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andere wilde Tiere wurden durch Hunger, Peitschenknallen, Verwundung
durch Fackeln oder Stacheln zur Wut gereizt und auf den Fechter zu
einem Kampfe auf Leben und Tod losgelassen. Das gegenseitige Zer-
fleischen von Mensch und Tier war Augenweide für das entartete Volk.
Je mehr Blut floß und je mehr Tiere und Menschen fielen, — oft
viele hundert —, desto gelungener war das Schauspiel!
Unter den prächtigen Marktplätzen zeichnete sich der Tr ajan s mit
einer Ehrensäule aus, die mit allerlei Bildwerk und Inschriften bedeckt war.
Den Kaisern Titus und Konstantin
wurden später schöne Triumphbogen
errichtet (vergl. Abb. 81). Sehr ge-
schickt und dauerhaft waren die Heer-
straßen angelegt. Sie gingen von
dem goldenen Meilensteine auf
dem Forum Romanum aus und
liefen nach allen Teilen des weiten
Reiches. Großartig waren die Wasser-
leitungen, prachtvoll und vielbenutzt
die öffentlichen Badehäuser. Alle
diese Bauwerke finden sich noch heute
in Rom entweder in Trümmern oder
in veränderter Benutzung.
Neben dem unsinnigsten Luxus
der Reichen in Rom seufzte das Elend
der zahlreichen Armen. Die Sitten
verfielen immer mehr. Die Götter
wurden verlacht, die Ehen gebrochen,
das Familienleben zerstört, die ehrliche
Arbeit verachtet, die unsinnigsten
Schwelgereien getrieben, Mitleid und
Erbarmen gegen Unglückliche vergessen
und täglich neuen Vergnügen nachgelaufen. Ein Dichter seufzte angesichts
dieser Sittenverderbnis: „Es ist schwer, kein Spottgedicht zu schreiben!"
3. Seine kluge Regierung. Der Wille eines Einzigen lenkte
die ungeheure Staatsmaschine. Aber klug ließ er die Republik zum
Schein fortbestehen und begnügte sich, alle höheren Ämter in seiner Person
zu vereinigen und sie sich jährlich erneuern zu lassen. Dem ruhebedürftigen
Volke gab er Brot und Spiele. Den Erpressungen der Beamten wehrte
er und führte feste Gehälter ein. Künste und Wissenschaften wurden
besonders von seinem hochgebildeten Freunde Mäcenas gefördert. Vir-
gilius dichtete die Änöide, Horatius seine Oden, Ovidius die Meta-
morphosen und Phädrus seine Fabeln. Man nennt diese Zeit das
Augusteische oder goldene Zeitalter der Litteratur. Das glückliche Volk
nannte Augustus den „Vater des Vaterlandes". Seinen Nachfolgern
rief man zu: „Sei glücklicher als Augustus und besser als Trajan!"
Mon der römischen Schrift. Griechen und Römer schrieben auf
Wachstafeln und Papyrusrollen, in den Zeiten nach Christi Geburt auch
6*
TM Hauptwörter (50): [T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T9: [Tempel Stadt Kirche Säule Zeit Gebäude Bau Mauer Haus Dom]]
TM Hauptwörter (100): [T98: [Volk Land König Krieg Zeit Feind Mann Macht Freiheit Kaiser], T76: [Stadt Straße Haus Schloß Kirche Gebäude Mauer Platz Garten Dorf], T25: [Wissenschaft Kunst Zeit Sprache Geschichte Schrift Buch Werk Jahrhundert Erfindung], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache]]
TM Hauptwörter (200): [T177: [Volk Recht Gesetz Freiheit Land Strafe Mensch Gewalt Leben Staat], T115: [Tempel Stadt Rom Zeit Athen Pyramide Bau Ruine Denkmal Säule], T63: [Kaiser Macht Rom Zeit Volk Jahr Mann Staat Augustus Name], T143: [Stadt Kind Tag Haus Straße Mann Mensch Weiber Nacht Soldat], T172: [Dichter Zeit Gedicht Schiller Werk Goethe Maler Dichtung Lied Hans]]
Extrahierte Personennamen: Konstantin Augustus Augustus
828
Immer bedeutsamer wurde die Stellung der Frauen am Anfänge
dieses Jahrhunderts. Ihre Teilnahme am öffentlichen Leben und ihr
Einfluß auf die Litteratur und die Volkswohlfahrt wuchsen von Jahr
zu Jahr. In den Befreiungskriegen brachten sie begeistert die größten
Opfer. Preußische Prinzessinnen erließen am 1. April 1813 einen
Aufruf an die Frauen aller Stände, worin sie zur Mitarbeit an der
Rettung des Vaterlandes aufforderten durch regelmäßige Gaben an Geld,
Schmucksachen, Verbandstoffen, Wollen- und Leinenzeugen, durch Pflege
der Verwundeten, Erquickung der Kämpfer u. s. w. Der Erfolg war
ein großartiger, der Anteil der Frauen an der Befreiung des Vaterlandes
ein reich gesegneter. Als Schutzgeist begleitete die Freiheitskämpfer das
Bild der verklärten Königin Luise. Die arme, aber edelgesinnte
Ferdinande von Schmettau opferte ihr reiches, schönes Lockenhaar auf
dem Altar des Vaterlandes. Hofrat Heun ließ daraus Uhrbänder und
Ringe Herstellen und löste dafür 3600 Mark. Eleonore Prohaska,
die Heldenjungfrau, trat als „Jäger August Renz" in das Lützow'sche
Freikorps, focht und fiel als Heldin in dem Gefechte an der Göhrde
in Hannover. Glücklicher war die Mecklenburgerin Friederike Krüger.
