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So hatte sich die deutsche Hansa ihr „Kontor" gesichert, und Now-
gorod — da wo die Wolchow den Jlmensee verläßt — war die
Hauptstätte des Tauschhandels. Man bezahlte im e>. Petershof die
eingehandelten Waren nicht bar, sondern tauschte sie gegen die West-
europäischen Erzeugnisse ein, worunter die flandrischen Tuche die vor-
nehmsten waren. Nowgorod wuchs mächtig an Einwohnerzahl, es
hatte zuletzt 400000 Bewohner, wurde überaus reich, und das russische
Sprichwort besagte: Wer kann gegen Gott und gegen Nowgorod.
Auch die umliegenden Städte blühten auf. Riga, dessen Name
„Getreidespeicher" bedeutet, erhielt damals sein „hanseatisch-reichs-
städtisches" Gepräge. Es wurde der gotische Dom mit herrlichem
Gewölbe gebaut, und die Petrikirche erhielt ihren fast 140 m hohen
Turm, den höchsten Turm in Rußland. Diese Machtstellung der
Republik und der Reichtum Nowgorods reizte den Großfürsten Iwan
den Großen (als Zar Iwan I. Wasiljewitsch), der sich eben von der
mongolischen Oberhoheit befreit hatte und danach strebte, nach dem
Fall des griechischen Kaisertums Rußland emporzubringen — er
nahm ja deshalb auch den zweiköpfigen Adler in das russische Wappen
auf —, und so eroberte er Nowgorod und machte der Selbständigkeit
der Republik ein Ende.
Wenn die frühere Bedeutung von Nowgorod Weliki (— Groß-
neustadt) unwiederbringlich dahin ist, so hat sich der Handelsverkehr
des modernen Rußlands jetzt in Nishnij Nowgorod (= Niederneustadt)
konzentriert, und dieser Ort ist zur berühmtesten Messestadt in dem
Zarenreiche geworden. * Die Stadt liegt äußerst günstig, gerade in
der Mitte des ungeheuren Reiches, und zwar an der Wolga, da wo
der mächtige Nebenfluß, die Oka, in die Wolga mündet. Auf dem
rechten bergigen Ufer der Wolga liegt die Oberstadt, wohl 200 m
über dem Wasserspiegel. Am Wasser des Flusses sind die Anlege-
plätze der Dampfer, und dann geht es auf mächtiger Holzbrücke über
die Oka, die fast 1 km breit ist, zum Messeplatze zwischen Oka und
Wolga. Hier entwickelt sich 40 Tage lang vom 27. Juli ab der
gewaltige europäisch-asiatische Großhandel, zu dem die Waren auf
7 großen Handelsstraßen herbeigeschafft werden; von Petersburg über
Moskau, von Astrachan auf der Wolga, von dem chinesischen Kiachta
über Tjumen, von Bochara über Orenburg, vom Schwarzen Meere
über Taganrog, von den Kaukasusländern wiederum aus der Wolga
und von Archangelsk her auf der Dwina und Kama. „Der Kauf-
mann aus Paris und London macht hier mit dem Perser und Chinesen,
der Schwede aus Finnland mit dem Jakuten aus Sibirien Handels-
geschäste. Das Getreibe auf der Messe kann etwa nur mit dem
Völkergewühl in Mekka verglichen werden." Man rechnet, daß in
1 Frühere Geographen sagen i es ist die äußerste Stadt Europa gegen Aufgang.
TM Hauptwörter (50): [T40: [Polen Ungarn Land Rußland Preußen Stadt Donau Provinz Hauptstadt Königreich], T9: [Tempel Stadt Kirche Säule Zeit Gebäude Bau Mauer Haus Dom], T29: [Handel Industrie Land Ackerbau Fabrik Stadt Deutschland Mill Viehzucht Gewerbe]]
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— 106 —
anfangs sogar die Schubkarren und die Spaten zur Arbeit gefehlt
haben; dafür legte der Zar selbst Hand an, und die Stadt, an der
man 1703 zu bauen angefangen hatte, konnte schon im zweiten Jahre
des Baues bezogen werden. Allerdings waren von den Arbeitern
100000 umgekommen infolge der Strapazen, der schlechten Ernährung
und der bösen Sumpfluft. Heutzutage ist Petersburg eine Stadt der
Paläste, der einst so reißende Newastrom ist eingedämmt und fließt
8 km entlang zwischen Granitquais; aber die Stadt liegt flach und
niedrig, und ein Steigen des Meeres nur um 5 m würde hinreichen,
um alle Straßen unter Wasser zu setzen. Die Bauart der Stadt ist
weitläufig und ausgedehnt; man entbehrt in Petersburg das dicht-
gedrängte Volksgewühl, wie man es in anderen volkreichen Residenzen
findet. Die charakteristische Gruppierung der Stadtteile und Straßen
fehlt, und das Auge hat keinen Anhaltepunkt in dem Meer von
Palästen.
