71
Und als der Kampf nun ausgetobt,
der Kurfürst dankend den Herrgott lobt,
in Andacht still sein Auge senkt
und kaum noch des lieblichen Kindes denkt.
Da sieh, an den Panzer geklammert, schaut
es zum Retter empor so lieb und traut;
den wettergebrännten Kriegesmann
blickt's furchtlos und glückselig an.
„Was, Kleiner, du hast die ganze Schlacht
auf meinem Streitroß mitgemacht?
Bei Gott, wirst einst ein Ritter stark,
du jüngster Krieger der ganzen Mark!"
Die bärtigen Helden drängen sich dicht,
den Knaben zu schauen von Angesicht.
Da plötzlich, o Wunder! das zarte Kind
steigt hoch im Sattel; der Sommerwind
trägt's in die Luft, zur Sonne empor.
Noch einmal streckt es die Händchen hervor
aus dem luftigen Schleier, umstrahlet von Gold,
als wenn es den Fürsten segnen wollt'. —
Verwundert halten die Reiter da.
Das Kindlein keiner wiedersah.
Der Knabe mit dem blonden Haar
der Schutzgeist der Hohenzollern war.
Wie er beschirmt den großen Ahn,
so folgt er aller Zollern Bahn;
im Kriegessturm, bei jedem Ritt
die „märkische Treue", die reitet mit.
W. Böhm.
56. Sage von Frau Harke.
Vöör ollen Tiijen hett upp de Stoellensche Barge ene groot-
müchtige Riesenfruu woant, dee hett Fruu Harke, ännere seggen
ook Fruu Harfe, geheeten. Dee hett moal enen groten Steen
her to soaten kreegen und hett doamett den Hoarelbargschenz
*) Havelbergsche.
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind], T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd]]
TM Hauptwörter (100): [T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod], T82: [Hand Pferd Schwert Fuß Schild Kopf Waffe Lanze Ritter Mann], T52: [Mensch Leben Volk Gott Geist Zeit Religion Mann Glaube Herz]]
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32
Zweiter Abschnitt.
Dmtsdjc Dichtung mm der Mitte des 12. bis M Mitte
dos 14. Jahrhunderts.
(Blütezeit der mittelalterlichen Litteratur. Die Sprache ist die mittelhochdeutsche,
die poetische Form zeigt eine kunstvolle Bildung in Vers und Stropheubau. Die Poesie,
anfangs noch in den Händen der Geistlichen, gebt bald ganz in die Hände der Ritter
über. Neben dem Volks- und Kunstepos blüht die Lyrik.)
1. Im Lause des 12. Jahrhunderts vereinigten sich eine Reihe von
Umständen zur Hebung und Förderung der deutschen Poesie. Einmal regten
die Kreuzzüge die Geister gewaltig an, erweiterten den Jdeenkreis der abend-
ländischen Volker, belebten die Phantasie und gewährten eine Fülle neuer
Stoffe. Von nicht geringer Bedeutung für den Aufschwung des deutschen
Gesanges war dann auch der Glanz des staufischen Kaiserhauses und
des deutschen Rittertums. Gerade die Ritter glaubten sich zur Pflege dev
edlen Sangesknnst vor allem berufen, und es galt als eine ehrenvolle Aufgabe
nicht nur des kaiserlichen Hofes, sondern auch der Fürsten, die Dichtkunst und
ihre Vertreter auf alle Weise zu schützen und zu heben. Große Anregung
fand die deutsche Poesie endlich noch durch die französischen Dichten
(Troubadours im südlichen, Trouveres im nördlichen Frankreich genannt),
welche für die Deutschen geradezu Muster und Vorbild wurden.
2. Die poetischen Gattungen, welche vorzugsweise gepflegt wurden, find
das Epos, die Lyrik und die Didaktik. Das Epos erscheint in zwei
nach Form und Inhalt geschiedenen Gestaltungen, als Kunst- und als Volks-
epos. Träger des Kunstepos waren die Dichter ritterlichen Standes, die
höfischen Dichter, während das Volksepos von Sängern aus dem Volke (varnde
liute, spilman, videlaere) gepflegt wurde. Die höfischen Dichter behandeln fast
nur fremde Stoffe, und auch diese meist nach französischen Vorlagen; die Volks-
dichter dagegen sind die Hüter und Erneuerer der alten Nationalsagen. Das
Kunstepos erhielt von der Persönlichkeit des Dichters eine subjektive Färbung,
der Volksgesang blieb überwiegend objektiv. Die Form des Kunstepos bilden
die sogenannten Reimpaare, während die Volkssänger ihre Stoffe in der Ni-
belungenstrophe oder doch in einer derselben ähnlichen Strophenform behandelten.
