90
die Unterstützung des Aufstands auf Kreta., wo die christ-
liche Bevölkerung Abschüttelung der Türkenherrschaft, An-
schluss an das Königreich Griechenland anstrebt, ein ver-
heerender Kampf, durch griechische Freiwillige und Kriegs-
mittel genährt, seit 1864 sich hinzieht.
Türkei: Die Losreissung von der Türkei, mit welcher in
den zwanziger Jahren Griechenland den Anfang machte, und
die jetzt wieder das Losungswort des candiotischen Aufstandes
bildete, erstrebten auch die übrigen christlichen Vasallenstaaten
Serbien, Montenegro, Bulgarien, Rumänien. In dem letzteren
Lande ward Fürst Cusa nach längerem Streit mit seiner
Kammer im J. 1865 durch eine Verschwörung gestürzt, deren
Häupter für das Land einen fremden Fürsten suchten; sie
fanden den richtigen in dem Prinzen Karl von Hohenzollem-
Sigmaringen, der Mai 1866 auf rumänischem Boden erschien
und sich gegen die anfängliche Einsprache der Pforte, dann
gegen grosse innere Schwierigkeiten in dem erst halbcivili-
sirten Lande behauptet hat.
Russland: Hier wird die Russificirung Polens mit uner-
bittlicher Folgerichtigkeit durchgesetzt. Energische Reform-
thätigkeit des Kaisers; der grossen grundlegenden Massregel
der Bauernemancipation folgt 1864 Einsetzung von Kreis- und
Provinzialvertretungen; eine Adelsversammlung in Moskau pe-
titionirt 1865 bereits um die Einführung einer Repräsentativ-
verfassung für das russische Reich, was vom Kaiser abgel'ehnt
doch als Zeichen der Zeit Erwähnung verdient.
C. Die romanischen Staaten.
1. Spanien und Portugal.
Spanien und Portugal ohne Ereignisse von allgemeiner
geschichtlicher Wichtigkeit; auch die italienischen Ereignisse
bleiben ohne tiefer gehenden Einfluss. Händel Spaniens mit
den südamerikanischen Republiken Chile und Peru.
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Extrahierte Personennamen: Türkei Karl_von Karl
Extrahierte Ortsnamen: Griechenland Griechenland Serbien Montenegro Bulgarien Hohenzollem-
Sigmaringen Russland Polens Moskau Spanien Portugal Spanien Portugal Spaniens Chile Peru
304 Staatsverfassung und Eintheilung Oesterreichs. §. 62.
Staatsv erfassung.
Das Kaiserthum Oesterreich ist eine im Hause Habsburg-Lothrin-
gen in männlicher und weiblicher Linie erbliche Monarchie. - Nach dem
Verfassungs-Statut vom 26. Februar 1861 führt die Reichsvertretung
den Titel „Reichsrath", bestehend aus dem Herrenhause und dem Hause
der Abgeordneten. Die Mitglieder des Herrenhauses haben theils (die
Erzherzoge und die Häupter großer Geschlechter) erbliche Sitze, theils
sind sie aus Lebenszeit ernannt. Die (343) Abgeordneten werden von
den Landtagen aus den Abgeordneten der Kronländer gewählt. Die
Uebereinstimmung beider Häuser und die Sanction des Kaisers ist zu
allen Gesetzen nothwendig. In Landesangelegenheiten wird jedes Kron-
land vom Landtage vertreten, welcher, nebst dem Kirchensürsten
jeder Provinz und dem Rector Magnificus der Universität aus ge-
wählten Abgeordneten besteht. Das ansführende Organ der Landes-
vertretung ist ein gewählter L a n d e s a u s s ch u ß.
An der Spitze der politischen Verwaltung der einzelnen Kronländer
stehen vom Kaiser ernannte Statthalter. Die größer» Kronländer zer-
fallen in Kreise (unter einem Kreispräsidenten) oder Comitate oder
Provinzen, diese in Bezirke (unter einem Bezirkshauptmann) und diese
in Ortsgemeinden; nur bei Salzburg, Kärnthen, Krain,. Schlesien und
der Bukowina fehlt das Mittelglied der Kreiseintheilung, und die Landes-
regierung ist zugleich die Kreisbehörde.
Eintheilung und Topographie.
A. Die zum deutschen Bunde gehörenden Kron-
länder.