Auf der nahen Insel Retusari ließ Peter der Große die Festung
Kronstadt anlegen, ebenso wie er am Ladogasee oberhalb Petersburgs
Schlüsselburg erbaute. Nach der Festung Kronstadt sührt durch den
innersten Teil des finnischen Meerbusens der Morskoifanal, der den
Schiffen den Zugang bis nach Petersburg ermöglicht. Denn dieser
innerste Winkel des Meerbusens ist nur seicht; auch sollen die Schiffe
in dem Wasser, das nicht salzig genug ist, leichter faulen und kaum
20 Jahre in ihren Holzteilen unversehrt bleiben. Ein großer Übel-
stand ist es immer, daß die Newa 6 Monate zufriert und daß
dann der Verkehr binnenwärts nur durch Schlitten unterhalten
werden kann. Im Frühling strömen dann ungeheure Massen Binnen-
länder nach der Riesenstadt, so daß man ihre Zahl aus über 150000
schätzt. Dadurch wird das Bild des Völkerlebens in der Stadt außer-
ordentlich mannigfaltig, und in dem großen Newsky Prospekt, der sich
wohl 4 km durch die Stadt zieht, kann man alle Nationalitäten Eu-
ropas vertreten sehen. Das charakteristischte Element ist aber doch
das Militär und die Uniform. Jeder neunte Mensch in Petersburg,
rechnet man, ist Soldat, und zwar erscheinen hier alle Regimenter,
von den Tscherkessen bis zu den Finnen in ihrem nationalen Auf-
putz. Da nun aber in Rußland außer den Soldaten alle Beamten-
klassen und selbst die Gymnasiasten und Studenten uniformiert^sind,
so kann man sich denken, wie das überall von mehrfarbigem ^uche
schimmert und von Goldborten, Litzen und Stickereien blitzt. Nach
Abrechnung der Frauen und Kinder soll wohl die halbe männliche
Bevölkerung uniformiert erscheinen, und die Zahl der in Civil Ge-
kleideten tritt ganz zurück. Um Petersburg herum liegen die kaiser-
lichen Lustschlösser Oranienbaum, Peterhos, „das russische Versailles",
und Zarskoje Selo (d. h. kaiserliches Dorf). Auch die Sternwarte
Pulkowa darf nicht vergessen werden.
TM Hauptwörter (50): [T3: [Stadt Schloß Straße Berlin Kirche Haus Gebäude Platz Garten Universität], T24: [Schiff Meer Insel Küste Land Fluß See Wasser Hafen Ufer], T40: [Polen Ungarn Land Rußland Preußen Stadt Donau Provinz Hauptstadt Königreich]]
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— 126 —
Zeit haben auch die poetischen Künste in Schweden ihre Pflege ge-
fünften, und Esaias Tegner hat mit seiner Frithjossage ein in alle
Sprachen übersetztes Meisterwerk geliefert. — Die heutigen Schweden,
die man wegen der „von der Residenz und dem Adel beliebten sran-
zösischen Tünche auch die Franzosen des Nordens" nennen möchte,
deren Bezeichnung als „maritime Germanen" uns aber doch besser
gefallen will, haben in ihrer äußeren Erscheinung etwas entschieden
Germanisches: blaue Augen, blonde Haare und die Rosenwangen der
Jugend. In ihrem Charakter prägt sich Ernst und Schweigsamkeit
aus; auch soll der Reichtum an schönen Liedern, die wir aus den
Konzertsälen kennen, weniger ein Erzeugnis der allgemeinen Volks-
eigentümlichkeit sein als der Ausfluß der musikalischen Begabung der
Gebildeteren. Die Natur des Landes verurteilt die Schweden zu ab-
geschlossenerem Leben, und in der einsamen „stuga" ^Bauernhaus»
werden mit wunderbarer Zähigkeit die Gestalten der nordischen
Mythologie, der Trollen 1 und Elsen, des Strömkarls, Ägirs und des
Neck festgehalten und ihre Thaten in wunderbaren Erzählungen von
Geschlecht zu Geschlecht berichtet. Das Land ist lutherisch, das Ein-
kommen der Pfarrer aus dem Lande mager genug, und die Schilderung
eines solchen schwedischen Pfarrers, der gezwungen ist, Ackerbau und
Fischfang zu seinem eigenen Erwerb zu treiben, ist in dem Roman:
Tie Leute von Hemsoe ergötzlich zu lesen.