3. Die Reimpaare sowohl wie die Nibelungenstrophe sind eine
Fortbildung der althochdeutschen Langzeile. Die Reimpaare sind stumpf oder
klingend gereimte Verse mit wier Hebungen. Die Nibelungenstrophe besteht
aus vier paarweise gereimten Langzeilen; die Halbzeilen der vorderen Hälfte
haben vier Hebungen und meist klingenden Schluß, die der hinteren Hälfte
aber drei Hebungen und stumpfen Schluß; ausgenommen ist aber die achte
Halbzeile, welche wieder vier Hebungen aufweist. Vgl. Anhang § 7.
Anmerkung 1. In den Reimpaaren finden sich bei klingendem Reim nicht selten
vier volle Hebungen, meistens aber gilt als vierte Hebung die nachklingende Silbe. —
Ähnlich fällt auch in der Nibelungenstrophe die vierte Hebung der ersten Vershäffte meist,
auf ein tonloses e.
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Extrahierte Personennamen: Dmtsdjc Volker
Extrahierte Ortsnamen: Frankreich Nibelungenstrophe
192
seine letzte Stunde geschlagen, und von der deutschen Literatur machte
Gottsched die deutsche Bühne wieder abhängig. Leider wußte er dabei
nichts Besseres zu tun als die Nachahmung der Franzosen zu predigen
und selbst zu üben, er dachte nicht daran, die brauchbaren Stoffe und
Darstellungsmittel des Volksdramas zu retten, zu veredeln und so den
nationalen Charakter des deutschen Schauspiels zu wahren. Er brach mit
der Vergangenheit und machte dadurch Gegenwart und Zukunft ärmer.
— Ans seinem Leipzig dachte Gottsched das Zentrum der deutschen
Literatur zu machen, und in der Tat, der Ort war gut gewählt. Eine
angesehene Universität mit stolzen Überlieferungen, ein fleißiges und durch
seine Handelstätigkeit in jeder Beziehung gefördertes Bürgertum, ein
Buchhandel, der von einer Ostermesse zur andern an Umfang und
Bedeutung zunahm, eine „deutsche Gesellschaft", ans der man nach dem
berühmten Vorbild der französischen Akademie einen obersten Gerichtshof
des guten Geschmacks für die deutsche Literatur entwickeln konnte, das
alles kam dem Ehrgeiz Gottscheds auf halbem Wege entgegen. In dieser
Umgebung begann er eine eifrige Tätigkeit, um seinen Idealen der
Klarheit, Deutlichkeit und Korrektheit zur Wirklichkeit zu verhelfen. So
entstand seine „Sprachkunst", eine Grammatik, seine „Redekunst", ein
Lehrbuch der Rhetorik, und eine „kritische Dichtkunst", eine Poetik auf
antiker und französischer Grundlage: Horaz und Boileau waren für ihn,
was Scaliger und Ronsard für Opitz. Er schrieb ein Handlexikon der
schönen Wissenschaften und freien Künste, ein Buch voll von Kenntnissen
und Belehrung, daneben viele literarhistorische Schriften und Aufsätze.
Er suchte den ganzen Verlauf der deutschen Literatur zu durchmessen:
bis in das 19. Jahrhundert herein, bis ans Jakob Grimm und seine
Genossen hat niemand eine so weitreichende Kenntnis der ältern deutschen
Literatur besessen und kundgegeben wie Gottsched. Bei allen diesen
Bestrebungen leitete ihn ein Motiv nationalen Stolzes und patriotischer
Eifersucht, wie sie die Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts beseelt
hatte: alle die Schätze einer vergangenen Literatur hielt er den Fremden,
die uns verachteten, als deutsche Leistungen entgegen. Daneben glaubte
er der Würde seines Lehrstuhls nichts zu vergeben, wenn er eigne
Dichtungen wagte, wenn er zum Heil der deutschen Poesie mit Schau-
spielern verkehrte und ihnen seinen Rat erteilte. Als Journalist vertrat
er seine literarischen Interessen mit unermüdlicher Tätigkeit, und an
seinen akademischen Zuhörern erzog er sich eine Schar von Aposteln
seines Ruhmes und eifrigen Mitarbeitern an seinen Zeitschriften. Gewiß
hat sich Gottsched dadurch wahrhafte Verdienste um die deutsche Sprache
und Literaturgeschichte erworben; hätte er sie nur nicht selbst verkleinert
durch die eifersüchtige Eitelkeit, mit der er seine ästhetische Alleinherrschaft
zu wahren suchte. Aber je mehr die deutsche Literatur das Gängelband
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie]]
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287
gotischen Stil gefunden. Dieser war in hervorragendem Sinne auf den
Kirchcnbau berechnet, mußte deshalb einer Zeit, die ausschließlich kirchlich
gesinnt war, zum höchsten Ausdruck ihres Wollens und Könnens gereichen.