Sie brachte es im Aork'schen Korps zum Unteroffizier und kehrte, mit
dem eisernen Kreuze und einem russischen Orden geschmückt, heim.
Johanna Stegen half das Gefecht bei Lüneburg siegreich entscheiden,
indem sie den Preußen, die sich schon zurückziehen wollten, aus einem
umgestürzten französischen Munitionswagen im Kugelregen Patronen in
der Schürze zutrug. Begeistert pries ein Rück er t den Opfermut der
deutschen Frauen.
Die Dichtkunst in ihrer schönsten Blütezeit haben deutsche Frauen
wesentlich beeinflußt. Es braucht bloß erinnert zu werden an Goethes
Mutter, die Frau Rat, an Schillers Gattin Charlotte von Lengefeld,
an die Herzogin Amalie von Weimar und an die herrlichen Frauen-
gestalten, die Goethe und Schiller in ihren Meisterwerken gezeichnet haben.
Auch um die Volkswohlfahrt erwarben sich Frauen die größten
Verdienste. Luise Scheppler, die treue Dienstmagd des Pfarrers
Ob erlin im Stei nthale, führte zuerst den Gedanken der Kleinkinder-
Bewahranstalten aus. Weitere Verbreitung erhielten diese wohlthätigen
Anstalten durch die edle Fürstin Pauline von Lippe-Detmold.
Als Gründerin der so segensreichen Frauenvereine muß Amalie
Sieveking in Hamburg angesehen werden. Sie gründete in der
Cholerazeit den Frauenverein „Tabea" für Armen- und Krankenpflege,
der viel Elend gelindert hat. Auf ihren Wunsch wurde sie, wie ihre
lieben Armen, in einem Sarge mit flachem Teckel begraben.
Das Glück und Behagen des häuslichen Lebens hing haupt-
sächlich von den Frauen ab. Sie entschieden über die innere Einrichtung
des Hauses. Viel Porzellan, Zinngeschirr, Betten und Leinenzeug war
ihr Stolz. Speise und Trank bereiteten sie selbst. Kaffee wurde der
beliebte Früh- und Nachmittagstrunk. Immer rührten sie die fleißigen
Hände, strickten, nähten, sotten Seife, gossen Lichte, schlissen Federn,
spannen am Rade und besuchten sich in Spinustuben.
TM Hauptwörter (50): [T33: [Kind Vater Mutter Frau Mann Jahr Sohn Gott Haus Eltern]]
TM Hauptwörter (100): [T39: [Kind Vater Mutter Frau Mann Haus Jahr Eltern Sohn Knabe], T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod], T69: [Kirche Kloster Stadt Schule Bischof Gemeinde Orden Land Priester geistliche], T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T75: [Haar Auge Kopf Hand Gesicht Mann Farbe Mantel Fuß Frau]]
TM Hauptwörter (200): [T111: [Kind Mutter Vater Eltern Frau Jahr Knabe Schule Haus Mann], T61: [Wilhelm Friedrich Prinz König Luise Jahr Königin Gemahlin Prinzessin Kaiser], T43: [Haus Frau Kind Mann Arbeit Wohnung Familie Zeit Zimmer Kleidung], T136: [Leben Mensch Geist Natur Zeit Volk Welt Kunst Sinn Wesen], T106: [Kloster Jahr Schule Mönch Kirche Kind kranke Frau arme Knabe]]
Extrahierte Personennamen: Eleonore_Prohaska August Friederike_Krüger Johanna Goethes Schillers_Gattin_Charlotte_von_Lengefeld Amalie_von_Weimar Goethe Schiller Luise_Scheppler Amalie
Sieveking
271
An allen künstlerischen Schöpfungen nahm sie den lebhaftesten Anteil.