1. Das Erzherzogthum Oesterreich, das Userland zu
beiden Seiten der Donau von Passan bis Preßburg, einst das
Passageland der von O. nach W. vordringenden Völker, (Hunnen,
Avaren, Magyaren).
а. Das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns {3u Mill. E.)
findet für die geringere Fruchtbarkeit seines Bodens (kein Weinbau)
einen Ersatz in seinen unterirdischen Schätzen. Denn es betreibt seit
alter Zeit eine ausgedehnte Eisenindustrie, von deren Mittelpunkte,
Steuer an der Enns („dem österreichischen Birmingham"), aus nicht
nur die ganze Monarchie, sondern auch fremde Länder mit Messerklingen,
Scheeren, Feilen versehen werden. Die befestigte Hauptstadt Linz
(27,600 E.), an der Mündung der Traun in die Donau, hat nicht
nur eine militärische Bedeutung durch ihre Lage an der Gebirgsöffnung
nach dem Traunthale, sondern ist auch der Hauptpunkt zur Vermittelung
des Elbe- und Donaugebietes, namentlich seitdem eine Eisenbahn aus
dem Salzkammergute das Sudsalz von Gmunden (am See gl. N.) über
Linz nach Budweis in Böhmen ausführt.
б. Das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns (1 % Mill. E.),
verdankt seine industrielle Bedeutung der Haupt- und Residenzstadt
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246 Englische Revolution. Zeitalter Ludwigs Xiv. ,c.
satz nach außen zu verschaffen, und schloß deßwegen mit der Türkei einen
vorteilhaften Handelsvertrag; er ahnte, was aus der Donau werden
mußte, wenn Ungarn erst in freien Verkehr mit den andern Ländern
der Monarchie gebracht werde. Aber auch dies sollte der Kaiser nicht
erreichen; eben weil er zu viel auf einmal wollte, erreichte er fast nichts,
und weil er kein Recht bei anderen achtete, sobald er dasselbe für un-
vernünftig und schädlich hielt, kam seinem Befehle jener gute Wille nicht
entgegen, welcher allein den Anordnungen der Herrscher gedeihliche Fol-
gen schafft.
Josephs Anordnungen in Ungarn.
Ungarn sah damals in mancher Hinsicht dem Nachbarlande Polen
gleich; auch hier war der Adel die eigentliche Nation, kriegerisch, ver-
schwenderisch, zum Uebermuthe gegen die Schwächeren und zum Unge-
horsame gegen die Krone geneigt; dazu kam derselbe ungebärdige Natio-
nalstolz, der die Polen beseelte, so lange sie noch in ihrer Unordnung
und Freiheit lebten. Hätten die früheren Herrscher Ungarns nicht ein-
zelne Städte gegründet, deren Bevölkerung mehrentheils eine deutsche
war, nicht deutsche Kolonieen in den Karpathen und in Siebenbürgen
angesiedelt, so hätte es auch in Ungarn wie in Polen nur Adel und
Leibeigene gegeben. Der Bauer trug alle Lasten, der Adel keine, so daß
das gemeine Volk in der Landessprache ofstciell die „miseru oontribusns
pleds" (das arme steuernde Volk) genannt wurde. Zudem war Ungarn
nicht von einer einzigen Nation allein bewohnt; Maghparen, Slaven
verschiedenen Stammes, Griechen (Rumänen) und Deutsche hausten
neben und durcheinander mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen
Rechten, einander vielfach feindselig; Ungarn war demnach der unaus-
gebildetste Staat des ganzen christlichen Europa. Was sein sollte, das
sah der Kaiser recht gut ein, aber indem er einen bessern Zustand nicht
anbahnen und zu ihm nicht die Grundsteine legen, sondern rasch schaffen
wollte, bereitete er sich unüberstcigliche Hindernisse. Gleich anfangs er-
bitterte er die Ungarn dadurch, daß er sich die Krone des hl. Stephan
nicht in Preßburg aufsetzen ließ; er wollte so den Krönungseid ver-
meiden, der ihn an die hergebrachten Gesetze unv Rechte Ungarns ge-
bunden hätte; indem er die Krone nämlich nach Wien bringen ließ,
schien er zu erklären, daß er als Erbe der Monarchie des Hauses Habs-
burg bereits auch König von Ungarn sei. Dann erhob er die deutsche
Sprache zur Geschäftssprache; drei Zahre wurden den Beamten zu ihrer
Erlernung gestattet; welcher sie bis dahin nicht erlernt hätte, sollte sein
Amt verlieren. Ebenso veränderte Zoseph die ganze Gerichtsverfassung
des Landes, welche allerdings einer durchgreifenden Verbesserung bedurfte.