Wohl hat das Mittelalter seine Rathäuser und Gildenhallen, seine
Schlösser und Burgen sowie die städtischen Wohngebäude charaktervoll in
diesem Stile ausgeprägt; aber eine zu starke Färbung kirchlicher Kunst
verbindet sich damit, als daß sie den Ausdruck weltlichen Behagens rein
gewähren könnten. Schon seit dem 14. Jahrhundert, wo das Bürgertum
mächtig aufblüht, die Städte in Reichtum und Bildung wachsen, die
Lebenslust sich überall kräftig regt, beginnt der Verfall des gotischen
Stiles als ein notwendiger Reflex dieser Bewegung; eine andere Zeit
mit neuen Gedanken verlangte neue Formen. Wie diese zuerst in Italien
durch das Studium der antiken Denkmäler schon seit dem 14. Jahr-
hundert vorbereitet wurden, bis sie um 1420 zum Durchbruch kamen,
ist bekannt.
Während diese Umgestaltung sich im Süden vollzog, brach der
Norden nicht minder entschieden, wenn auch in anderer Richtung, mit
den Traditionen des Mittelalters. Hubert van Eyck gehört sicherlich zu
den größten Bahnbrechern und Pfadfindern der Kunstgeschichte, denn seine
neue Art, die Natur streng zu studieren und die menschliche Gestalt mit
ihrer landschaftlichen und architektonischen Umgebung lebensvoll hinzustellen,
sie aus der schablonenhaften Form und vom Goldgründe des Mittelalters
zu befreien, ist ein ebenso kühner Bruch, wie die Tat eines Brunellesco,
Ghiberti, Donatello cs irgend war. Ging doch das ganze Streben
der Zeit dahin, aus dem traumhaften Idealismus und der Scholastik
des Mittelalters zu lebensvoller Weltwirklichkeit durchzudrängen. Hier
war es die Natur, dort in erster Linie die Antike, aus der die Kunst sich
verjüngen sollte.
Wie diese Naturwahrhcit im Norden sich mit reißender Schnelligkeit
zunächst in der Malerei und Plastik verbreitete, aus der flandrischen
Schule bald über alle Gebiete Deutschlands drang, mußte die neue Kunst
in scharfen Kontrast mit der abgelebten gotischen Architektur treten. Man
mußte bald überall fühlen, daß dieser Stil hinter den Forderungen,
welche die neue Zeit aufstellte, unrettbar zurückgeblieben sei. Zwar fristete
er noch über ein Jahrhundert sein Dasein, denn nichts klebt so zäh am
Althergebrachten wie das in der Routine ergraute Handwerk. Wir können
uns daher nicht wundern, wenn wir bis ins 16. Jahrhundert den
gotischen Stil in Deutschland herrschend finden, ja, wenn er in manchen
Einzelheiten sich sogar noch bis ins 17. Jahrhundert zu erhalten weiß.
Aber ebenso begreiflich ist es auch, daß bei den zahlreichen Berührungen
Deutschlands mit Italien, den Kriegszügen der Kaiser, den Handelsver-
bindungen, den wissenschaftlichen Beziehungen, die dort so glänzend
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T9: [Tempel Stadt Kirche Säule Zeit Gebäude Bau Mauer Haus Dom]]
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352
zu seinen ersten Ursprüngen an den Abhängen des Harzes, und gerade
in jenen Bandcnkmalen, welche die Ottonen und ihre Zeitgenossen uns
hinterlassen haben; bei aller Roheit durchbricht doch in ihnen ein freierer
Geist, ein mehr individuelles Gefühl die aus dem römischen Altertum
überlieferten Gesetze der Architektur. Wie geringfügig sind die Reste von
Bauwerken, welche die karolingische Zeit in Deutschland zurückgelassen
hat; wie viel lebendiger spricht zu uns die Ottonenzeit aus diesen alten
Mauerwerken, mit denen die Geschichte der deutschen Baukunst beginnt!