Von den Dichtern liebte sie besonders die Franzosen Racine, Corneille
und Moliöre. Die damaligen geistlosen deutschen Reimereien konnten
einen so lebhaften, feinen Geist nicht fesseln. Ihre geistvollen Briefe
sind in einem vorzüglichen Französisch geschrieben, die meisten und besten
an Leibniz und ihre Freundin Fräulein von Pöllnitz. Der letzteren
schrieb sie einmal: „Ich will lieber, daß Sie an meinem Verstände, als
daß Sie an meiner Freundschaft zweifeln."
Besondere Liebe und Sorgfalt verwandte sie auf die Erziehung
ihres Sohnes, der später als König Friedrich Wilhelm 1. den Thron
bestieg. Als Erzieherin wählte sie die feingebildete französische Prote-
stantin Frau von Rocoule, die dann auch den großen Friedrich
erzogen hat. Der Sohn war beiden Eltern unähnlich und ließ sich
wenig beeinflussen. Er war eine tüchtige, eigenartige Natur, aber maßlos
heftig und eigensinnig. Auch die beste der Mütter konnte seine starre
Eigenart nicht beugen. Er ärgerte sich über seine zarte Gesichtsfarbe,
rieb deshalb das Gesicht mit einer Speckschwarte ein und legte sich in
die Sonne, um braun zu brennen. Eine Schnalle verschluckte er, um
sie nicht herzugeben. Er drohte sich aus dem Fenster zu stürzen, als
seine Erzieherin ihm nicht den Willen that. Der so ganz anders ge-
artete und doch geliebte Sohn ging später zu seiner Ausbildung auf
Reisen. Mit Weh im Herzen ließ sie ihn ziehen und sah ihn auf Erden
nicht wieder. Auf einer Reise nach Hannover zu ihren Eltern erkrankte
sie und starb im Alter von 37 Jahren. Die Königskrone hatte sie nur
5 Jahre getragen. Schön und friedlich wie ihr Leben war auch ihr
Sterben. Nicht eine Spur von Todesfurcht zeigte sie. Zu der weinen-
den Freundin am Sterbelager sagte sie: „Haben Sie denn geglaubt, daß
ich unsterblich sei?" Dem Geistlichen sagte sie: „Ich habe 20 Jahre
über die letzten Dinge nachgedacht. Ich kenne keine Furcht vor dem
Tode und hoffe, mit meinem Gott gut zu stehen!"
König Friedrich war untröstlich über den unersetzlichen Verlust
und suchte wenigstens in der düstern Pracht der Begräbnisfeierlichkeiten
seinem Schmerze Ausdruck zu geben. Sophie Charlotte ist eine von den
glücklichen Kronenträgerinnen gewesen, denn sie hat ihren Kreis ausgefüllt
und ihre edle Natur rein und voll ausgelebt.
7. Friedrich I. starb gottergeben. Friedrichs Lebensabend war
durch häusliche Kümmernisse und durch eine furchtbare Pest in Preußen
getrübt. Seine letzte Freude war die Geburt eines Enkels, der bei dem
glänzenden Tauffeste den Namen Friedrich erhielt. Die Nachwelt hat
diesen den Großen genannt.
Auf seinem Totenbette sprach Friedrich I.: „Die Welt ist nur ein
Schauspiel, das bald vorübergeht. Wer nichts als dieses hat, ist übel
dran." — „Gott ist gewißlich meines Lebens Kraft gewesen von Jugend
auf; ich fürchte mich nicht vor dem Tode; denn Gott ist mein Licht
und Heil." In einer Anweisung für die Erziehung des Kronprinzen
sagt er: „Gleichwie andere Menschen durch Belohnungen und Strafen
der höchsten Obrigkeit vom Bösen ab- und zum Guten angeführt
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T33: [Kind Vater Mutter Frau Mann Jahr Sohn Gott Haus Eltern], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
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Extrahierte Personennamen: Friedrich_Wilhelm Friedrich Wilhelm Friedrich Friedrich Friedrich Friedrich Sophie_Charlotte Friedrich_I. Friedrichs Friedrich Friedrich Friedrich_I. Friedrich_I.
142
Bernhard ten Brink.
Bretterwelt hinausdrang. Und auch hier bietet seine Biographie uns
charakteristische Zuge, die uns in sein Inneres einen Blick werfen lassen.
Vom Jahre 1592 bis zum Jahre 1599 sehen wir den Dichter die
Höhe seiner Kunst ersteigen und zugleich in der Kunstwelt und in der
Gesellschaft sich eine gesicherte, allgemein anerkannte Stellung erobern.