Kroatien, Slavonien und das Banat wurden neu eingetheilt, deßgleichen
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Extrahierte Personennamen: Ludwigs
Extrahierte Ortsnamen: Donau Josephs Ungarn Polen Siebenbürgen Ungarn Polen Europa Wien Ungarn Kroatien
662
Europa
— die T ürkei.
(Mollah ist ein Ehrentitel aller obern Richter. Scheich heißt soviel wie: Greis,
Ehrwürdiger.)
Behufs der Verwaltung ist die europäische Türkei — ohne die Schutzstaaten — in
11 Ejalets oder Generalgouvernements eingeteilt, die wieder in Liwas
oder Provinzen (und diese in Kazas oder Distrikte) zerfallen. An der Spitze eines
jeden Ejalets steht ein Mali oder Generalgouverneur als Chef der Verwaltung, der
nach dem Firman vom Januar 1853 das Recht hat, die Gouverneure der Liwas, die
Mudire der Distrikte, die Mitglieder der Gemeinderäthe, sowie alle Polizei- und Civil-
beamten seines Gouvernements unter seiner Verantwortlichkeit ein- und abzusetzen. —
Die Heeresmacht des Reiches — ohne die Contingente der fast souveränen Schutz-
staaten Rumänien, Serbien, Aegypten :c. — wird gebildet: 1) durch dlls reguläre
Heer oder den Nizam, bestehend aus Hauptcorps unter Muschirs, und diese aus Divi-
sionen unter Feriks, 2) durch die Landwehr oder Rediss, zusammen etwa 200000
Mann; dazu kommen noch des Sultans Haustruppen (Garde) und 80 — 90000
Baschi-Bozuks oder irreguläre Truppen, Tataren der Dobrudscha :c. Sicher ist die
Verteidigungsfähigkeit des Staates eine geringe, und die Festungen finden sich alle in
vernachlässigtem Zustande, wohl keine einzige fähig, den vervollkommneten Geschützen
der Gegenwart längere Zeit zu widerstehen.
Für wissenschaftliche Bildung geschieht etwas in neuester Zeit, für Volksunterricht
noch wenig, überhaupt steht die geistige Kultur im Türkenreiche auf einer ziemlich nie-
deren Stufe; Mädchenschulen gibt es, wie überhaupt unter den Orientalen, noch nicht.
Die Druckerei zu Konstantinopel wird immer wirksamer. Der Türk, unwissend und
stolz, verachtete bisher die andern Nationen sammt ihrer Kultur, und betreibt noch
immer nur eine bildende Knnst, die Architektur; Malerei wird zu Verzierungen und
Arabesken angewandt, und die Musik ist nichts als ein rauschender Lärm. Was Ge-
werbthätigkeit betrifft, so findet man in der Türkei gute Lederbereitung (Saffian,
Kordnan), Färbereien mit türkisch Roth, Säbelfabriken und weniges sonst. — Das
Schlagwort vom „kranken Mann", welches Zar Nikolans einst mit schlauer Berechnung
in die Welt geworfen und welches seit dieser Zeit so oft gläubig und verständnislos
nachgebetet wurde, ist uicht ohue alle Berechtigung: es ist unleugbar, die osmanifche
Herrschaft geht ihrer Auflösung entgegen, die herrschende Rasse ist in einer Abnahme
begriffen, welche sich durch nichts aufhalten läßt. Die Mehrzahl der europäischen
Staaten — Rußland natürlich ausgenommen — hat indes an der Erhaltung de.t
Türkei ein Interesse und wäre es auch nur, wie Fuad Pascha sich äußerte, die Bän-
digung der Slavenstämme am Bosporus. Aber die Balkänhalbinsel zu reorgauisireu,
dazu sind die Osmauen wohl nicht mehr fähig. Ein großer Theil dieser wahrhaft
fruchtbaren Sendung muß dem großen Donanreiche — Oesterreich-Ungarn — zu-
fallen». das aber diese Aufgabe natürlich nur dann erfüllen kann, wenn es, neben einem
befriedigten, zum Rechtsstaat ausgebildeten Ungarn, geordnete Zustände in den Erb-
länderu besitzt und sich im Innern auf freiheitlicher Basis genügend gekräftigt hat.
