macht („Gott selbst im Himmel hat gerichtet"), und
verkündet zugleich die Lehre, daß das Böse selbst sich vernichtet, und daß
im Leben nichts zufällig ist.
In den ideal gehaltenen Stoff versenkt der Dichter in seiner hohen
und edeln Empfindungsweise sich ganz hinein, so daß Frau von Staöl
nicht mit Unrecht über ihn rühmt: „La conscience est sa muse.“ „Das
oft dünne, durchsichtige Gewebe der objektiven Darstellung wird dicht durch
die goldenen Fäden, die der Sänger aus seiner eigenen Seele spinnend
in dasselbe einträgt." Es ist, als wenn der Dichter unter fremder Maske
sein eigenes ideales Denken und Empfinden, sein sittlich gestimmtes
und geweihtes Gemüt ausspräche.
Diese etwas lyrische Behandlung des an sich epischen Stoffes bringt
eine wohltuende, leben sw arme und ergreifende Darstellung hervor,
die noch anziehender erscheint durch die dramatische Handlung, wie
sie vorzugsweise „Der Taucher", „Der Handschuh", „Der Graf von
Habsburg" und „Die Kraniche des Jbykus" bekunden. Die Handlung
wird noch mehr belebt durch den Dialog, den mehr oder weniger jede
Romanze zeigt. Ebensosehr benutzt der Dichter zur Hebung des Ganzen
glanzvolle Schilderungen, wie die unübertreffliche Zeichnung des Meeres-
strudels im „Taucher", des Theaters in den „Kranichen des Jbykus",
der Bestien im „Handschuh" und im „Kampf mit dem Drachen".
Nicht minder werden Szenerie und Staffage farbenreich ausgeführt und
mit aller Klarheit geschildert. Alle diese einzelnen Zeichnungen verletzen
jedoch die szenische Einheit nicht, sie bilden vielmehr einen Bestandteil der
Handlung selbst.
Mit dieser dramatischen Gestaltung des Stoffes, der glanz-
vollen Schilderung verbindet sich der erhabene Schwung der
Sprache. Dieselbe ist, wenn auch dem Tone nach im einzelnen ver-
schieden, allgemein, ideal und klangvoll, in starken wie in milden
Tönen gleich reich. Sie ist belebt durch veranschaulichende Bilder-
pracht, sowie durch einen Reichtum schlagender Antithesen, durch
besondere Steigerungsformen und durch Alliterationen, die
meistens Tonmalerei bezwecken.
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
TM Hauptwörter (100): [T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T52: [Mensch Leben Volk Gott Geist Zeit Religion Mann Glaube Herz], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
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