Im ersten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts schafft er dann seine
tiefsten, großartigsten Werke. Aber noch bevor er den Höhepunkt erreicht,
sehen wir ihn die ersten Schritte thun, um sich für seine späteren Jahre
in seiner Geburtsstadt ein ruhiges Heim zu bereiten. Shakspere hatte
in London die Heimat und die Seinigen nie aus den Augen verloren;
sobald er es vermochte, hatte er die Seinigen an seinem beginnenden
Wohlstand teilnehmen lassen, zweifellos auch häufiger sie auf längere
oder kürzere Zeit besucht. Bereits i. I. 1597 aber begann er sich in
Stratford anzukaufen, den Plan vorzubereiten, den er dann nicht wieder
fahren ließ. Und gegen das Jahr 1609 — etwas früher oder später
— gelangte der lange gehegte Lieblingsgedanke endlich zur Verwirk-
lichung. Der Dichter verließ die Bühne und die Großstadt und zog
sich nach seiner stillen Heimat, zu Wald und Wiese, zu Frau und
Kindern und Enkelin zurück, um die ihm noch beschiedenen Tage in
edler Muße und ruhig beschaulichem Genuß zu verleben. So schloß
sich das Ende seines Lebens wieder dem Anfang an zur schönen Voll-
endung des Kreislaufes.
Shaksperes Leben, mit dem seiner dramatischen Zeitgenossen ver-
glichen, ist ebenso singulär, wie seine Werke sich unter den ihrigen
ausnehmen.
Der einzige unter ihnen, der keine akademische Erziehung genossen,
der in einfachen Verhältnissen, in vertrautem Verkehr mit der Natur
groß geworden, seine Bildung mehr dem Leben als der Schule ver-
dankte. Früher als einer von den andern hatte Shakspere seine Zu-
kunft gestaltet in einer Weise, die nichts Großes für ihn erhoffen ließ.
Aber das, woran ein anderer zu Grunde gegangen wäre, wurde ihm
nur ein Sporn, ein neues Lebensblatt mit frischem Mut zu beginnen.
Enger als irgend einer seiner dramatischen Nebenbuhler schloß
Shakspere sich in London dem Bühnenleben an. Aber weit entfernt,
in dem lockeren Getriebe, wie so viele andere, an Seele und Leib zu
Grunde zu gehen, erwuchs er zum Mann, zum Künstler und Dichter,
zur geistigen und auch zur materiellen Selbständigkeit und Unabhängig-
keit. — Wohlhabend, angesehen, berühmt, verließ er dann in der Kraft
seiner Jahre das Theater und die Großstadt, um als Landedelmann
in der Heimat seine Tage zu beschließen.
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie]]
TM Hauptwörter (100): [T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume]]
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132
Bernhard ten Brink.
als unerklärter Rest übrig? — Nehmen wir Goethe, der uns zeitlich
so nahe steht, über dessen Leben so reichliche Kunde fließt, Goethe, der
sich selber herbeigelassen hat, uns über seine Entwickelung zu berichten,
und der uns in „Dichtung und Wahrheit" ein Werk geschenkt hat, das
Wilhelm Scherer einmal als „die Kausalerklärung der Genialität" be-
zeichnet hat. „Kausalerklärung der Genialität" — wenn man hier
wenigstens nur von einer „Kausalerklärung dieses besonderen Genius"
reden könnte! — Aber finden wir diese in „Dichtung und Wahrheit"?
Erfahren wir daraus irgendwo, wie Goethes Genie entstanden ist? —
Nein, höchstens eine Reihe von Bedingungen lernen wir kennen, unter
denen dieses Genie sich in bestimmter Richtung entwickelt hat! — Das
ist alles — das eigentliche Ur- und Grundgeheimnis bleibt unauf-
geklärt. Und so werden wir auch bezüglich Shaksperes unsere An-
sprüche nicht zu hoch schrauben dürfen. Alles, was wir zu erreichen
hoffen können, wird dieses sein: die Erkenntnis, daß die innere Ent-
wicklung des Dichters, wie sie sich aus seinen Werken erschließen läßt,
sich mit dem, was wir vom Leben des historischen Shakspere wissen,
wohl verträgt, ja in manchen Umstünden dieses Lebens entschiedene
Förderung gefunden haben muß. Bei dem Versuch, dies zu zeigen,
werde ich Ihnen natürlich nicht die Biographie des Dichters von neuem
vorerzählen; ich werde daraus vielmehr nur die Momente hervorheben,
die für unseren Zweck von Bedeutung sind.