In der Bodenbeschaffenheit des Landes kann man drei Gürtel
oder Zonen unterscheiden. Die ungünstigsten Verhältnisse finden sich
in der nördlichen, dem Norrlande, in das weit hinein von Norden
her die Lappen übergesiedelt sind. Diese nördlichen Teile Schwedens
sind weit rauher als die unter gleichen Breiten liegenden Küsten-
streifen Norwegens. Der nördlichste Leuchtturm Schwedens steht in
Haparanda, das unweit des nördlichen Polarkreises liegt, wo man
am längsten Tage die Mitternachtssonne sehen kann. Übrigens giebt
es auch weit nach Süden hinein in Schweden den Juni und Juli
hindurch keine eigentliche Nacht. Haparanda baut Schiffe, die bis
nach Brasilien segeln. Von hier dehnt sich bis Umea 140 Stuuden
lang ein Wald aus. Der am weitesten nach Norden hinaufgehende
Baum ist die Birke; doch bestehen die Wälder Norrlands größtenteils
aus Nadelholz. „Gleichwie in dem Waldlande Rußlands erscheint
auch ganz Norrland", sagt L. von Buch, „von einem hohen Punkte
übersehen, als ein ungeheurer, grenzenloser Wald, den nichts unter-
bricht als hin und wieder der leere Raum, den kleine Seen ein-
nehmen, und kleine blaue Berge am Rande. Nur die Gegend der
Flüsse ist bewohnt und belebt, das übrige traurig und tot. Auch an
den rauschenden Flüssen, die nicht umsonst den Lachs heraussteigen
1 Trollhätta bedeutet Zauberhut.
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Extrahierte Personennamen: Esaias_Tegner Ernst Haparanda L._von_Buch
M njzlland.