Gleich dem städtischen Leben hob sich, nachdem die inneren Kriege
und die Einfälle der Ungarn, Dänen und Wenden Deutschland lange
fast zu einer Wüstenei gemacht hatten, in staunenswerter Weise der An-
bau des Landes; Heinrich Ii. nannte Sachsen wegen seiner Fruchtbarkeit
einen Vorhof des Paradieses. Wie die Fortschritte in der Baukunst, ging
auch die bessere Bodenkultur vor allem von den Kirchen und Klöstern
aus, die das ihnen von den Königen übertragene Gut trefflich zu nutzen
wußten. Mit eigentümlicher Befriedigung sieht man auf jene schönen
Pergamenturkunden der Ottonen, wie sie fast noch überall in den deutschen
Archiven sich finden; es sind meist Verleihungen von einzelnen Weilern
und verödeten Feldmarken an Kirchen und Klöster, aber welches reiche
Leben ist aus diesen toten Schenkungsbriefen erwachsen! Sie haben
zahllose Ortschaften in das Leben gerufen, fruchtbare Landschaften ge-
schaffen, Deutschland geradezu umgewandelt.
Zu derselben Zeit gewannen auch Wissenschaft und Kunst unter uns
eine bleibende Stätte. Wie dürftig die Literatur vor Ottos Kaiscrkrönnng
ist, so schnell entfaltet sie sich nachher zu einer bemerkenswerten Höhe.
Widnkind, Ruotger und Roswitha schreiben unter dem ersten lebendigen
Eindruck, daß ein sächsischer Fürst an die Spitze der Welt gestellt ist;
ihre Werke sind ganz von dem Stolz auf ihren großen Fürsten und ihr
mächtiges Volk durchdrungen. Von da an wurde der kaiserliche Hof der
Sammelplatz aller hervorragenden Geister des Abendlandes, und selbst
ein Gerbert spricht es aus, daß sein Genie nur durch die Ottonen ge-
weckt sei; die gelehrte Bildimg der Zeit sammelte sich wie in einem
Brennpunkt damals am deutschen Hofe und durchdrang von hier aus
zuerst und zumeist die deutschen Länder. Es war diese Bildung nicht
eine originale, frei aus dem Geiste des Volkes geboren; auch hier war
es die Tradition, die man aufnahm und der man sich anschloß. Jene
neulateinische Wissenschaft und Literatur, welche die Kirche auf Grund-
lage der altrömischen Bildung geschaffen hatte, ging auf das deutsche
Volk über und mit ihr die klassische Literatur der alten Römer. Aber
allem, was die Deutschen empfingen, gaben sie doch das eigentümliche
Gepräge ihres eigenen Geistes. Sie schrieben in römischer Sprache, aber
aus deutscher Anschauung, und sie schrieben von deutschen Dingen. Nicht *
*
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte], T38: [Boden Wald Land Wiese Wasser Berg Fluß Feld See Dorf]]
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Extrahierte Personennamen: Heinrich_Ii Heinrich Ottos Roswitha
Extrahierte Ortsnamen: Deutschland Ungarn Deutschland Sachsen Deutschland Ottos_Kaiscrkrönnng
Arbeit und Muße.
5
Macht entfaltet, wo ist es so sehr das Wahrzeichen und der ideale
Mittelpunkt eines reich entfalteten Volkslebens geworden, wie die Leier
bei den Hellenen, das Symbol hellenischer Muße! Von ihr dachten sie,
daß sie Himmel und Erde beherrsche. „Denn auch des Krieges wilder
Gott," sangen sie „läßt starrender Speere Gewühl hinter sich und
labt sein Herz an Liedeslust. Auch die Herzen der Götter durchdringt
der Saiten Zaubergewalt, von der Hand des Apollon gepflegt und
der Kunst holder Musen."