William Shakspere war der älteste Sohn und das erste am
Leben gebliebene Kind seiner Eltern, wurde daher von ihnen ohne
Zweifel mit besonderer Liebe und Sorgfalt gepflegt. Er erwuchs in
einem Hanse, wo auf der Grundlage ehrenhafter Arbeit ein behaglicher
Wohlstand sich entwickelt hatte, und das sich in der Stadt Stratford
eines hohen Ansehens erfreut haben muß. Sein Vater, John Shak-
spere, zugleich Landwirt und Geschäftsmann, eine in derartigen Land-
städten häufige Kombination, war von Michaelis 1568 bis Michaelis
1569 high bailiff, erster Amtmann in Stratford. Im September
1571 wiederum wurde er zum ersten Aldermann erwählt. Seine Mutter,
Mary Arden, gehörte einer der angesehensten Familien der Grafschaft
Warwick an, die sich entschieden zu der Gentry rechnen durfte.
Shakspere erwuchs in einfachen, ziemlich primitiven Verhältnissen;
bei seinen Eltern fand er keine höhere geistige Bildung. Auf der
grammar-school seiner Vaterstadt, die er nach dem durchaus glaub-
haften Zeugnis eines seiner ältesten Biographen besuchte, wird er in
die Kenntnis des Lateins, in die Elemente der Logik und Rhetorik und
so noch in manches andere eingeführt worden sein.
Das meiste von dem, was er sich in derartigen Dingen erwarb,
wird er sich späterhin als Autodidakt erworben haben. Und während
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
TM Hauptwörter (100): [T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T39: [Kind Vater Mutter Frau Mann Haus Jahr Eltern Sohn Knabe], T45: [Kind Lehrer Wort Schüler Buch Unterricht Schule Frage Buchstabe Zeit]]
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Extrahierte Personennamen: Bernhard_ten_Brink Goethe Goethe Wilhelm_Scherer Wilhelm Goethes William_Shakspere John_Shak- Michaelis Michaelis Mary
162
Marie von Ebner-Eschenbach.
gewendet, das Gemüt. Und bei aller scheinbaren Einfalt und Kunst-
losigkeit ist er ein Denker und Dichter."
Unter den lebenden Schriftstellern und Poeten wies Luise von
Francois Konrad Ferdinand Meyer den ersten Rang an. Parteiisch
aber machte ihre Freundschaft für ihn sie nicht. Eher zu streng ab-
sprechend als zu milde, sind ihre Urteile über einzelne Novellen und
Gedichte des Meisters. Es wurde mir vergönnt, in die Briefe, die er
an die Verehrte schrieb, einen Einblick thun zu dürfen. Sie geben
Zeugnis von der edlen Bescheidenheit des hochgefeierten Mannes, der
wenig bekannten Schriftstellerin gegenüber. Vertrauensvoll teilt er ihr
seine Pläne zu neuen Arbeiten mit und erbittet ihren Rat. Ihre
Meinung ist ihm immer wichtig, wenn er auch manchmal widerspricht.
Die Empfängerin verzeichnet das Eintreffen eines jeden dieser reich-
haltigen Freundesbriefe in ihr Tagebuch, jeder einzelne hat sie erquickt
und ihre Gedanken lange und lebhaft beschäftigt.
Je mehr Luise von Francois in Jahren fortschreitet, desto un-
litterarischer werden ihre Aufzeichnungen. Auf ihre schriftstellerische
Thätigkeit wirft sie kaum noch einen Blick zurück. Die Schriftstellerin
ist untergegangen in der aufopfernden Wohlthäterin der Armen, der
treuen Freundin, der warmherzigen, fürsorglichen Verwandten.
Am häufigsten und liebevollsten spricht sie in ihren Tagebüchern
und Briefen von ihrem kleinen Neffen Leo. Sie teilt sich mit seiner
Mutter in die Pflege des „Stümperchens;" jedes geringste Ereignis
in seinem Kinderleben ist ihr von Bedeutung, sein Fortschreiten, sein
Gedeihen ihr tiefstes Glück.
Aus den Briefen der letzten Jahre spricht oft eine große ^ Müdig-
keit und Sehnsucht nach Ruhe. Als ich ihr im Sommer den Tod
eines mir sehr teuren Freundes anzeigte, schrieb sie: „Die wahr-
haftige Liebe wünscht keinem ihrer Eigensten, nein, keinem Menschen
die Dauer oder auch nur den Beginn unheilbarer Altersgebrechen."
Und später: „Ich lebe noch — ich spaziere oder richtiger, schleiche
von Bank zu Bauk, bei gutem Wetter ein Stündchen fast alle Tage,
bin nicht eigentlich krank, nur altersmatt, das Augenlicht schwach.
Vor einiger Zeit kam mein Landsmann und gütiger Freund, Geheim-
rat Graefe aus Halle, zu mir, um meine Augen zu untersuchen und
mir zu einer Operation des rechten, längst starreifen zuzureden; solange
ich aber auf dem linken noch einen sehr schätzbaren Schimmer habe,
denke ich nicht an eine Operation. Ich stehe ja im siebenundsiebzigsten
Jahr!