|Lljjenn man — etwa von einem preußischen Landstädtchen aus —
"*** die russische Grenze überschreitet und an der Tamoschna (Zoll-
Haus) abgefertigt wird, so steht man dann in einem Lande, das, wie
Humboldt sagt, allein in seinem europäischen Umsang bedeutend
^größer ist als die Fläche der uns zugekehrten Mondscheibe. Es
erstreckt sich durch 25 Breitengrade vom 25. bis 70.0 nördl. Breite,
von der Südseite der Krim, wo ein ewiger Frühling herrscht und
die Weinstöcke im Winter unbedeckt bleiben, bis hinaus nach Kola,
wo im Winter die Sonne fast 2 Monate nicht ausgeht, oder von
den Filzzelten der Kalmücken und den Stanizen der Kosaken bis zu
den Tundren der Samojeden und Syrjänen. Desgleichen ist die
Ausdehnung des Landes in die Breite so ansehnlich, daß der Zeit-
unterschied zwischen der östlichsten und westlichsten Stelle bereits
3 Stunden beträgt, daß also für den Uralbewohner die Sonne
3 Stunden früher kulminiert als für den Wallfahrer in Tschenstochau.
Dies ungeheure Gebiet von 5l/2 Mill. □km ist nun durchweg Tief-
land und besitzt nur eine mittlere Bodenerhebung von 167 m. Es
finden sich ja einige Bodenanschwellungen, die aber selten eine Meeres-
höhe von 300 m überschreiten, und man wird sich durch die Bezeich-
nungen der Geographen nicht täuschen lassen, wenn sie von einer
Livländischen, Kasanschen und Krimischen Schweiz sprechen. Aus der
großen Tieflandstafel haben wir zehn Stromsysteme, die nicht nur
selbst bemerkenswerte Wasseradern sind, sondern auch durch ein so
reiches Kanalnetz miteinander in Verbindung stehen, daß Rußland
in dieser Beziehung nur etwa mit China zu vergleichen ist.1 „Selbst
die Nebengewässer der Nebenflüsse tragen im Sommer noch große
Dampser." Eine echt russische Eigentümlichkeit sind die Woloks,
schmale Isthmen zwischen zwei Flüssen, über die die Kähne geschleift
werden, und die an die nordamerikanischen portales erinnern. Am
interessantesten ist der kurze Wolok zwischen Tschussowaja, dem Neben-
sluß der Kama, also zum Wolgasystem gehörig, und den Wasser-
1 Uber die Wassewechältnisie in Nußland s. Teil I., S. 56—57.
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Extrahierte Personennamen: Humboldt
Extrahierte Ortsnamen: Tamoschna Tschenstochau China Tschussowaja Nußland
— 88 —
laufen des Obi in Asien bei Jekaterinburg. Nicht genug, daß im
Süden des Uralgebirges bis zum Kaspischen Meere hin sich das große
Völkerthor sindet, durch das zum Schaden Europas die asiatischen
Horden über Europa hineingebraust sind, sehen wir hier mitten im
Ural auch die Möglichkeit gegeben, mit einem und demselben Kahn
asiatische und europäisch-russische Wasseradern zu besahren. Die Paß-
höhe in Jekaterinburg liegt übrigens noch bedeutend unter dem Pslaster
von München. Die hauptsachlichste Wasserstraße in Rußland ist „das
Mütterchen" Wolga mit ihrer Stromlänge von 3400 km und fast
hinaus bis zur Quelle (bis Twer) schissbar. An ihr liegen 39 Städte
und über 1000 Dörser. An der nordischen Quelle haben wir ein
Sumpfgebiet, und au der Mündung Mandelbäume und Weinberge.
500 Dampfer verkehren auf ihr, und die Zahl der Barken ist beispiel-
los. Mit Hilfe der Dampfer ist es jetzt möglich, die Frachten von
Astrachan in einem Sommer bis Petersburg gelangen zu lassen,
während sie früher in Rybinsk überwintern mußten. Was die*
Barken betrifft, so wird ebenda eine Umladung vorgenommen. Es
scheidet sich die obere und untere Wolgaschiffahrt, und die Waren
werden aus den großen schweren Barken in leichtere Fahrzeuge ver-
packt. Aus allen Flüssen, sobald das Eis aufgetaut ist, bewegen sich
große Karawanen von Fahrzeugen, und die Hälste aller Frachten
wird so durch diese Frühjahrsverschiffung an Crt und Stelle ge-
schafft. Besondere Schwierigkeit macht die Überleitung der Barken
aus der Twerza, einem Nebenfluß der Wolga, durch das Schleusen-
system von Wischnei Wolotfchok in die Msta, einen Nebenfluß der
Wolchow, so daß dann weiter durch Ladogasee und Newa die Waren
bis nach Petersburg gelangen. Während Twerza und Msta von
Natur nur kleinere Bäche sind, werden bei Ankunft der Barken-
karawanen die Schleusen geöffnet, und „in unglaublich kurzer Zeit
sind die Bäche zu majestätischen Strömen geworden", die wohl über
3 m Tiefgang haben. Die Barken haben aber, auch wenn sie in die
Msta gelangt sind, noch eine Fährlichkeit zu bestehen, das sind die
Borovitzkischen Wasserfälle, wo der Boden des Flußbettes aus lauter
Felsen besteht und die Gefahr des Scheiterns bei ungenügender
Wassertiefe befürchtet werden muß. Das Schiffsvolk hält vor dem
Passieren dieser Stelle ein gemeinsames Gebet, der Eigentümer der
Barke entblößt sein Haupt, wirst Brot und Salz in den^ tosenden
Strom und ruft wie die alten homerischen Helden den ^tromgeist
an: „Mütterchen Msta, wir bringen dir Brot und Salz, sei gnädig
gegen uns". Der Anblick der schäumenden Wassermasse, der furchtbar
krachenden, schwachen Fahrzeuge, das ungeheure Gewühl der Schiffe
und Menschen, deren Aufmerksamkeit auf das äußerste gespannt ist,
damit nicht ein Versehen den Verlust der Barke herbeiführt, soll ganz
überwältigend sein. Das Holz der Fahrzeuge wird nach vollendeter
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— 89 —
Fahrt als Brennholz verkauft, und dieser ganze Vorgang ist den Be-
wohnern von Ost- und Westpreußen wohl bekannt. Auch dorthin
kommen die Weichsel herab oder aus der Memel und durch die Kanal-
Verbindungen in den Pregel bis Königsberg barackenähnliche Flöße
aus Polen und bringen Flachs oder Getreide. Die fahrzeugähnlichen
hölzernen Kasten sind die Wittinnen, und die Wittinniker heißen aus
der Weichsel Fliffaken, in Königsberg Dzimken. Auch hier werden die
Fahrzeuge, wenn die Ladung gelöscht ist, an die Holzhandlungen verkauft.