Die Musenkunst stattete die Feste so herrlich aus, daß die Bürger,
allen Geschäften entrückt, tagelang in voller Spannung den Wett-
kämpfen ihrer Dichter zuhörten. Auch beim häuslichen Mahle kreiste
die Leier, und wie man das gesellige Zusammensein durch geistigen
Genuß zu adeln, durch Scherz und Ernst zu würzen wußte, zeigt
Platons Gastmahl in einem verklärten Abbild. Ja, wenn wir
noch heute unablässig beschäftigt sind, den ganzen Reichtum dessen,
was von den Griechen in ihrer Muße gedacht und gedichtet ist
immer vollständiger zu würdigen, so hat man in der That den
Eindruck, als wenn bei ihnen das natürliche Verhältnis umgekehrt
und des Volks ganze Arbeit in die Ausstattung der Muße verlegt
worden sei.
Und doch war dies nur immer die andere Seite seiner Thätigkeit,
die Ergänzung der praktischen Wirksamkeit, welche mit unbeschränkter
Energie dem Ausbau der Verfassungen, der Leitung des Gemeinwesens,
der Verteidigung seiner Unabhängigkeit zugewendet war. In der Pflege
der musischen Künste war aber die volle Freiheit des geistigen Lebens
so sehr die Hauptsache, daß man die Meisterschaft in einer einzelnen
Kunst auf Kosten jener Freiheit nicht erkaufen wollte; Gesang und
Saitenspiel, als ein besonderer Lebensberuf aufgefaßt, galt schon für
Unfreiheit, für eine „begrenzte Sklaverei."
Die Pflege der Muße war eine öffentliche Angelegenheit. Für
die Muße des Volks hat die Architektur die großartigsten Werke er-
richtet, die Theater, Stadien und Hippodrome, die parkartigen Gym-
nasien und die Marmorhallen an den Märkten, wo die Bürger
zwischen Statuen und historischen Wandgemälden in traulichem Ge-
spräche auf und nieder wandelten.
Auch die bildende Kunst konnte nichts Anmutenderes darstellen,
als den Genuß der Muße, sei es in den Gestalten der Olympier, der
„leicht lebenden," welche in seliger Ruhe neben einander lagern, oder
in der Gemeinschaft der Bürger an ihren großen Jahresfesten. In
Satyrgestalten stellte sie die niedrige Art der Muße dar, das gedanken-
lose Hinträumen im Waldesschatten oder am plätschernden Brunnen,
das äoles far niente des südlichen Naturmenschen, und die höhere
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland]]
TM Hauptwörter (100): [T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T71: [Mann Volk Leben Sitte Zeit Vater Liebe Frau König Jugend], T35: [Dichter Zeit Gedicht Lied Dichtung Schiller Poesie Werk Goethe Sprache], T41: [Staat Recht Volk Adel König Land Verfassung Gesetz Stand Verwaltung], T22: [Gott Zeus Sohn Tempel Göttin König Held Mensch Opfer Erde]]
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96
Herman Grimm.
Es war eine gewaltige Bewegung, als sich das Italien des
15. Jahrhunderts auf die Hinterlassenschaft der antiken Völker warf
und Deutschland ihm in diesem Bestreben nachfolgte.
Eine neue Kunst, eine neue Gelehrsamkeit, eine erneute Religion
waren die Früchte dieser Anstrengung. Es schien, als sollte damals
schon der Gewinnst für alle folgenden Zeiten gezogen und sichergestellt
sein; aber noch einmal dennoch ging fast alles wieder verloren. Ein
Zufall, könnte man sagen (wenn bei so ungeheuren Ereignissen dieses
Wort erlaubt wäre), brachte gerade in den Zeiten, in denen die
Dinge sich am schönsten zu entwickeln schienen, die Throne von mehr
als halb Europa in eine einzige Hand zusammen. Ein wunderliches
Glücksspiel war es, durch das bei so viel sich kreuzenden Heiraten und
Todesfällen der einzige Karl der Fünfte zurückblieb, dem alle Einsätze
zufielen. Und indem die Familie dieses Mannes, die keine nationale
Dynastie sein konnte, weil zu verschiedenartige Nationen ihr gehorchen
sollten, mit der größten Anstrengung zwei Jahrhunderte lang jede
nationale Bestrebung in ihren Landen zu unterdrücken und das prote-
stantische nördliche Deutschland zumeist in seiner freien Entfaltung
niederzuhalten bestimmt war, brachte sie es endlich doch nur dahin,
daß sie selbst samt ihren Völkern langsam zu Grunde ging, während
Frankreich, der alte Feind der Habsburger, politisch und litterarisch
allmächtigen Einfluß gewann. Erst nachdem auch dieser überwunden
und abgethan war, trat Deutschland wieder ans. Sich zurückwendend
zu den antiken Völkern und den Italienern der vergangenen Jahr-
hunderte, hob es sich zu frischer Blüte empor. Soll diese neueste
Arbeit, die bei uns geschah, mit dem Namen eines einzigen Mannes
symbolisch umfassend bezeichnet werden, so sagen wir Goethe, und
wollen wir den entscheidenden Moment seines Lebens nennen, in dem
er für die große Mission gleichsam die letzte Weihe erhielt, so sagen
wir Goethes Reise nach Italien.