Meine Nichte, das gute Gretchen, „das Engelchen", wie ihre
Bekannten sie nennen, war ein paar Wochen bei mir. Sie wollte mich
zu sich holen nach Wiesbaden, mußte aber allein wieder abreisen."
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Extrahierte Personennamen: Marie_von_Ebner-Eschenbach Luise_von
Francois_Konrad_Ferdinand_Meyer Konrad Ferdinand Luise_von_Francois Leo Leo Graefe
Erinnerungen.
225
treten, verhältnismäßig geringes Gewicht legten, im Vergleich zu
anderen, die ihnen schwer wurden, die aber den Lesern und Beschauern
viel weniger gelungen erscheinen. Ich erinnere nur an Goethe, der
nach Eck er m ann s Bericht einmal geäußert hat, seine dichterischen Werke
schätze er nicht so hoch, wie das, was er in der Farbenlehre geleistet.
Soll ich nun Ihren Versicherungen und den Urhebern der an
mich gelangten Adressen Glauben schenken, so mag es mir — wenn
auch in bescheidenerem Maße — ähnlich gegangen sein. Erlauben Sie
mir also, Ihnen kurz zu berichten, wie ich in meine Arbeitsrichtung
hineingekommen bin.
In meinen ersten sieben Lebensjahren war ich ein kränklicher
Knabe, lange an das Zimmer, oft genug an das Bett gefesselt, aber mit
lebhaftem Triebe nach Unterhaltung und nach Thätigkeit. Die Eltern
haben sich viel mit mir beschäftigt; Bilderbücher und Spiel, haupt-
sächlich mit Bauhölzchen halfen mir sonst die Zeit ausfüllen. Dazu
kam ziemlich früh auch das Lesen, was natürlich den Kreis meiner
Unterhaltungsmittel sehr erweiterte. Aber wohl ebenso früh zeigte sich
auch ein Mangel meiner geistigen Anlage darin, daß ich ein schwaches
Gedächtnis für unzusammenhängende Dinge hatte. Als erstes Zeichen
davon betrachtete ich die Schwierigkeit, deren ich mich noch deutlich
entsinne, rechts und links zu unterscheiden; später, als ich in der Schule
an die Sprachen kam, wurde es mir schwerer als anderen, die Vokabeln,
die unregelmäßigen Formen der Grammatik, die eigentümlichen Rede-
wendungen mir einzuprägen. Der Geschichte vollends, wie sie uns
damals gelehrt wurde, wußte ich kaum Herr zu werden. Stücke in
Prosa auswendig zu lernen, war mir eine Marter. Dieser Mangel
ist natürlich nur gewachsen und eine Plage meines Alters geworden.
Wenn ich aber kleine mnemotechnische Hilfsmittel hatte, auch nur
solche, wie sie das Metrum und der Reim in Gedichten geben, ging
das Auswendiglernen und das Behalten des Gelernten schon viel besser.
Gedichte von großen Meistern behielt ich sehr leicht, etwas gekünstelte
Verse von Meistern zweiten Ranges lange nicht so gut. Ich denke,
das wird wohl von dem natürlichen Fluß der Gedanken in den guten
Gedichten abhängig gewesen sein, und bin geneigt, in diesem Verhält-
nis eine wesentliche Wurzel ästhetischer Schönheit zu suchen. In den
oberen Gymnasialklassen konnte ich einige Gesänge der Odyssee, ziemlich
viele Oden des Horaz und große Schätze deutscher Poesie recitieren. In
dieser Richtung befand ich mich also ganz in der Lage unserer ältesten
Vorfahren, welche noch nicht schreiben konnten und deshalb ihre Gesetze
und ihre Geschichte in Versen fixierten, um sie auswendig zu lernen.
Was dem Menschen leicht wird, pflegt er gern zu thun; so war
ich denn zunächst auch ein großer Bewunderer der Poesie. Die Neigung
M. Henschke, Deutsche Prosa. 15
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
TM Hauptwörter (100): [T45: [Kind Lehrer Wort Schüler Buch Unterricht Schule Frage Buchstabe Zeit], T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T3: [Lage Karte Land Europa Geographie Klima Größe Verhältnis Grenze Gliederung], T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann]]
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Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
Inhalt Raum/Thema: Deutsche Geschichte
8. Zwei altdeutsche Messiaden.
243
Sacfttmle der Niederschrift der Straßburger Eidschwüre Ludwigs des Deutschen und Karls des Kahlen vom ^zahre 842 in „Nithards fränkische Geichrchten". (10. Jahrh.)