Es ist das jene Politik, die der große Engen vor bald 2 Jahrhunderten nach dem
Sieg von Z enta inauguriren wollte, als er seinen Zug ins Herz von Bosnien unter-
nahm; sie mußte damals scheitern, weil das vom Blute der Eperieser Schlachtbank
triefende Oesterreich und das in eigener Calamität befindliche Reich weder den Willen
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666
Europa
— die Türkei.
der türkischen Miswirthschaft noch immer die schönste Insel des Mittelmeeres und reich
an Produkten; ein Gebirg durchzieht sie, woraus der Ida sich bis auf 2457 m. er-
hebt. Hauptort: Megalokastron (Candia) mit 12000 E. (Die Inseln bei
Kleinasien s. S. 510.)
Die Schutzstaaten
waren ehemals Provinzen der Türkei, sind aber jetzt so gut wie unabhängig.
a) Serbien 791 Q.m. und 1,319000 E. (S. S. 268). Dieses Fürstcnthum,
dessen Bevölkerung seit dem Jahre 1801 zuerst unter Kara Georg, dann unter Milosch
Obrenowitsch um seine Freiheit gekämpft hat, wurde 1817 vou dem letzteren, dem Be-
freier Serbiens, gegründet und 1830 auch von der Pforte als erbliches Fürstenthum
und als selbständig anerkannt; nur ein unbedeutender Tribut ist an den Sultzn zu
entrichten. Türken dürfen vertragsmäßig nicht im Lande wohnen. Seit 1867 haben
sie auch die Festung Belgrad, deren Besatzungsrecht ihnen bis dorthin noch zustand, ge-
räumt. Die Regierungsgewalt des Fürstenhauses, dessen Erblichkeit nun auch vou den
europäischen Mächten anerkannt ist, ist durch eine Skupschtiua oder Nationalversammlung
beschränkt. Serbien hatte Verfafsuugskämpse durchzumachen, wie vielleicht kein anderes
Land in Europa, scheint nun aber allmählich zur Ruhe zu kommen. Die nach Er-
mordung des Fürsten Michael (1868) eingesetzte Regentschaft hat dem jetzigen Fürsten
Milan Obrenowitsch Iv. (1872) „einen fester als je stehenden Thron und ein Politisch
resormirtes, militärisch gestärktes und finanziell wohlbestelltes Land" übergeben. Die
Regierung leistet Anerkennenswertes für Besserung der rechtlichen, ökonomischen und
kommerziellen Verhältnisse des Landes, für wissenschaftliche Bestrebungen und für Volks-
Unterricht. Ohne Zweifel sind die Serben der begabteste Zweig der Südslaven, und
obwohl griechische Christen, stehen sie doch nicht uuter dem Patriarchen von Konstant!«
nopel; wenn aber exaltirte serbische Patrioten von der Errichtung eines großserbischen
Reichesträumen, damit, „wenn der türkische Halbmond in Konstantiuopel fällt, der ser-
bische Falke am Bosporus kreise"; wenn das kleine Fürstenthum nicht ohne Komik die
Protektormiene gegenüber den benachbarten „bedrängten Bruderstämmen" übernimmt,
obgleich uach dem eigeuen Geständnis der Serben z. B. die österreichischen Südslaven
ihnen in Entwicklung konstitutionellen Lebens und abendländischer Bildung weit voran-
stehen; weun ganz offen die Losreißnng von der Türkei gepredigt, die Großmannssucht
im Volke augeregt und ihm anf der Balkänhalbinsel die Rolle ausgelogen wird, welche
die Piemontesen in Italien spielten: so ist dahinter die russische (panslavistische) Agitation
zu vermutheu, die sicher ist, daß, wenn nur erst die bis jetzt regierende Nation des
osmanischen Reiches aus der Halbinsel verdrängt ist, die emanzipirten slavischen Völker-
brocken der Anziehungskraft des mächtigen Zarenreiches, das — wie der Jehovah der
alten Juden — keine anderen Götter neben sich duldet, zu folgen sich gezwungen sehen
werden — eine Aussicht, die Oesterreich-Ungarn, wie das Deutsche Reich in gleicher
Weise auffordern muß, frei von christianisirender Sentimentalität und Romantik, in der
sog. „orientalischen Frage" anf dem Boden einer gesunden, das eigene Interesse voran-
stellenden Realpolitik Stellung zu nehmen. —- Bezüglich der Vermehrung der Bevölke«
rung gehört Serbien zu den ersten Ländern Europas; denn von 1320—55 ist die Be-
völkerung um 20 o/o, und von 1856—66 um 14% jährlich angewachsen. Belgrad
mit 25000 E., die jetzige Hauptstadt des Landes, anf einem langgestreckten Hügelzuge
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Extrahierte Personennamen: Georg Milosch
Obrenowitsch Michael_(
Extrahierte Ortsnamen: Europa Candia Kleinasien Serbien Serbiens Serbien Europa Bosporus Italien Deutsche_Reich Serbien Europas Belgrad
Europa —
die Türkei.