Auch die Blüte des französischen Geistes entstand aus der An-
eignung der italienischen Kultur und aus dem Studium der antiken
Muster. — Die bildenden Künste wurden in Frankreich nicht weiter
gebracht, die Litteratur jedoch auf eine hohe Stufe erhoben. Und
selbst dann noch blieb diesen Bestrebungen ihr eigentümliches Wachs-
tum, als auch in Frankreich die bürgerliche Unabhängigkeit in Politik
und Religion der ärgsten Unterdrückung anheim fiel. Der Aplomb
und dennoch die Leichtigkeit, mit der die Franzosen die Dinge an-
griffen, die elegante Deutlichkeit der Sprache, die für die feinsten
Nüancen des Gedankens immer neue Wort- und Satzkombinationen
bereit hatte, bewirkten im Reiche der Schriftstellerei eine Umwälzung,
wie etwa die Einführung der Artillerie in der Kriegführung. Es er-
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T4: [Reich Zeit Staat Volk Deutschland Jahrhundert Land Macht deutsch Geschichte]]
TM Hauptwörter (100): [T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T43: [Zeit Volk Jahrhundert Geschichte Reich Staat Leben Kultur Deutschland Mittelalter], T25: [Wissenschaft Kunst Zeit Sprache Geschichte Schrift Buch Werk Jahrhundert Erfindung], T9: [Krieg Deutschland Reich Frankreich Preußen Macht Zeit Kaiser Jahr Frieden], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
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Extrahierte Personennamen: Herman_Grimm Karl Goethe Goethes
Extrahierte Ortsnamen: Deutschland Europa Deutschland Frankreich Deutschland Italien Frankreich Frankreich
112
Herman Grimm.
Schillers und Goethes vereinigte Thätigkeit fällt in die Zeiten, in
welchen Frankreich die geistige Übermacht einbüßte, in deren Besitz es
bis dahin gewesen war. Doch ist der Übergang kein Plötzlicher; Goethe
übersetzt noch Voltaires Tankred und Schiller die Phädra des
Racine. Aber die Verhältnisse waren doch schon der Art. daß die
französischen Werke gleichsam ins Deutsche erhoben wurden. Ein ge-
waltiger Zug lenkte die Geister wieder Italien und dem Altertum zu.
Goethe war die treibende Kraft dieser neuen Bewegung, die nicht ohne
Widerstand blieb, dennoch aber siegreich durchdrang. Seit er nach
Italien ging, seit er Winckelmann populär machte und die Werke
Raphaels und Michelangelos auslegte, wurde Rom von neuem als die
hohe Schule erkannt, in der ein männlicher Geist am schönsten seine
Bildung vollendet.
Und das gilt heute noch. Keine politische Veränderung kann dieser
Stätte ihre allmächtig einwirkende Kraft rauben. Noch immer fühlen
wir, daß man anders von dort zurückkommt als man gegangen ist.
Italien hat Cornelius und Schinkel gebildet. Dort hat Platen ge-
dichtet. Von Rom ging jene neue Blüte der deutschen Philologie
aus, der wir heute so Ungemeines zu verdanken haben. Wilhelm von
Humboldt befestigte dort seinen hohen Begriff von der Würde der
Kunst und Gelehrsamkeit, die er später als preußischer Minister ver-
wirklichte; Niebuhr und Bunsen aber machten das Kapitol zu der Pflanz-
stütte gelehrter Bildung, indem sie als preußische Gesandte in edelster
Weise den Pflichten genügten, die ihnen ihre Stellung in Rom Deutsch-
land gegenüber auferlegte. —
Goethe fühlte sich berufen, bis in seine letzten Tage der Ver-
mittler zwischen Italien und Deutschland zu sein. Nicht nur die großen
Italiener der vergangenen Jahrhunderte suchte er uns näher zu bringen,
sondern für alles, was vom Süden kam, hatte er ein Herz gewonnen.