Aus dem neunten Jahrhundert besitzen wir zwei Messiaden. Die erste, der „Heliand" (Heiland), in altniederdeutscher Mundart gedichtet, ist — bcr Borrede nach auf Befehl Ludwigs des Frommen (um 830) entstanden I" allittcriercnbcn Versen und in naiv volkstümlichem Ton erzählt der unbekannte sächsische Dichter das Leben Christi als das eines reichen, mächtigen milben deutschen Volkskönigs, ohne inbes seine göttliche Würbe je zu beeinträchtigen. Auch sonst ist alles bentsch in dem Gebicht: bte Jünger des Herrn smb des Königs Mannen, bic jübischen Städte sinb in beutsche Burgen
16*
TM Hauptwörter (50): [T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie], T46: [Heinrich König Otto Kaiser Sohn Herzog Karl Ludwig Sachsen Jahr], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
TM Hauptwörter (100): [T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T83: [Karl Heinrich König Otto Sohn Reich Kaiser Sachsen Ludwig Herzog], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel]]
TM Hauptwörter (200): [T118: [Karl Ludwig Reich Sohn Lothar König Lothringen Frankreich Herzog Tod], T172: [Dichter Zeit Gedicht Schiller Werk Goethe Maler Dichtung Lied Hans], T100: [Gott Herr Herz Wort Leben Hand Himmel Vater Kind Mensch], T173: [Sprache Wort Name Schrift Zeit Buch Form Kunst Art Werk], T8: [Abschnitt erster Periode zweiter Zeitraum dritter Kap Buch Kapitel vierter]]
Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
Inhalt Raum/Thema: Deutsche Geschichte
Iv. Deutsches Leben zur Zeit der sächsischen Könige. 8. Die Klöster. 353
mit dem Hexameter: „Esse velim Graecus cum. sim vix, domna Latinus“, d. i. Kaum erst, Herrin, ein Lateiner, wär' ich schon gern der Griechen einer. Die Herzogin setzte den kleinen Dichter zu sich auf ihren Fußschemel, küßte denselben und wollte noch mehr dergleichen Verse hören. Da entschuldigte sich der Knabe hocherrötend durch neue Hexameter mit seiner Verlegenheit. Hierüber brach die Herzogin in ein herzliches Lachen ans, zog den Kleinen schmeichelnd an ihre Seite und lehrte ihn eine Antiphonie, die sie selbst ans dem Lateinischen ins Griechische übersetzt hatte. Dann wurde er huldreichst entlassen und begab sich mit seinem Oheim zu den Hofkaplänen, die Ekkehard ebenfalls zu unterrichten hatte, da Hadtoig nicht duldete, daß sie ungebildet blieben und dem Müßiggänge frönten.
Fast zu jeder Ferienzeit ließ Hadwig den jungen Burkhard nach Hohentwiel bescheiden, damit er zu ihrem Vergnügen lateinische Verse aus dem Stegreif mache und von ihr Griechisch lerne. Als der Knabe, zum Jüngling herangewachsen, durch seine Bestimmung für immer von Twiel abgerufen wurde, beschenkte sie den Scheidenden mit einem Horaz und anderen Büchern, welche noch lange einen Schmuck der Klosterbibliothek bildeten.
Auch die Lesungen des Vergil nahmen ein Ende. Ekkehard kam auf Verwenden der Herzogin als Rat, Kaplan und Erzieher des jungen Otto an den kaiserlichen Hof, was ihm später dem Beinamen „der Hofmann" eintrug. In kurzer Zeit gelangte er zu hohem Ansehen und Einfluß. Als man ihm die Abtei Ellwangen bestimmte, war er nicht abgeneigt, dieselbe anzunehmen; aber sein kaiserlicher Zögling und dessen Mutter Abelheib, beren Gunst er sich ebenfalls in hohem Grabe zu erwerben gewußt, hinderten ihn baran, weil der Hof seines Rates noch bebürfe, und machten ihm Hoffnung auf ein ansehnliches Erzbistum. Seinem heimatlichen Stifte St. Gallen leistete Ekkeharb in feiner einflußreichen Stellung treffliche Dienste. Am 23. April 990 starb er als Domprobst zu Mainz.
Habwig überlebte ihn kaum vier Jahre. Nicht minber als St. Gallen erfreuten sich auch anbere Gotteshäuser der Werktätigen Teilnahme Habwigs, namentlich ihr eigenes Klösterlein zu Hohentwiel und das Kloster Petershausen bei Konstanz. Sie vermachte dem letzteren einen großen Meierhof zu Epfenborf in der Bar mit all feinen Zugehörungen an Leuten, Gütern und Rechten in den benachbarten Orten. Es scheint bies das letzte ihrer frommen Vermächtnisse gewesen zu sein, benn sie starb noch vor der kaiserlichen Bestätigung besfelben am 28. August 994 und würde zu Reichenau an der Seite ihres Gemahls begraben. Sie sank mit dem Lobe ins Grab, als junge Fürstentochter sich in ebelster Weise gebilbet und beschäftigt, als Gattin einen kränklichen Gemahl treu gepflegt, als Witwe ihre Tage zwischen den Genüssen der schönen Litteratur, den Pflichten ihrer Lanbcsverwaltung und den Werken der Frömmigkeit geteilt zu haben.