667
zwischen Save und Drau; seit es von den Türken geräumt ist, hat es auch in seinem
Aussehen gewonnen; Bildungsanstalten, Nationalbibliothek. Kragujewaz iu der
Mitte des Landes ist die alte Hauptstadt und der Hauptwaffenplatz für die ser-
bische Armee.
b) Rumänien (Walachei und Moldau) 2197 Q. M. und 4'/» Mill. Einw.^
nördlich der untern Donau, Getreide- und Wiesenländer, vor alters von Daciern be-
wohnt, die in 172 Jahrhunderten ziemlich romanisirt wurden, und noch jetzt halb
lateinisch trotz der Vermischung mit Slaven und byzantinischen Griechen (S. S. 268).
Seit geraumer Zeit hatte jedes dieser beiden Länder einen Hospodar oder Herrn, den
die Bojaren wählten und der Sultan bestätigte; die Hospodare hatten an die hohe
Pforte Tribut zu zahlen. Als Bekenner der griechischen Kirche stand das Volk den
Russen nicht zu fern. Um so leichter konnte sich der Zar in die Hospodarwahl ein-
mischen und zuletzt den Ausschlag dabei geben. Die Zeit schien nahe, wo beide Länder
russisch werden könnten. Die Niederlagen in der Krim haben dies vereitelt. Durch
eine Revolution wurden beide Länder (entgegen den Bestimmungen der Convention
von 1856) in ein Fürstenthum, und zwar ein erbliches vereinigt; der Fürst hat
nur vomsultsn die Investitur einzuholen, einen geringen Tribut zu leisten und steht in
einer Abhängigkeit weiter. Eine neue Revolution rief (1867) den Fürsten Karl von
Hohenzollern als Herrscher ins Land, der sich bis jetzt vergebens abmüht, in die zer-
fahrenen und verkommenen Zustände Ordnung zu bringen. Die bürgerlichen Verhält-
nisse sind erbärmlich, die Bauern in tiefer Armuth und Verkommenheit, obgleich nicht
ohne politische Rechte; die Schulbildung ist nicht besser als in den meisten Provinzen des
Türkenreiches (etwa 8°/v können lesen oder schreiben). Die 5500 Familien der Bojaren und
außerdem noch ein zahlreicher niedrer Adel (der 28. Mensch ist ein „Herr von") stellen die
Nation vor. Bojaren (van boier.-Herr, Besitzer) und Klerus sind steuerfrei. Es gibt 150000
Zigeuner im Lande. Daß die Straßen der Städte überhäuft sind von Schmutz, kümmert
die Palastbewohner wenig, in Bukarest sind 12000 Equipagen, 40000 Luxuspferde, glänzende
Läden mit Modewaaren und Delikatessen, aber die meisten Häuser sind Hütten; nirgends
durchdringen sich „Putz und Schmutz" so sehr, als in walachischen Städten. Die
Bojaren, von dem Firniß französischer Politnr bedeckt, der aber fortwährend von der
Roheit durchbrochen wird, saugen ihre ganze politische und sociale Weisheit ans den
seichtesten französischen Geistesprodukten, die auf die hohlen, jedes Verständnisses baren
Walachenköpfe wie Branntwein wirken; Kenner der Verhältnisse behaupten: solchen
Grad von Nichtsnutzigkeit und Faulheit, wie er bei den Bojaren zu finden, halte nur
der für möglich, der ihn mit eigenen Augen gesehen. Den Bauern, durch Jahrhunderte
währende Leibeigenschaft nahezu verthiert, fehlt jeglicher Begriff für Gemeinde und
Staat, und in Europa werden kaum Völkerschichten zu finden sein, die in Trägheit, in
Mangel an Betriebsamkeit, Willenskraft und Menschenbewußtsein den rumänischen Bauern
noch übertreffen. Ein Mittelstand, ein eigentlicher Bürgerstaud, der dem Staatswesen
aus dem ärgsten Wirrsal heraushelfen könnte, fehlt oder wird wenigstens durch den vom
Nationalitätsprincip genährten Hochmnth niedergehalten. Die Rechtspflege ist fchmach-
voll. Und dieser Scheinstaat, ein Hohn auf jedes gesunde Völkerleben, besitzt eine
Autonomie und eine Verfassung, die den freiheitlichsten Constitutionen der entwickeltsten
abendländischen Völker nachgebildet ist! Und dieses mitleiderregende Völker-Mischmasch
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Extrahierte Personennamen: Karl_von
Hohenzollern Karl
Extrahierte Ortsnamen: Europa Nationalbibliothek Donau Bukarest Europa
874
Europa
— Ö st erreich-Ungarn.