Alfieri, den größten Dichter des modernen Italiens, lernte er nicht
selbst persönlich kennen, aber er veranlaßte, daß von seinen Tragödien
übersetzt und in Weimar aufgeführt ward. Für Manzonis Arbeiten
wirkte er mit Eifer. Die italienische Sprache, die gleich der unsern
und der griechischen, sich so schön und schmiegsam zum Ausdruck indivi-
dueller Gedanken eignet, muß für jeden Deutschen, dem sie bekannt ist,
ein harmonischer, freundlicher Klang sein. Möge das Gefühl der
edelsten Verwandtschaft mit Italien, das Goethe hegte und pffegte,
immer lebendiger bei uns werden, und das Bewußtsein klarer, wieviel
Deutschland im höchsten Sinne der Nation zu danken hat, der jetzt,
nach Jahrhunderten der Unterdrückung, die Möglichkeit freier geistiger
Entwicklung zum ersten Male wieder geboten wird.
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T1: [Geschichte Dichter Zeit Buch Werk Jahr Gedicht Nr. Bild Geographie], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
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Extrahierte Personennamen: Herman_Grimm Goethes Goethe Tankred Schiller Goethe Winckelmann Cornelius Wilhelm Goethe Alfieri Goethe
Extrahierte Ortsnamen: Frankreich Italien Italien Michelangelos Italien Rom_Deutsch- Italien Deutschland Italiens Weimar Italien Deutschland
136
Bernhard ten Brink.
bewahrt. Er lebte in einem Städtchen, wo ländliche Arbeit sich mit
Bürgererwerb paarte. Sein Vater war Ökonom und Kaufmann.
Mannigfache Formen menschlicher Thätigkeit traten ihm schon in früher
Jugend näher. Er gewöhnte sich daran, jede zu beobachten, bei jeder
nach ihrem Zweck, nach ihren Werkzeugen, ihrer Methode zu fragen.
Und diese Gewohnheit behielt er im späteren Leben bei. Daher kommt
es, wenn er für jedes Ding aus jedem Gebiet den technischen Namen
kennt, wenn er auch bei komplizierteren Verrichtungen irgend eines
Handwerks jeden Vorgang genau darzustellen weiß. Daher die Über-
lieferungen oder Hypothesen, wonach Shakspere bald ein Metzger, bald
ein Wollhändler, dann wieder ein Schriftsetzer, oder auch ein Arzt oder
auch Soldat gewesen sein soll.
Die in solcher Weise geübte Beobachtnngs- und Kombinations-
gabe wandte Shakspere ohne Frage frühzeitig auf sein eigent-
lichstes Gebiet, auf das Studium des Menschen an. Die kleine
Welt, die ihn umgab, und die Welt in seiner eigenen Brust boten
ihm für dieses Studium ein vollkommen ausreichendes Material, und
wie seine Bedürfnisse wuchsen, dehnte sich auch der Kreis seiner Er-
fahrungen aus.
Bekannt ist der Goethe'sche Spruch: „Einen Blick ins Buch hinein
und zwei ins Leben, das muß die rechte Form dem Geiste geben."
Wenn irgend ein hervorragender Dichter oder Denker aus neuerer Zeit,
so ist Shakspere nach diesem Rezept gebildet. Wir haben anzudeuten
versucht, wie er in Stratford jene Blicke ins Leben gethan haben mag.
Was es mit dem Blick ins Buch bei ihm für eine Bewandtnis hatte,
werden wir im Laufe unserer Betrachtungen zu erfahren Gelegenheit
finden.
Das geistige Besitztum eines Volkes, eines Zeitalters beschränkt
sich aber nicht auf das, was in seiner Litteratur niedergelegt ist. Es
giebt und gab besonders dazumal noch einen Schatz von Überlieferungen,
die in Volksgebrüuchen und Sitten, in Lied und Sage sich fortpflanzten
und bei einheitlichem Grundcharakter in den verschiedenen Landschaften
vielfach eine verschiedene Färbung trugen. Auch diese gehören wesent-
lich und zwar in hervorragender Weise zu der geistigen Atmosphäre,
die den Menschen umgiebt.