Das Üble bei der Wolgastraße ist nur, daß der Fluß in ein
Binnenmeer mündet. Der Kaspische See ist eine Singularität in
der Geographie, „der größte Steppensee", noch umfangreicher wie
die Ostsee und ganz abgeschnitten von aller Meeresverbindung. Sein
Spiegel liegt 26 m tiefer als das Meeresniveau, er ist in seinem
südlichen Teile bis 1000 vi tief, allerdings im Norden auch recht
seicht, so daß das Lot meist schon bei 5 oder 6 in den Grund er-
reicht. Man hat für die Erklärung dieser geographischen Merkwürdig-
keit eines 8000 Qm. großen Binnensees verschiedene Hypothesen
ausgestellt und will den Kaspisee als einen Rest der großen Meeres-
masse, die mit dem Eismeere zusammenhing, betrachten. Uns inter-
essiert mehr die Bedeutung, die dieser „See" für Rußland hat, und
die Rolle, die er in den Zeiten des Mittelalters spielte. Der Kaspische
See ist für Rußland insofern von großer Wichtigkeit, als er meist
rings von russischem Gebiet eingeschlossen ist. Er vermittelt den Ver-
kehr mit Persien und dem Orient, doch aber nicht in dem Maße, wie
das srüher geschehen ist. Astrachan, das diesen ganzen Verkehr in
sich zu konzentrieren berufen ist, leidet unter ungünstigen Hasenver-
hältnisfen. Schon von Zarizyn ab ist das ganze unterste Gebiet des
Wolgastromes angeschwemmtes Land; daher nennt es Humboldt
„Schlund des Kaspischen Meeres". Der Fluß strömt langsam durch
Schils und Wiesengründe, spaltet sich bei Astrachan in 60 Arme, von
denen der bedeutendste 7 km breit ist. Durch diese Verästelungen
verslacht sich das Fahrwasser, und nur bei einer günstigen Wind-
richtung können die Fahrzeuge vom See nach Astrachan gelangen.
Mehr noch als durch den Handel hat Astrachan Wert durch seine
Fischerei. Hier ist das „Comptoir" der unermeßlichen Fischereien in
Wolga und Kaspischem Meer, welche viele Tausende von Menschen
beschäftigen und jährlich Millionen von Rubeln abwerfen. Auch soll zur
Zeit des Fischfangs sich die Einwohnerzahl verdoppeln. Den Hauptfang
bilden Sterlet und Stör, aus dessen Rogen der Kaviar bereitet wird.1
Die Wolga soll übrigens gegenwärtig mehr und mehr an Wasser ver-
lieren, da in Rußland die Waldungen zu unvernünftig abgeholzt werden.
1 Die Tataren nennen daher auch die Wolga Jti, d. i. die Freigebige. Die
Strecke von Zarizyn bis zum Meere wimmelt von Heringen, und ein einziger Fang
soll mitunter schon 80000 Heringe ergeben haben.
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— 90 —
Das Kaspische Meer hat als Vermittler des Verkehrs mit dem
Orient das ganze Mittelalter hindurch eine große Rolle gespielt.
Darauf deuten die zahlreichen Münzfunde an der ganzen Handels-
straße bis nach Pommern hinein, und Rubel, die nationale Münze
der Russen, heißt ursprünglich nichts anderes als Hacksilber, mit dem
bekanntlich die orientalischen Händler die eingehandelten Waren be-
zahlten. Dieses Verkehrs mit dem Orient bemächtigten sich schon
frühe die großen italienischen Handelsrepubliken, Venedig und zuletzt
namentlich Genua. Als infolge der Kreuzzüge Rom den Handels-
verkehr mit den Türken verboten hatte und deshalb „der indische
Warenzug, der über Ägypten gegangen war, sein Ende sand", grün-
deten die Venetianer am Schwarzen Meere Niederlassungen, um die
indischen Waren, die vom Kaspischen Meere herabgebracht waren, in
Empfang zu nehmen. Die Waren nämlich gingen von Astrachan die
Wolga hinauf bis dahin, wo zwischen Wolga und Don ein Wolok
ist, überschritten diesen und wurden dann den Don hinab bis wieder
ans Schwarze Meer geführt. Umgekehrt hat diesen Weg auch der
Venetianer Marko Polo 1260 bei seiner berühmten Entdeckerfahrt
ins mittlere Asien eingeschlagen. Bald aber verdrängten die Genuesen
ihre Konkurrenten, und jetzt wurde Kaffa an dem Stretto di Caffa
das Handelsemporium. Mächtig blühte die Stadt empor und soll
an Einwohnerzahl Konstantinopel übertroffen haben; daher „das
zweite Stambul". Später, als die Türken die Stadt einnahmen,
ging es mit der Handelsbedeutung zurück. Die Russen nennen die
Stadt Feodofia. Die russische Regierung hat auch neuerdings noch
daran gedacht, eine direkte Wasserverbindung des Schwarzen Meeres
mit dem Kaspisee herbeizuführen und hierzu die Manytschniederung
zu benützen. Von dem Manytschsee zieht sich eine Flußverbindung
nach dem Don und andererseits nach dem Kaspischen Meere, die aller-
dings nur bei Hochwasser als dauernd angesehen werden könnte.