zergangen wie entstanden; und das nicht allein, auch die Rechte und Freiheiten, welche
die Nation Jahrhunderte lang besessen, wurden der Gnade des obsiegenden Herrn völlig
preisgegeben. Während der Revolntions poche hatte Ungarn versucht, die sogenannten
Nebenländer — Siebenbürgen, Kroatien und Slavonien, die Militärgrenze — die bis
dorthin faktisch von ihm ganz unabhängig gewesen waren, sich anzugliedern und zu
einem großen Reiche zu vereinigen; allein die Bevölkerung derselben hatte dieser Per-
einigung, von der man eine Unterdrückung der heimischen Nationalitäten durch die
Magyaren fürchtete, widerstrebt und wesentlich znm Siege Oesterreichs ü8er Ungarn
beigetragen. Zum Danke für die gebrachten Opfer wurden sie nun nicht nur als
selbständige Kronländer eingerichtet, sondern es wurde auch, zur Belohnung der Serben,
aus dem Banat und der Woiwodina ein neues Kronland, die serbische Woiwod-
schaft, errichtet. In Ungarn aber herrschte von nun an die österreichische Regiernng
mit unumschränkter Gewalt. Es bestand eine geordnete Verwaltung, gute Justiz,
rasches Gedeihen auf allen wirtschaftlichen Gebieten. Die Germanisirnng machte un-
glaubliche Fortschritte, die Magyaren aber trauerten und stählten sich in passivem
Widerstande.
Infolge der Ereignisse von 186ß kam Ungarn in die glückliche Lage, diese Verhält-
nifse wieder zu ändern und die Gleichberechtigung mit dem cisleithanischen Kerne wieder
zu erringen. Ungarn und Siebenbürgen wurden unter einem gemeinsamen Ministerium
vereinigt und erhielten im ungarischen Reichstag eine gemeinsame Vertretung; Kroatien-
Slavonien wurde auch wieder mit Ungarn verbunden, behielt aber daneben noch eine
Sonderregiernng und einen Sonderlandtag. Die Militärgrenze verblieb vorläufig unter
dem Reichskriegsministerium. Diesen Ausgleich von 1867 haben eigentlich die Magyaren
allein, ohne die 10 Mill. der andern Nationalitäten Ungarns gemacht; denn sie allein
bildeten damals eine rührige, politisch geschulte Masse von mehr als 5 Mill., jede der
andern Völkerschaften betrug weniger, keine war gewappnet und entschlossen. So er-
langten sie eine Herrschaft, die in keinem Verhältnisse zu ihrer Volkszahl, zu ihrer Kultur
und Bildung steht. Wie haben nun die Magyaren bis jetzt die Probe ihrer Regierungsfähig-
keit bestanden? In politischer Beziehung unzweifelhaft glänzend; sie haben in dieser kurzen
Zeit ein magyarisches Ungarn fertig gebracht, welches magyarischen Interessen dient und von
magyarischen Verbindnngssäden durchzogen ist. Auch sonst wurde manches Gute ge-
fördert (z. B. durch Anlage von Eisenbahnen.) Aber Ungarn ist ein erbarmungsloser
Centralisationsstaat geworden, Siebenbürgen ist in Comitate zerschlagen und jeder Spur
provinzieller Selbständigkeit, die Woiwodina sogar ihres Namens beraubt. Gründliche
Kenner der Verhältnisse entwerfen ein trübes Bild von den innern Zuständen des
Landes. *) Zwei Dinge, sagen sie, schlagen dem Reisenden, sowie er den Fuß über die
ungarische Grenze setzt, im Gegensatze zur früheren deutschen Verwaltung sofort ins
Gesicht: die schlechte Rechtspflege und der Völkerhader. Sofort nach er-
langter Herrschaft warf sich die ganze Energie der Magyaren, ihr politisches Talent, ihr
wildes Ungestüm, ihre tiefe Angst vor der Zukunft auf das eine große Ziel, ans Ungarn
einen magyarischen Staat zu machen. Um nicht selbst in den Wogen des Slaventhnms
unterzugehen, werden sie dämonisch getrieben, andere Nationen zu erwürgen; sie ahnen
*) Dr. von Löher, die Magyaren und cndcre Ungarn. Leipzig 1874.