Im sechzehnten Jahrhundert verdiente England noch in vollem
Maße den Namen des merry England. Puritanische Sittenstrenge
hatte die lustigen, bunten Volksfeste noch nicht verpönt, die heitern
Volksgesänge noch nicht verstummen lassen. Alte Sitten und Gebräuche
wurden besonders auf dem Lande überall heilig gehalten: zu regel-
mäßig wiederkehrenden Zeiten des Jahres wurden Umzüge, Spiele,
Tänze veranstaltet, die oft in graue Vorzeit hinaufgingen, manchmal
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
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Extrahierte Personennamen: Bernhard_ten_Brink
Extrahierte Ortsnamen: Stratford Volksgebrüuchen England England
Zum Gedächtnis Friedrichs des Großen.
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Angreifenden, aber der Krieg sei um des Friedens willen da, die
kriegerische Unruhe nur um der friedlichen Muße willen, und der
Frieden und die Muße für die Bildung."
Friedrich hat die Verbesserungen und Gestaltungen während der
Friedensjahre in dem Anfang seiner Geschichte des siebenjährigen Krieges
bezeichnet. Der König richtet seinen Blick nach allen Seiten des Staats,
uni zu sehen, wo etwas fehle, und schafft Rat und Mittel zur Abhilfe;
er erspäht die verborgenen Bedingungen für neue fruchtbare Thätigkeiten
und bereitet den Boden für neue Gründungen. Friedrich wußte, daß
der Erwerb einer Provinz nicht der Friedensschluß oder die Urkunde
der Verleihung sei, sondern die Förderung ihres eigentümlichen Lebens,
ihres innern Gedeihens und in diesem Sinn erwarb er und fesselte er
Schlesien und Ostfriesland, wie später Westpreußen, durch heilsame
Einrichtungen und eine gerechtere Verteilung der Abgaben. Wir sehen
ihn in den bezeichneten Jahren überall thätig und wir sehen im Frieden
wie im Kriege seinen erhabenen und scharfen, seinen alles überschauenden
und in alles eindringenden Blick. Hier tilgte er in jener Zeit ein-
gewurzelte Mißbräuche der Verwaltung und verstand es, einen wach-
samen und unbestechlichen, einen pflichttreuen und verschwiegenen Be-
amtenstand zu erzeugen; dort schuf er ein einsichtiges Landrecht und
unparteiische Rechtspflege. Hier baute er oder verstärkte er Festungen,
wie in Schlesien, und sorgte für Zucht und Übung des Heeres oder
gründete ein Haus für die „verwundeten, aber unüberwundenen Krieger;"
dort nahm er fördernd an Wissenschaft und Kunst teil. Hier ermunterte
er die Gewerbe, z. B. die Zuckersiederei in Berlin, die Manufakturen
in Potsdam und Brandenburg, in Frankfurt a. O. und Magdeburg;
dort legte er Eisenwerke an. insbesondere für die Zwecke des Geschützes,
oder verbesserte Salinen. In dieser Zeit versuchte er den Seidenbau
und pflanzte Maulbeerbäume, in späterer Zeit setzte er den Anbau der
Kartoffel durch. Hier öffnete er dem Handel neue Wege, wie in Emden,
oder erleichterte ihn, wie er z. B. den Stettiner Handel von dem
schwedischen Zoll bei Wolgast durch das neue Fahrwasser und den neuen
Hafen von Swinemünde befreite: dort entwässerte er Niederungen und
bebaute sie mit fleißigen Dörfern, wie in dem Oderbruch. Es ist für
seine Weise zu denken bezeichnend, wenn er da, wo er des glücklichen
Anbaues dieser weiten, früher sumpfigen Strecken durch zwölfhundert
Familien erwähnt, die Worte hinzufügt: „das bildete eine neue kleine
Provinz, welche thätiger Fleiß der Unwissenheit und Trägheit ab-
gewonnen hatte."
Aber vor allen Dingen baute der König das Land mit dem Gesetz.
„Die Gesetze sollen reden, aber der Monarch schweigen," sagt er in
seinem politischen Testamente, und im Gegensatz gegen die Justiz unter
TM Hauptwörter (50): [T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer], T26: [Recht König Stadt Staat Bauer Gesetz Beamter Adel Land Bürger], T13: [Stadt Elbe Hamburg Berlin Provinz Bremen Land Lübeck Hannover Weser]]
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Extrahierte Personennamen: Friedrichs Friedrich Friedrich