Auch zwischen Don und Wolga soll früher ein Kanal existiert haben,
den die Tatarenchane mit 17 Schutztürmen versahen.
Der zweitgrößte Strom in Rußland ist der Dniepr, dessen
Quelle nur durch slache Hügel von der Wolga und Düna getrennt
ist. Smolensk an ihm beherrscht die Straße, die aus dem Westen
Europas nach dem Herzen Rußlands führt, also nach Moskau, und
aus ihr ist Napoleon 1812 gezogen. Der Nebenfluß Berefina sah
am 26. November den Zusammenbruch Oes einst so stolzen Heeres
und ist in der Geschichte deshalb berüchtigt. Von Kiew an durch-
strömt der Fluß den uralisch-karpatischen Landrücken; die Ufer werden
immer höher und steiler, so daß sie bei Krementschuk bis zu 80 m an-
steigen, das Flußthal wird immer enger mit tiefem Felsenbett, und es
finden sich hier die Stromschnellen, Porogi, die die Besahrung des
Dniepr sehr beschwerlich machen. Daher siedelten sich auf den Inseln
TM Hauptwörter (50): [T40: [Polen Ungarn Land Rußland Preußen Stadt Donau Provinz Hauptstadt Königreich], T6: [Insel Stadt Meer Hafen Handel Hauptstadt Land Küste Einw. Halbinsel], T17: [Meer Fluß Gebirge Land Hochland See Halbinsel Osten Norden Süden]]
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Extrahierte Personennamen: Marko_Polo Caffa Napoleon Nebenfluß_Berefina
Extrahierte Ortsnamen: Pommern Venedig Genua Rom Astrachan Wolga Konstantinopel Wolga Rußland Europas Moskau Kiew
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des Flusses in dieser Gegend russisch-normannische Ansiedler an, um
von der Beraubung der Flußschiffer zu leben. Später folgten
Kosaken. — Nach der rumänischen Grenze zu ist noch der Fluß
Dniestr zu erwähnen, der Tyras der Alten, der eine reifende Strö-
mung hat, so daß das Urteil des Ovid millo tardior amne Tyras
sich wohl nur aus das Mündungsgebiet beziehen kann. Der kurze
Laus der Newa endlich ist nicht allein durch seine merkantile Be-
deutung von Wichtigkeit, wie wir das weiter unten sehen werden,
sondern ganz Petersburg ist in einer noch nie dagewesenen Weise
von dem Wasser des Flusses abhängig. Da die Stadt auf Sumpf-
boden erbaut ist, liefert die Newa alles Wasser zum Kochen und —
Trinken, und es sind zwei sür die ganze Stadt wichtige Festtage,
wenn am 6. Januar unter feierlichen und religiösen Ceremonien die
Wasserweihe vollzogen wird, und wenn bei Frühlingsansang das Eis
des Flusses zu tauen ansängt und unter dem Donner der Kanonen
der Kaiser den ihm überbrachten Becher des Newawassers aus das
Wohl seiner Residenz leert.
Den Reichtum Rußlands und seine ganze Machtstellung bedingt
der Ural. Dies hat schon Ritter behauptet. Das etwa 2000 km
lange Gebirge ist das einzige größere in Europa, das genau in der
meridionalen Richtung verläuft, also eigentlich an die Streichungs-
linien der amerikanischen Gebirge erinnert. Seine geringe Erhebung
sichert ihm aber nicht einen so durchgreifenden Einfluß wie eben den
Höhenzügen der westlichen Hemisphäre; dennoch empfiehlt es sich recht
gut als Scheide zweier Erdteile. Die reichen Laubwälder Rußlands,
also Europas, finden sich nur aus seiner westlichen Seite, weder die
Eiche noch die Linde überschreiten seinen Kamm, und auf der asiatischen
Seite beginnen die unermeßlichen Tannenwälder und weiter südlich
die Steppenlandschasten Sibiriens. Die staunenswerte Bedeutung
des Gebirges liegt vor allem in seinen Mineralschätzen. Fast un-
erschöpslich sind die Eisensteinlager, so daß es 2/3 alles russischen
Eisens liefert und die Bergbeamten äußerten: wir könnten ägyptische
Pyramiden aus reinem Eisen bauen, wenn nur die Brennmaterialien
da wären. Peter der Große siedelte am Ural Schmiede aus Tula
an, beschenkte sie mit großen Waldflächen, und dieselben haben hier
kolossale Reichtümer erworben, wie die aus der Geschichte der Na-
poleoniden bekannten Demidoffs. Ebenso ansehnlich ist die Ausbeute
des Gebirges an Edelmetallen, worunter die Goldseisen am Ostfuß