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970
Curopa — Polen.
Russen die Provinzen Mohilew, Polozk u. s. w. (ca. 2000 Q.-M.) verschaffte.
Weislich trat die Kaiserin für den Ansang verhältnismäßig bescheiden auf, um desto
argloser die weitere Unterjochung des Reichs vorbereiten, und schließlich zur völligen
Zerreißung Polens schreiten zu können.
Diese Gewaltthat gehört zu den betrübenden und folgereichsten in der Geschichte
nnsrer Zeit. Herbeigeführt ward sie, als ein Verein polnischer Edellente das Vaterland
innerlich zu heben suchte und deshalb eine Staatsverfassung entwarf, die dem Geiste
der Zeit und dem Bedürfnisse der polnischen Nation angemessen schien und darauf beruhte,
daß Polen ein Erbreich und der Bürgerstand Mitglied des Reichstags
sein sollte. Sie ward am 3. Mai 1791 verkündet. Eine solche Reform aber und die
Entfaltung der Nationalkraft, die wahrscheinlich daraus erfolgen mußte, wollte die
Kaiserin nicht dulden. Daß es misvergnügte, dem Sinn der Konstitution noch fremde
Polen gab, nahm sie zum Vorwand, sich dagegen auszusprechen. Ihre Truppen setzten
sich in Marsch. Die Verfassung ward gestürzt, eine andre dekretirt und, damit das un-
glückliche Reich auf immer geschwächt sei, nahm sie 4500 Q.-M für sich und gab zur
Beruhigung 1000 an Preußen. Im September 1793 war die leichte Eroberung
vollendet. Dem König Stanislaus blieb nur ein kleiner Theil (ca. ^000 Q.-M. mit
31/2 Mill. Einw.) des ehemals mächtigen Staates, und dieser Theil nur unter russischer
Autorität; gedemüthigt durch so viel Schmach, wollte Poniatowsky die Krone nieder-
legen, allein Katharina gab es nicht zu. — So unerhörtes Schicksal entflammte die
Gemüther. Schon im nächsten Frühling fanden sich ausgewanderte Bnndesbrüder, vor
allen Kosciusko und Madalinsky, in Krakau ein, und schon am 4. April 1794
ward den Russeu ein siegreiches Gefecht bei Raclawice geliefert, worauf der Aufstand
nach Warschau, Wilna und durch fast alle Woiwodschaften sich verbreitete. Allein zur
Rüstung des Volks, zur Festigung einer neuen Ordnung der Dinge ward ihnen nicht
Zeit gelassen. ' Es erschienen österreichische und preußische Truppen, und bald auch 2
vertheilt, wobei die Stadt Warschau an Preußen fiel: Polen hörte 1795 auf, ein
eigner europäischer Staat zu fein. Elf Jahre später kam zwar Napoleon
an die Weichsel und bildete ein eignes Herzogthum Warschau, was für die Zukunft die
Erneuerung des alten Königreichs zu verkünden schien; allein mit seiner Flucht 1812
zertrümmerte diese Hoffnung. Der Wiener Congreß gab die pofenfche Landschaft wieder
an Preußen, erklärte Krakau mit einem Gebiet von 23^/s Q.-M. zum Freistaat und
überließ das verkleinerte Herzogthum Warschau mit 2200 Q-M. dem Kaiser Alexander
von Rußland, der es als Königreich Polen durch eine Art Personalunion mit
Rußland verband.
Es gereicht diesem wohlwollenden Fürsten zur Ehre, daß er wünschte, die Polen
mit ihrem Mißgeschicke zu versöhnen, indem er ihnen eine Verfassung gab, die sie vor der
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Extrahierte Personennamen: Stanislaus Poniatowsky Katharina Napoleon Alexander
von_Rußland Alexander