8. Die Klöster im Wittelatter als Kulturstätten.
Gustav Freytag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. 1. Band. 7. Aufl. Leipzig 1872.
Neben dem Geiste der Zerstörung, der feit dem Untergange des weströmischen Reiches in dem gesamten Abenblanbe zur Herrschaft gelangt war,
Bilder a. d. Gesch. d. deutschen Volkes. I. 23
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Extrahierte Personennamen: Ekkehard Burkhard Ekkehard Otto August Gustav_Freytag Gustav
Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
Inhalt: Zeit: Geographie
Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus der norddeutschen Tiefebene.
aber die ungewohnte Weise stößt nicht ab, sie heimelt uns an. Ihre
Sprache hat keine Ähnlichkeit mit den in ihrer nächsten Umgebung ge-
sprochenen: der deutschen und slavischeu; sie erinnert wegen ihrer vollen
Wortsormen in ihrem Klange so auffallend an das Griechische, daß
man bei einer litauischen Predigt sich ebenso unnütz als nnabgesetzt
abmüht, sie zu verstehen, weil man meint, der Redner spreche griechisch.
Es giebt Menschen, die lieben Freunden und Verwandten so ähnlich
sind, daß man sie unaufhörlich ansehen muß, obgleich man sich sagt,
sie sind's nicht! Ähnlich ergeht es uns mit der litauischen Sprache.
Der mild-melodische Klang, noch mehr das Gemütsleben, das sie offen-
bart, macht sie uns lieb und wert. So drückt sie die Seeleneinheit
der Gatten dadurch aus, daß sie für Gattin die weibliche Form des
Wortes „selbst" (pati) verwendet und also der Mann sein Weib „mein
selbst" nennt. Dagegen braucht der Bräutigam der Braut gegenüber
niemals den Ausdruck „der Liebste" (metulis) oder „Bräutigam"
(jannekis), sondern er nennt sich nie anders als „Knechtlein" (bern-
glis), wie es denn früher Sitte war, daß ein Jüngling, der um ein
Mädchen warb, sich bei den Eltern desselben auf längere Zeit als
Knecht vermietete.
Eine folche Sprache ist ganz besonders für das Volkslied geeignet,
welches hier seit alter Zeit heimisch gewesen ist. Mädchen, Jungfrauen
untereinander oder auch Jünglinge und Mädchen singen bei ihren fest-
lichen Zusammenkünften Wechselgesänge aus dem Stegreife; wo eines
aufhört, knüpft das andere an, und fast immer sind die Bilder aus
der sie umgebenden Natur genommen. Möge ein Wechselgesang hier
Platz finden, freilich in einer Übersetzung, die dem Original an Wohl-
laut und Innigkeit nicht gleichkommt.
Sie.
S i e.
mich aus dem Hause, daß ich späh'
nach Wintermai und Sommerschnee.
Ich treff' sie nicht, wer sagt mir an,
wo ich die beiden finden kann?
Ich schweife ohne Frieden
in Flur und Wald umher,
mir armen Kummermilden
sind Herz und Füße schwer.
Stiefmutter trieb im Zorn
mit Worten spitz wie Dorn
O du bist unbescheiden!
Und doch — der Ring sei dein,
kannst du von meinen Leiden
daheim mich nur befrein.
Da, nimm mein goldnes Ringelein,
ich will von Herzen hold dir sein,
hilf nur, daß ich nach Hause geh'
mit Wintermai und Sommerschnee.
Du sollst sie beide haben,
du liebes, trautes Kind,
sei nur für diese Gaben
mir mild und hold gesinnt.
Gieb mir dein goldnes Ringelein,
versprich, daß du mir hold willst sein,
und alsbald ich dann mit dir geh'
nach Wintermai und Sommerschnee.
So komm, du trautes Leben,
komm mit zum Tannenhain.
Da werde ich dir geben
ein grünes Zweigelein,
das gieb der Mutter froh und frei,
denn Tannengrün ist Wintermai.
Dann laß uns weiter ziehen
zum wellenreichen Strand,
laß da die Wellen fliehen
durch deine ros'ge Hand
und nimm den weichen Gischt der See,
denn Meeresschaum ist Sommerschnee.
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