des Urals besonders erwähnenswert sind. Das sonst selten gefundene
Platina wird hier in reichem Maße gewonnen. Rußland machte
sogar den gewagten Versuch, daraus Münzen prägen zu lassen; im
ganzen waren davon schließlich 10 Millionen Mark im Umlauf, sie
sind aber seit 1863 wieder eingezogen. Da Platin als Edelmetall
nicht rostet, sindet es bei subtilen Wägungen als Gewicht seine Ver-
TM Hauptwörter (50): [T17: [Meer Fluß Gebirge Land Hochland See Halbinsel Osten Norden Süden], T19: [Wasser Luft Eisen Körper Silber Gold Kupfer Metall Stein Erde], T39: [Jahr Million Geld Mark Arbeiter Arbeit Zeit Summe Staat Thaler]]
TM Hauptwörter (100): [T6: [Eisen Gold Silber Kupfer Wasser Blei Metall Salz Kalk Stein], T48: [Fluß Meer See Strom Land Wasser Mündung Kanal Lauf Ostsee], T70: [Boden Teil Land Wald Gebirge Ebene Gebiet See Klima Tiefland], T36: [Million Mark Jahr Geld Thaler Mill Summe Wert Gulden Pfund], T78: [Polen Rußland Preußen Land Orden Russe Stadt Reich Warschau Weichsel]]
TM Hauptwörter (200): [T107: [Eisen Gold Silber Kupfer Blei Metall Salz Zinn Stein Mineral], T87: [Meer Rußland Wolga Stadt Petersburg Moskau See Ostsee Hauptstadt Ural], T39: [Million Mark Geld Jahr Summe Steuer Thaler Staat Ausgabe Einnahme], T32: [Wald Baum Boden Eiche Steppe Höhe Ebene Wüste Teil Tanne], T119: [Fluß See Kanal Strom Lauf Wasser Land Ufer Mündung Elbe]]
Extrahierte Ortsnamen: Petersburg Europa Europas Sibiriens Tula Goldseisen
Wendung und ist auch sonst in der Technik unentbehrlich. Der Ural
hat sich, wie dies Guthe ausführt, als einen bedeutenden Förderer
der Kultur erwiesen und hat namentlich dazu beigetragen, daß Ruß-
land seine wichtigen Kanalverbindungen erhielt; denn es galt, das
uralische Eisen an die Ostsee zu bringen, um so mit Erfolg dem
schwedischen die Spitze bieten zu können.
Wenn vorhin über den Bedarf an Brennmaterialien eine Klage
berührt wurde, so hat das seine Richtigkeit. Rußland hat ja Stein-
kohlen gesunden, so am Ural selbst, dann bei Tula, und als der
Krimkrieg ausgebrochen war und die russischen Dampfer nicht mehr
englische Kohlen beziehen konnten, suchte man in der Umgegend
Tauriens um so eifriger und sand zum Glück die Donezkohlen. Das
hauptsächlichste Brennmaterial bleibt in Rußland aber doch immer
das Holz der Bäume, und in den schier endlosen Waldslächen des
nördlichen Rußlands schien ein Vorrat sast für die Ewigkeit dar-
geboten.1 40 % des Gesamtareals oder über 2 Millionen □ km
sind mit Wald bedeckt, und in diesen Holzmassen „steckt ein gut Teil
des russischen Nationalvermögens". Leider muß neuerdings immer
mehr zugestanden werden, daß eine ganz gewissenlose Waldverwüstung
dieses kostbare Vermögen erheblich zu mindern beginnt, und wir hatten
davon schon bei der verringerten Wassersülle der Wolga gesprochen.
In Rußland nämlich verschlingt „das verschwenderische Heizen der
Häuser unglaubliche Massen von Brennholz. Nicht nur die Wohn-
zimmer werden geheizt, auch Flur und Stiegen müssen erwärmt
werden, und zwar oft das ganze Jahr hindurch trotz des kontinentalen
Sommers; fand doch ein Reisender mitten im Sommer trotz 25° im
Schatten noch geheizte Wohnräume." Dazu kommt der Verbrauch
der Badestuben, die sich sogar auf den Dörfern finden, und die
nationale Bauart der Holzhäuser. In früheren wirtschaftlichen
Perioden lieferte vielleicht das Land auch einem solchen massenhaften
Bedarf gegenüber noch genug Holz; seitdem aber die Industrie aus-
geblüht ist, macht sich Holzmangel fühlbar. Wohl zu beachten ist
doch auch das Klima des Landes. Im Norden Rußlands sind die
Gewässer 7—8 Monate von Eis bedeckt, im mittleren 5—6, im
Süden 3 - Monate. Und trotz solcher Thatsachen lieben es die Russen,
von der „Wärme" ihres Landes zu sprechen, und können sich aller-
dings darauf berufen, daß bei der weiten Ausdehnung nach Süden
bei ihnen „noch die Eitronen blühen" und das Kamel als Haustier
erscheint. Kaiser Nikolaus hatte einen ausgeprägten Widerwillen
gegen Pelze.
Über die schwarze Erde oder das ^.schernosem habe ich schon
1 „Von den hochgelegeneren Dörfern genieszt man eine unbeschränkte Fernsicht
über einen wahren Waldocean. Es erstarrt jeder heitere Gedanke, und man sehnt
sich hinweg aus den endlosen düsteren Waldstrecken." Bode.
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im Teil I gesprochen.1 Erstaunlich sind die Mengen des geernteten
Getreides, doch sind Mißernten mitunter nicht ausgeschlossen. Gleich-
wie in den Pußten Ungarns, herrscht auch hier ein völliger Mangel
an Steinen, so daß an den Bau von Chausseen nicht hat gedacht
werden können. Bei Regen und Tauwetter sind die Poststraßen hier
derart grundlos, daß 5—6 Pferde kaum im stände sind, eine Equipage
fortzubewegen. Dadurch ist natürlich die Verwertung der Getreide-
massen, die hier aus völlig ungedüngtem Boden wachsen, sehr be-
hindert. Neuerdings hat man mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes
in Rußland erfreuliche Fortschritte gemacht. Wir sehen zunächst einen
gewaltigen Schienenstrang von Archangelsk, der Erzengelstadt (archi-
angelus Michael), bis hinunter nach Sebastopol über 20 Breiten-
grade hin, so daß diese Bahnlinie wohl die längste Eisenbahn in
streng meridionaler Richtung in Europa zu nennen ist. Gerade in
der Mitte dieser ganzen Strecke liegt Moskau, über dessen Bedeutung
wir noch weiter unten sprechen werden. Die nördlichste Eisenbahn-
station ist Uleaborg am Bosnischen Meerbusen unter 65 °. Rußland
ist das Land der gewaltigen Rohproduktion, und die Ausfuhr des
Getreides beträgt fast die Hälste aller Bahnsrachten. Da ist es von
größter Wichtigkeit, daß Rußlands Eisenbahnnetz recht viel Anschlüsse
an das Ausland hat. Es sind im ganzen aber nur 9 Eisenbahn-
linien, die ins westliche Ausland führen. Wie ungünstig steht es da
Deutschland gegenüber, dem richtigen Lande der Mitte, das 72 solcher
Anschlüsse hat, und auch Frankreich zählt noch 37. Dafür will Ruß-
land aber nach Lsten hin epochemachend auftreten durch seine Riesen-
that der sibirischen Bahn, die in Wladiwostok und Port Arthur den
Großen Ocean erreicht. - Auch wird man jetzt an einer anderen
Stelle mit dem Dampsroß in Asien eindringen, da eine Bahn von
Wladikawkas über den Kaukasus nach Tiflis geplant ist.
Wenn wir im Norden Rußlands von einem Waldocean sprechen
konnten, so hat der Süden, die Steppenregion, gar keinen Baum-
wuchs. So erscheinen diese Gegenden seit über 2000 Jahren, seit
Herodot, und man muß auch daraus verzichten, sie je mit Bäumen zu
versehen, da sie felsigen sgranitischen oder kalkigen) Untergrund haben,
so daß den Wurzeln der Bäume verwehrt ist, tief einzudringen. Da-
sür bilden aber hier Staudengewächse einen wahren Wald, der so
hoch ist, daß er zum Teil die Rinderherden verdeckt. Hans schießt
bis zu 6 m auf. Diese Staudengewächse mit ihren kräftigen und
holzigen Stengeln ersetzen das Brennholz und bilden den bekannten
Burian, dem Viehmist als zweiter erwünschter Ersatz sür das Brenn-
holz an die Seite tritt. Vorzüglich eignen sich aber diese großen
* S. 61.
2 Teil I, S. 8 — 9.
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Extrahierte Personennamen: Michael) Arthur Wladikawkas Herodot
Extrahierte Ortsnamen: Ungarns Archangelsk Sebastopol Europa Moskau Bosnischen_Meerbusen Deutschland Frankreich Wladiwostok Asien Tiflis